Heute ist der Elfte Elfte, Elf Uhr elf eines beliebigen Jahres auf einem Planeten mit dem Namen „Erde“: Karnevalsbeginn! Die Sonne lacht manchmal zwischen den Wolken hervor, bzw. sich ins Fäustchen, denn sie verbrennt nur, sie muss nichts verstehen.

Ich verbrenne ebenfalls! Mein Flämmchen flackert mehr oder weniger lustig vor sich hin und ich frage mich, wofür ich hier verbrenne. Trotzdem versuche ich meiner Arbeit gerecht zu werden, denn darauf habe ich meinen Eid geschworen. Ich bin ein akribischer Beobachter, behaupte jedoch ein Hauptdarsteller zu sein. Niemand ahnt, daß ich in Wirklichkeit ein Bulle bin (und wenn, dann würde sich das keiner eingestehen wollen)! Ein verdeckter Ermittler – der verdeckteste Ermittler, den man sich überhaupt vorstellen kann bin ich. Sogar ich selbst habe immer wieder daran gezweifelt ein Ermittler zu sein.

Was mein WirkEN betrifft ist das zwar ein Vorteil, was meine WirkUNG angeht ist es selbstverständlich ein eklatanter Nachteil, denn ich möchte etwas bewirken. Dafür glaube ich einen Auftrag zu haben, aber ich habe leider keine offizielle Befugnis. Andersherum wäre es sicherlich vorteilhafter. Denn niemand wird sich für die Erfindung der Vernunft opfern wollen, schon eher für deren Vernichtung, vor allem, wenn er durch gut bezahlte „Märtyrer“ dazu veranlasst wird, möchte ich meinen.

Schließlich sind weithin leuchtende Vorbilder die Grundlage jedes Gemeinwesens. Vorbilder, die vor allem den Instinkt ansprechen, müssen es natürlich sein. Nicht umsonst gibt es solche Bauernregeln wie: Ein Spatz in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dach. Oder anders formuliert: Ein Milliönchen auf meinem eigenen Konto ist mir wichtiger als die Bekämpfung der Armut auf der Welt.

Vielleicht habe ich deshalb, von Anfang an, an mir gezweifelt weil meine Vorgesetzten meinen Job als „Ehrenamt“ verstanden haben und mich aus diesem Grund so gut wie unbezahlt ließen?
Meine Frau hatte jedenfalls auch die größten Schwierigkeiten damit. Das allein wäre schon ein Grund gewesen, mich der Karawane des kollektiven Wahnsinns anzuschließen… Ich jedoch beschloss mich meinem eigenen Wahnsinn hinzugeben, meinem „eigenen“, oder wer ihn sich auch immer ausgedacht haben mochte.

Natürlich strebte ich wie alle anderen, bis vor kurzem, nach irdischer Pracht, auch wenn sich, aus meiner Sicht, nie etwas geändert hat seit ich lebe.

Heute regnet es, am 11. 11. Die ganzen Narrenmützen auf der Straße werden nass und der Karnevalsumzug sieht für mich aus, als bestritten ihn eine Unzahl lackierter Affen. „Der Ball ist rund, der Rasen ist grün und ein Jahr dauert 365 Tage“ höre ich sie rufen. Dazwischen „Hellau, Alaaf, Lachlach“, usw. Der Vorsitzende des Elferrates und seine Elfen, pardon, Funkenmariechen, werfen, von einem Wagen aus, der gerade vorüber fährt, knallrote Bonbons in die Menge, auf deren Einwickelpapier „Wir sind nützlich!“ geschrieben steht.

Ich kann es bis hierher lesen, obwohl ich mich nicht einmal zum Fenster begebe – und mein Dasein kommt mir wie eine sich selbst potenzierende Nutzlosigkeit vor. Ob es das ist? Das ist eigentlich die Kernfrage meines Lebens!

Es knallt! Ein terroristischer Anschlag? Notgedrungen sehe ich nach. Nein, es war eine Konfetti-Kanone. Ein Teil der Straße sieht grade aus wie der Times-Square in New York bei einem Heldenbesuch: Ich kann vor lauter Konfetti nichts mehr erkennen.

