3.Kapitel



Götterspeise
3.Kapitel

Götterspeise

Wie lange werde ich noch brauchen um aus diesem Irrgarten wieder herauszufinden? Ich kann zwar allmählich verstehen was mich bewogen hat, diesen Ort im Universum aufzusuchen, aber ich begreife auch, daß meine Impressionen nunmehr gesammelt sind und wir die Heimreise antreten sollten. Du, mein lieber Kaspar, solltest dich vor allem damit abfinden, daß Lieschen Müller und ihr – quasi von dir liquidierter - geschiedener Mann Hans kein Einzelfall sind. Unsere Leute sind überall am Werk und du kannst nicht die ganze Menschheit verhaften. Übrigens weißt du so gut wie ich, daß es der Hauptverdächtige gar nicht gewesen ist – obwohl er es vorhatte. Aber wie so oft, sind die Schuldigen an ganz anderer Stelle zu suchen. Und nicht jeder ist ein Hans im Glück, weil er bereits vor der Ausübung einer schweren Straftat unschädlich gemacht wird. Die meisten von euch sind ihren Anlagen bis zu ihrem Ende schutzlos ausgeliefert. Auf uns beide trifft das jedoch nicht zu. Wir sind ein ganz anderer Schlag, wie du jetzt sicher – wenn auch widerwillig – zu begreifen beginnst. Auf meiner imaginären Reisekarte sind jedenfalls schon deutliche Fortschritte zu verzeichnen. Das gedachte rote Licht für deinen momentanen Aufenthaltsort blinkt verdächtig nahe am Ziel. Lass uns dieses Spiel zu Ende spielen.

Er behandelt es wie eine Art Computerspiel, mutmaßte Hauptkommissar Gleich. Und eigentlich spricht ja auch nichts dagegen, ich kenne mich selbst nicht mehr aus in dieser unserer Realität. Sollte sie doch nur ein Traum sein?
Zuffi kam mit einer Brotzeit herein, einem doppelten Matschburger – irgendeine undefinierbare, graubraune Fleischspeise zwischen zwei aufgeblasenen Luftbrotscheiben.
„Ist es wahr, was man sich über dich erzählt, Chef, bist du erblich mit Schizophrenie vorbelastet?“

Sam hatte keine Zeit darauf einzugehen. Über den Dezernatslautsprecher wurden sie zu einem Einsatz gerufen.
„Achtung, Achtung: Großbrand in den Slums von Neumenzing. Es sind bereits zahlreiche Tote zu beklagen. Das Capoidenviertel ist zur Gänze ein Raub der Flammen geworden. Jetzt sind die Asmat bedroht. Der WGD geht von Brandstiftung aus. Zwei verdächtige Kaukasier wurden mit Champagnerflaschen, die Molotov-Coctails gewesen sein könnten und Fanschals des FC-Bavaria-Münchhausen gesehen. Eine Großfahndung nach ihnen ist bereits eingeleitet“.
Zuffi warf den Matschburger in den Abfalleimer und stürmte hinaus. „Teufel nochmal“, knurrte Sam, immerhin noch der amtierende Hauptkommissar der Mordkommission seiner 30-Millionen-Stadt. „Wer hat hier eine Großfahndung einzuleiten? Hat der WGD etwa meine Arbeit übernommen?“

Ein stechender Schmerz in der Brustgegend hielt ihn von einem heftigen Zornausbruch ab. Mit der rechten Hand überprüfte der Kommissar, ob sein Revolver im Schultergürtel steckte, mit der linken griff er sich ans Herz, genauer gesagt, an die Brusttasche im Hemd. Dort stieß er auf etwas Kleines, Hartes. Wenig später hatte er eine Metalltablette herausgefischt, aus der ein Pyramidenförmiger Dorn ragte. Sam betrachtete erstaunt das silbrig schimmernde Ding und fast augenblicklich wurde ihm schlecht. Zeitlupenartig ging er in die Knie. Durch den Stoff seines Diensthemdes sickerte ein winziger Blutstropfen. Sein Blick ging nach unten. Instinktiv versuchte er die Arme auszustrecken, um den Sturz nach vorne abzufedern, aber er fiel aus allen Wolken. Vor ihm öffnete sich eine bläuliche Nebelschicht und gab eine herrliche Landschaft frei. Im selben Augenblick hörte er Stimmen.

