Die Sonne begann, ihre ersten Strahlen schüchtern über die kleine Stadt La Napoule zu werfen. Die kalt- schwarze Nacht verwandelte sich in ein tiefes klares Blau. Ich saß auf den Treppen unseres Hauses, das an einen Gasthof grenzte. Es war das Jahr 1766 und ich beobachtete an jenem Tag die ersten Vögel des Morgens, die am Himmel kreisten. Sie schienen um die Wette zu schreien und wie im Tanze mit einander zu ringen. Ich war, wie gewöhnlich, gefangen in meinen Träumen und an jedem anderen Tag hätte mich nichts aufwecken können, doch während mein Kopf noch gen Himmel gewandt war, spürte ich, wie sich um mich herum etwas tat. Mein Blick wanderte zu einem Fenster des Gasthofes. Von meinem Platz aus konnte ich hinein sehen und nur einige Zweige der umher stehenden Bäume versperrten einen Teil der Sicht, indem sie mit schwarzer Farbe in das Blau des erwachenden Tages malten. Ich wusste, dass in dem Zimmer ein Mädchen schlief, das erst an dem vergangenen Tag angekommen war. Man wusste nicht, wer sie war und woher sie kam, aber sie war von so überwältigender Schönheit, dass bald Gerüchte laut wurden. Es hieß, sie sei aus Grasse gekommen auf der Flucht vor dem Mädchenmörder.
Eine Gestalt begann, sich in dem Zimmer aufzurichten und -was mich verwunderte - ohne jede Eile aus dem Fenster zu steigen. Geduckt, im Halbdunkeln des Morgens, schlich sie an der Hauswand entlang und verschwand. Mir wurde kalt. Nein! Kalt war eigentlich das falsche Wort. Es war als würde sich in meiner Brust ein Krampf ausbreiten, der Eiszapfen in mich hinein schlug und große Teile meines Körpers, meines Bewusstseins einnahm. Ich hatte nicht gesehen, was in dem Zimmer des Mädchens geschehen war, aber ich wusste es. Nach den vielen Morden, die die kleine Stadt Grasse heimgesucht hatten, war ich mir sicher, dass sich niemand mehr an der vollkommenen Schönheit des Mädchens ergötzen können würde. Ich bekam eine unsagbare Angst.
Der Morgen begann die Straßen und Häuser in ein tiefes Rot zu tauchen und man hätte meinen können, die von den Grashalm perlenden Tropfen wären Blut, das zu Boden rann. Scheu schaute ich mich um. Hinter mir hatte ich etwas wahr genommen. Ich weiß nicht, was es war, ich hätte nicht einmal sagen können, ob es überhaupt etwas war. Ich wollte es abschütteln und innerlich begann ich, mich bereits zu winden und zu schreien, doch es hätte nichts geholfen mich auf die vor Dreck strotzende Erde zu werfen und mich wild zu wälzen. Das Gefühl war nicht so leicht abzustreifen. Ein Windzug traf meinen nackten Rücken, denn der Stoff meines Kleides bedeckte ihn nur halb und so war ich dem leichten Hauch völlig schutzlos ausgeliefert. Als ich den Kopf drehte, hatte ich hinter mir das Grauen selbst erwartet, doch was ich sah passte nicht. Es war ohne Zweifel die kleine, wendige Gestalt, die ich zuvor aus dem Fenster hatte steigen sehen, doch sie hatte nichts von einem Teufelswesen. Dieser unscheinbare junge Mann sah eher bemitleidenswert aus, als müsste man ihn stützen, da er sonst nicht grade gehen könnte. Seine leicht gekrümmte Haltung hätte man einer Verbissenheit, einer linkischen Art oder einer Hinterhältigkeit zuschreiben können, doch es war, als könnte sich dieses zerbrechliche Wesen einfach nicht aufrecht halten. Er sah mich nicht an. Er beachtete mich nicht einmal, und doch wusste ich, dass er mich ganz und gar wahrnahm.
Er verbarg etwas unter seinen Kleidern, gleich einem Schatz, einem Heiligtum, dessen ihn keiner berauben durfte. Aber ich wollte es ihm nicht nehmen. Mir war es sogar gleich, was er verbarg, denn diesem zarten Geschöpf mochte man kein Übel anhängen. Trotz all diesem Vertrauen, welches ich in den Unbekannten steckte, wagte ich es nicht, ihn anzusprechen, ja ihm auch nur zu signalisieren, dass ich ihn bemerkte. Zu sehr fürchtete ich mich vor den möglichen Folgen. Zudem hatte ich meine vorige Angst noch nicht überwunden. Da ich mit dem Schrecken höchst persönlich gerechnet hatte und nun solch ein bemitleidenswertes Geschöpf vor mir sah, konnte ich mich auch der Verwirrung nicht gänzlich entziehen. Mein Versuch, ihm mit Blicken Halt zu geben, scheiterte. Meine Überlegung, ihm meine helfende Hand zu reichen, legte ich sogleich wieder bei Seite. Der Ekel war zu groß, zumal ich wusste, was er dem Mädchen angetan hatte. Wäre mir sonst ein Mörder unter die Augen getreten, ich hätte mich nicht eine Sekunde mit ihm aufgehalten, nicht einen Gedanken hätte ich verschwendet. Dieser Mensch, falls er das war, hatte allerdings nichts von einem böswillig Mordenden.
Er wendete sich von mir ab und obgleich er mich vorher ebenso wenig beachtet hatte, spürte ich ganz deutlich wie seine Aufmerksamkeit weiter zog, da er wusste wie ich fühlte.
Ich schäme mich fast, dass ich einer so grauenhaften Kreatur mein Wohlwollen geschenkt hatte, doch mir war es nicht anders möglich gewesen.


© Nele


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Beschreibung des Autors zu "ein Paralleltext (das Parfum)"

Dieser Text gehört zu einem von mir erarbeiteten Portfolio zu dem Roman "das Parfum".
Ich habe mich in das Buch hineingeschrieben und die Szene des "finalen Mordes" gewählt.

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