Die „Wahrnehmung des Ganzen“, wie Laotse schreibt, ist momentan getrübt. Aber nicht nur bei mir hier oben, hinter meinem Fenster zur Welt. Nein, auch auf der Straße werden Stimmen laut, wie ich höre, daß angeblich alle keinen Schimmer hätten, weshalb geraten werde, erst einmal den Ehrlichen und den Kreativen zu misstrauen, da sie sich am allermeisten von der überwiegenden Mehrheit unterschieden und deshalb schon unberechenbarer seien als der Durchschnitt. Für den Instinkt der Massen sei das gleichbedeutend mit suspekt!

Schließlich habe ein Erwachsener genug Lebenserfahrung, um niemandem wirklich vertrauen zu müssen. Ich frage mich, ob er sich damit nur schützen will, oder vielleicht gleichzeitig einen Freibrief erworben zu haben glaubt, andere ganz zwanglos übervorteilen zu dürfen. Oder sind solche Überlegungen schon der 1. Anwartschein auf eine kostenlose Hinrichtung?

Drunten fährt gerade der Politikerwagen vorbei. Er ist riesengroß! Mindestens 1000 gestylte Kartoffelköpfe jubeln gekonnt in die Menge. Während sie anscheinend unausgesetzt, fleißig über sogenannte „Grundsatzfragen“ diskutieren, verteilen sie bunte Deckmäntelchen unter der Bevölkerung. Die Deckmäntelchen haben kleine Täschchen, aus denen weiße Zettelchen ragen. Ich kann mir lebhaft vorstellen was drauf steht: Bleibt wie ihr seid und haltet still, denn wir alle haben ganz viel Verantwortung!

Ich muss lachen! Gut, daß mich jetzt niemand sehen kann. Zwar habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich durch meine Arbeit quasi schamlos rebelliere, aber andererseits weiß ich, daß dieses Verantwortungsgelaber die reine Ausrede ist. Ungeachtet der eigenen Unfähigkeit, pflege ich meinen schlechten Charakter und bin nicht zu bremsen – ich lache mich fast kaputt.

Leider konnte ich selbst eventuelle Verantwortungen nie ausfüllen. Ich erkannte nur ihre Gesetzmäßigkeit. Das war schlichtweg verkehrt! „Der Erwachsene ist ein, in seiner Augenblickssituation lebendes Tier“, hat einmal ein sehr dummer Mensch gesagt, der wie ich nicht wahrhaben wollte, daß die Realität (= die Geschichte) ihre eigenen Gesetze hat, denen die Mehrheit einfach zu folgen hat – wenn nötig hirnlos.

Wahrscheinlich würde sich sonst nichts abspielen, oder die echte Verantwortung für alles würde tatsächlich auf die Menschen übertragen, die bislang, Gott sei’s gedankt, dem Schicksal obliegt. Stellen wir uns doch einmal vor wir wären wirklich unseres „Glückes Schmied“ und all unsere Träume würden wahr werden… Um Himmels Willen! Sind wir, im Vertrauen gesagt, nicht etwas zu plump dafür?

Ich glaube da unten ist grade wirklich etwas passiert. Der Politikerwagen ist mit dem Wagen des Bischöflichen Ordinariats kollidiert und hat dazwischen einen Pulk Narren eingezwängt. Einige scheinen zerquetscht worden zu sein! Es fließt Blut! Angehörige anderer Welt-und sonstiger Religionen strömen herbei, um die Reste aufzusammeln. Dafür gibt es schließlich Gastarbeiter, damit wir einheimischen Damen- und Herrenmenschen keine schlecht bezahlte Drecksarbeit machen müssen. Die Manager, auf dem Großunternehmerkarren, der dem Wagen des Bischöflichen Ordinariats folgt, klatschen und grölen lautstark Beifall.

Als sich die Vertreter der anderen Weltanschauungen nicht einigen können, in wessen Verantwortungsbereich die verunfallten Reste noch nicht konvertierter Narren fallen, kommt es zum Streit. Ich habe es geahnt, möchte ich sagen, doch dann besinne ich mich zur Bescheidenheit und bekomme lieber Angst. Keine Minute zu früh, wie sich nun zeigt: Unten ist eine lebhafte Schießerei im Gange, in deren Verlauf kurioserweise sogar die Besatzung des Großunternehmerkarrens zu Schaden kommt.

Vergeblich versuchen die Höhergestellten ihr Fahrzeug noch aus dem Dreck zu ziehen. Aber zu spät! Plötzlich eilt ihnen niemand mehr zu Hilfe. Die meisten Einheimischen gehören ja mittlerweile, genau wie die Immigranten, zu den schlechter Verdienenden und haben demnach keine Zeit, da sie ihrer höheren Ansprüche wegen, mehrere Jobs gleichzeitig ausfüllen müssen.

Und die Arbeitslosen lachen sich, zusammen mit den Alkoholikern, einen „Ast“. So ist natürlich auf keinen grünen Zweig zu kommen! Gegen Mittag eilt schließlich die Ordnungsmacht herbei um den Knäuel aus randalierenden anders Herumdenkenden und fehlorientierten Terroropfern zu trennen.

Ich glaube in so manchen, leger gekleideten Kämpfern Geheimpolizisten zu erkennen, frage mich aber ob ich mich einmischen soll. Dann fällt mir plötzlich ein, daß ich wahrscheinlich gar nichts ausrichten könnte, da ich ja sogar der Geheimpolizei unbekannt bin. Ich bin überhaupt unbekannt – und was kann ein Unbekannter schon ausrichten?! …es sei denn der Sinn stünde ihm nach einer medienintensiven Selbstaufopferung ohne erkennbare Langzeitwirkung.

Einige Augenblicke später wird mir klar wie recht ich hatte: Panzer fahren auf! Schwerbewaffnete „Zivilisten“ eröffnen zusammen mit ihnen das Feuer. Leider geht der erste Schuss daneben. Es wird versehentlich der Klerus getroffen, gerade als er das ganze Schlammassel segnen will. Ein paar Narren am Straßenrand rufen „Helau, alaaf“ (oder „Allah“?). Auch sie werden im Folgenden gleich mit liquidiert.

Ein heilloses Durcheinander ist entstanden. Durch die Vermengung der Terrordarsteller untereinander ist es schwer geworden „Freund“ und „Feind“ voneinander zu unterscheiden. Jeder schießt und schlägt was das Zeug hält, quasi wahllos auf einen ihm suspekt erscheinenden Umstehenden ein. Da nützt es auch nichts mehr, wenn einer versucht seinen Ausweis zu zücken, der ihn als Mitglied irgendeiner Vereinigung, Institution oder dergleichen legitimiert. „Aber das Leben muss weitergehen“, sagt ein Sprichwort.

Die nächsten Wagen drücken nach. Die dreidimensionalen Karikaturen darauf – gewaltige Pappmascheköpfe – haben ein ungeheures moralisches Gewicht. Sie schieben den Tumult vor sich her, in Richtung Vergangenheit, und machen Platz für neue Verwicklungen… Die Straße liegt inzwischen voller Geschichtsdokumente, die darauf warten passend interpretiert zu werden.

Eigentlich möchte ich hinauslaufen, mir das Zeug näher ansehen und es in eine sinnvolle Reihenfolge bringen, um den Geschichtswissenschaftlern späterer Jahre umständliche Interpretationsakrobatik zu ersparen. Bevor ich gehe wird mir jedoch klar, daß dies eine arbeitsplatzvernichtende Maßnahme ist. Wie sollen schließlich Generationen von verantwortungsvollen Professoren ihre Familien ernähren?!

Dabei fällt mir mein Verhältnis zum Thema „Verantwortung“ wieder ein. Wie oft habe ich schon eine übernommen die mir gar nicht gehört?! (=die man mir nicht zugewiesen hat). Ist es nicht besser eine Aufgabe zu erfüllen, für die man nicht geschaffen ist (=aufgezwungen), als sich Gewissenskonflikten zu stellen, durch die man immer wieder wie fehl am Platz erscheint? (=Selbstfindung). Wie anstrengend ist es eigentlich, nur an „Das Gute“ zu glauben? Was ist demgegenüber „anständig“? Und wie groß ist die Rolle, die die Anbringung des eigenen Stempels dabei spielt?

Eigentlich müsste jeder Mensch einen Doppelgänger, einen Reservemenschen haben, der unliebsame Fremdaufgaben erfüllt. Wir könnten uns dann in uns selbst aufteilen und allen Anforderungen, den scheinbar gerechtfertigten, sowie den scheinbar ungerechtfertigten, gerecht werden. Wir müssten dann nur noch bei Gelegenheit in Erfahrung bringen können wer am richtigsten liegt (lügt), wir oder wir. Seltsamerweise deuten einige psychische Erkrankungen (wie beispielsweise die Schizophrenie) auf etwa dieselben Symptome hin, während natürlich zugegeben werden muss, daß blindes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sehr stark an Debilität erinnert. Wo also sind die Grenzen? Ist hier bereits der Persönliche Weltuntergang vorprogrammiert?

Vielleicht sollte ich mal zum Arzt gehen? Ich sollte mich auf meinen Geisteszustand hin untersuchen lassen, oder auf Midlifecrisis, auf Gedächtnisüberschuss (falls es so etwas überhaupt offiziell gibt), auf Liebesentzug (entziehe ich sie mir selbst?), auf aufgestaute Aggressionen (habe ich die?), oder einfach auf fälschliches Vorhandensein meiner selbst. Da fällt mir ein: Ich habe etwas vergessen. Ich sollte mich am ehesten noch auf übersteigerte Neugierde hin untersuchen lassen. Das ist vermutlich mein Hauptproblem.

Warum kann ich mich nicht einfach mit einer propagierten Wahrheit abfinden? Muss ich solange darin herumstochern, bis ich alle Krücken, die sie stützen herausgefischt habe und nichts weiter als der bloße Wunsch des Karrierepöbels zum Geldverdienen übrig geblieben ist? Mich macht das entsetzlich müde. Ich glaube ich muss mich hinlegen. Danach sieht die Welt sicher wieder viel besser aus. Im Traum schwöre ich erneut auf mein Leben, während ich durch einen Irrgarten fliege, dessen frisch zugeschnittene Heckenwände immer ein Stückchen zu hoch sind. So hoch traue ich mich nicht hinauf in die Luft, weg von der Erde. Als ich es einmal dennoch versuche bekomme ich, nicht nur der Flughöhe wegen, einen Schrecken, sondern auch deshalb, weil hinter jeder sorgsam gepflegten grünen Mauer ein Friedhof zu liegen scheint.

Schweißgebadet erwache ich. Zufällig geht in diesem Augenblick auch der Radiowecker an, den ich überhaupt nicht gestellt habe. Jemand singt ein Lied. In meinem Delirium verstehe ich jedoch den Text total falsch. Richtigerweise würde er folgendermaßen lauten „ich hol DIR keine Sterne mehr vom Himmel, die liegen nachher doch nur bei uns rum“, wie ich mir ca. eine Stunde später eingestehe, nachdem ich mir wieder einmal unnötigerweise einen Haufen Gedanken gemacht habe. Verstanden habe ich kurioserweise „ich hol MIR keine Sterne mehr…“. Ist diese akustische Fehlleistung schon das erste Eingeständnis eines sich bereits an mir vollziehenden Weltuntergangs oder leide ich neuerdings an akutem Gedächtnisverlust?

Weiß ich nicht mehr wer/was ich bin – ein Bulle nämlich -, oder missachte ich alle meine wirklich selbst gemachten „wertvollen“ Lebenserfahrungen? Ich wäre kein verdeckter Ermittler, würde ich mir nicht auch noch Gedanken darüber machen, wie wichtig welche Lebenserfahrungen sind. Bestehen die wirklichen Lebenserfahrungen nun in der Hauptsache darin wie man seine Buchführung erledigt, wie Messer und Gabel beim Essen gehalten werden sollten, oder sollten sie sich womöglich darauf erstrecken, wozu das Individuum Mensch an sich brauchbar ist?

Schließlich haben wir gelernt, es sei ein mit Vernunft begabtes Wesen, das nicht nur aufrecht gehen, sondern theoretisch auch aufrecht leben kann. Wieviel allerdings soll uns das noch wert sein, wenn angeborene Grundeigenschaften wie Neid und Missgunst ins Spiel kommen? Natürlich sind sie zum erfolgreichen Überleben Einzelner, in einer harten Umgebung, scheinbar sehr wichtig. Aber werden dadurch nicht vor allem human erscheinende, zukunftsweisende Erfahrungswerte wieder ad absurdum geführt? „Nein, sie müssen sich nur bewähren“ sagt mir ein kleiner Plagegeist ins Ohr, doch meine Intuition antwortet spontan: „Die Natur ist ein funktionierendes Unrechtssystem“.

Es ist still geworden. Direkt unheimlich! Alarmiert schaue ich wieder aus dem Fenster. Draußen bietet sich mir ein seltsames Bild. Scheinbar unbemerkt vom Publikum, gleitet der Wagen der Wissenschaft vorbei. Auf seiner Ladefläche sitzen lauter Gefesselte, deren kahlgeschorene Eierköpfe völlig verdrahtet sind. Hinter jedem Gefesselten sitzt ein dunkel gekleideter Spion, der beinahe so gut getarnt aussieht wie ich. Auch Spione sind gewissermaßen „Verdeckte Ermittler“. Jede dieser dunkeln Gestalten hält ein Bündel Geldscheine in der einen Hand und einen Stecken in der anderen, den er von hinten über den Kopf eines Gefesselten hält. An jeden dieser Stecken ist eine verklausuliert geschriebene Verheißung geheftet, die von einem besseren Leben für den Geköderten erzählt.

Die Gefesselten haben alle Hirnhälften voll zu tun die Verklausulierungen zu dechiffrieren und das Ergebnis gedanklich an ihre Familien zu überweisen. Eine hochkomplizierte Situation also, deren Tragweite kaum jemand bewusst zu werden scheint. Für mich sieht das Ganze allerdings gar nicht so tüchtig aus. Bei näherem Hinsehen erkenne ich insgesamt nur einen Bauern, der auf seinem Nutztier, einem Esel reitet und ihm listig eine, an einem Faden befestigte, Mohrrübe vor die Augen hält.

Zum Glück folgt auf diesen Wagen gleich der der Städtischen Bühnen. Auf ihm wird gerade Hamlet gegeben: „Ob’s edler im Gemüt, den Pfeilen des wütenden Geschicks gegenüber sich wappnend… sein oder nicht zu sein…“ Ich höre gar nicht erst hin!

Dahinter kommt endlich der Prunkwagen des örtlichen Puppentheaters. Dort ist alles klar! Die Figuren hängen an deutlich sichtbaren Strippen, die zwar nicht rot sind, den Roten Faden im Geschehen jedoch sehr deutlich werden lassen. Auch dort gibt es ein Stück: eine Kreuzigungsszene läuft ab. Jesus wird von einem – steinzeitlich formuliert – Schamanen, durch Albrecht Dürer vertreten, die beiden „Schächer“ an den benachbarten Kreuzen sind durch Schilder gekennzeichnet auf denen „Galileo Galilei“ und „Johannes Keppler“ steht. Einstein liegt bereits erschlagen am Boden.

Mir wird schlecht! Ich frage mich langsam ob heute nicht eher der 1. April ist. Manchmal ist das Leben einfach keine lösbare Aufgabe mehr, kein Intelligenztest, keine Herausforderung. Manchmal möchte man sich einfach nur hinsetzen und warten bis es vorbei ist. Als mir das durch den Kopf geht wird mir gleichzeitig bewusst, daß man ja genauso gut auch gefoltert werden könnte, was wiederum als Ansporn gelten mag, nicht aber als gesunder Anreiz. Das = nicht menschenwürdig! Auch das muss ich leider zugeben, denn im Verborgenen existiert sie bei Menschen immer: die Menschenwürde!

Und sofort schmeißt sich mein Denkmotor wieder wie von selbst an. „Wie weit hilft uns die List dabei Menschenwürde zu erlangen?“, frage ich mich ehrlich. Und: „Sind wir, unter Anwendung der List zur Erreichung unserer Ziele überhaupt noch der Menschenwürde würdig?“ Mir fällt ein wie einige Altvordere und sogar rezente Typen dieses Problem gelöst haben. Mir schien es immer als hätten sie mit all ihrem Gebaren verkündet: Ich schreite in Würde einher und gebärde mich majestätisch – deshalb wirke ich glaubhaft.

Um zu überprüfen ob so etwas noch existiert, schaue ich noch einmal aus dem Fenster. Selbstverständlich erkenne ich umgehend, daß ich mich geirrt haben muss, denn da unten auf der Straße ist gerade der Wagen der Bildenden Künste, mit seinen fest auf ihm installierten Ikonen, unterwegs. Die unzähligen Rollen Toilettenpapier, zwischen den zur Anbetung bereiten Bildwerken, irritieren mich ein wenig, da ich jedoch nicht schon wieder in heillose Kritik verfallen möchte, drehe ich mich schnell von dem Schauspiel weg. Aus dem Augenwinkel habe ich aber noch eine, über allem schwebende, Phantasmagorie als Quasimodo identifiziert…auf irgendeine Weise…

Um nicht noch mehr erkennen zu müssen will ich in die Arme meines Lehnstuhls am Kamin flüchten. Etwas Wärme täte mir jetzt gut. Gleich darauf schrecke ich jedoch wieder zurück. Ich sehe mich schon dort sitzen! Habe ich meinen Platz gar nicht verlassen, sondern alles nur geträumt? Träume ich vielleicht immer noch? Um das herauszufinden trete ich mir näher. Ich sehe genau hin und finde meine Pupillen nicht. Nur das Weiße im Auge ist sichtbar. Blicke ich in meinen eigenen Kopf? Was sehe ich dort? Stehe ich, in meinem Kopf, immer noch am Fenster und beäuge das Treiben auf der Straße? Bin ich womöglich sogar unten dabei, schwinge ich irgendein Kriegsbeil, gebrauche ich meine Genitalien ordnungsgemäß - oder sonst ein wichtiges Werkzeug?

Erschrocken versuche ich meinen Körper zu ertasten. Nicht den im Lehnstuhl am Kamin, auch nicht den im Kopf dessen, im Lehnstuhl am Kamin, sondern den Körper, der den im Lehnstuhl am Kamin Sitzenden betrachtet. Natürlich finde ich ihn nicht, meinen Körper. Als ich an mir herunterblicke sehe ich ihn nicht einmal! Wahrhaftig: Ich bin der Verdeckteste Ermittler aller Verdeckten Ermittler, die es gibt. Ich bin so verdeckt, daß ich Zweifel daran habe, daß es mich in Wirklichkeit überhaupt gibt. Kein Wunder also, daß ich nichts bewirken kann, wenn ich mich nicht einmal selbst in Würde wahrnehmen kann. In einem relativen Universum ist eben alles vom Standpunkt des Betrachters abhängig. Und ich lasse ja einen eigenen Standpunkt gar nicht zu.

Was ich bin, das bin ich also ebenso wie ich es nicht bin, abgesehen davon, daß ich fremdbestimmt bin und den Ereignissen, in denen ich eigentlich gar nicht vorkomme, nicht ausweichen kann. Am deutlichsten wird das sichtbar, wenn ich gefoltert werde (Schmerzen habe). Dafür scheint die Realität ja gut genug.

Dem letzten Wagen, der scheinbar durch das Scheinuniversum fährt, unten auf einer scheinbaren Straße, die scheingesäumt von Scheinzuschauern ist (vielleicht erkennt man bei näherem Hinsehen auch ihre Pupillen nicht, weil sie nur in den eigenen Kopf gucken), schenke ich keine Beachtung mehr. Trotzdem weiß ich wie er aussieht. Es ist gar kein Wagen, es ist der imposante Zug der Prinzipien. Sie kommen zu Pferd – sie sind sozusagen der Clou jeder respektablen Armee: Die Prinzipienreiterei. Der Aufmarsch findet in prächtigen Uniformen statt und begleitet wird er von einer Kapelle aus Pauken und Trompeten. Dahinter folgt noch die Abordnung der Standesämter…

…ganz nebenbei ist inzwischen die Welt untergegangen. Ich habe es nicht bemerkt, denn sie war anscheinend ohnehin nur fiktiv. Was ich bemerkt habe, lässt sich vielleicht am besten durch den Kernsatz eines berühmten Philosophen ausdrücken, der mir aus meinem Dasein noch im Gedächtnis geblieben ist.
„Die wenigsten Leute ahnen, daß sich das Leben hauptsächlich in der Phantasie abspielt“. Das jedenfalls behauptete vor 1000 Jahren, wie auch heute noch, der allseits bekannte und unsterbliche Professor Dankeswart Schnurz von der paläontologischen Fakultät Steinzeithausen in einem Symposion… In wessen Phantasie??

Diese Frage markiert das Ende aller meiner Bemühungen!


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Mein persönlicher Weltuntergang"

Re: Mein persönlicher Weltuntergang

Autor: possum   Datum: 23.02.2019 5:22 Uhr

Kommentar: Lieber Alf, ich sage dir, habe alles durchgelesen und jede Zeile hat ihren eigenen Charakter, so wie du Dinge ausdrücken kannst, es ist eine wahre Gabe. Ich selbst bin ja überhaupt kein Leser, treib mich einfach zuviel draußen herum, aber deine Werke faszinieren und fesseln, diese Ehrlichkeit darin gefällt mir besonders, Danke dir und ganz liebe Grüße!

Re: Mein persönlicher Weltuntergang

Autor: Alf Glocker   Datum: 23.02.2019 10:06 Uhr

Kommentar: O Possum, Du bist einfach ein Schatz!

Liebe Grüße
Alf

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