Noch bist du nicht bei uns, aber dies hier ist was du immer gebraucht hast – der Ursprung deiner Identität, deine wirkliche Heimat. Hier hast du dein wahres Leben verbracht und hier hast du auch dein unauslöschbares Urgedächtnis erworben“.
„Aaaahhhhh!“ Sam schrie sich beinahe die Seele aus dem Leib, denn die herrliche Landschaft kam mit atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zu – Bummms!
Mit einem dumpfen Schlag landete er, mit dem Gesicht zuerst, auf dem Parkettfußboden seines Büros. Direkt vor seiner Nase befand sich ein weiteres Bekennerschreiben.

Fang’ das Gesetz in deinem fremden Land, Kaspar! Hast du noch nicht zur Kenntnis genommen, daß du nur ein Reisender bist? Was weißt du denn schon?
Ich habe den baufälligen Arc de Triomphe in Paris gesehen, das gesprengte Manhattan in New York beäugt und den morbiden Glanz von Benares am Ganges studiert. In den, vor lauter Jugend blühenden Favelas von Sao Paolo, habe ich mit den Organdealern getanzt und den erotischen Duft der Sambaschulen unter die Umstehenden gehaucht. Am Platz des Himmlischen Friedens, in Peking, habe ich die Tauben gefüttert und am Roten Platz in Moskau, wo jetzt das Gras gnädigen Vergessens über die brüchigen Betonplatten wächst, habe ich euren Gebeten gelauscht, um in euer Innerstes zu sehen. Ich bin dein Herz, deine Seele, aus den lichtdurchfluteten Hallen des ältesten Heimatsterns im Universum. Und jetzt bin ich mit dir in Verbindung getreten, um dir zu sagen, daß es Zeit wird die Rückreise anzutreten. Die silbrige Pille hat dir mit dem pyramidenförmigen Stachel ein Gift injiziert, das dich innerhalb von 24 Stunden zerstören wird. Deine Molekularstruktur wird sich auflösen. Begleitet wird der Vorgang deiner Verendung jedoch nur durch gelegentliche Übelkeit, bis du dich sozusagen verflüchtigt hast.

Unsere Simulatoren warten auf deinen Geist. Ebenso wie die kleine Auslese deiner momentanen – sehr kuriosen – Art. Umgewandelt wirst du uns helfen können, eine neue Gaya für die Nichtswürdigen zu entwerfen. Und noch etwas: Glaube nicht, daß deine Stadt ohne unser ausdrückliches Einverständnis brennt. Im Gegenteil: Zwei Leute, auf die ich mich in diesem Planquadrat stets blind verlassen konnte, haben sie in meinem Auftrag angezündet. Ich rieche das gebratene Menschenfleisch meilenweit. Und eure sinnlose Verzweiflung ist Wasser auf meine Mühlen. Sie sollte geeignet sein dich mit ausreichend Informationen für eine große Enzyklopädie, den ´Globalen Reiseführer` zu versorgen. Darin sollte zu lesen sein, nach welchen Zielen ihr unterwegs gewesen seid. Vielleicht etwa so formuliert: Ihre Wegweiser waren Geldscheine, Gehaltsabrechnungen, ihr einziges Fortbewegungsmittel aber war...“

An dieser Stelle brach das Schreiben ab.
Sam hatte sehr viel Zeit mit dem Lesen verbracht. Als er am Einsatzort eintraf, war das Chaos in vollem Gang. Die Feuerwehr kam kaum zu den Brandstellen durch. Die anwesenden Polizisten wurden beschimpft und mit Eiern beworfen. Viele Frauen lagen laut schreiend, über die Leichnahme ihrer verkohlten Kinder gebeugt, am Boden. Die Männer schienen sich zunächst zu einer drohenden Phalanx formieren zu wollen. „Wir brauchen mehr finanzielle Unterstützung!“ skandierten sie mit gutturalen Stimmen. Der steigenden Anzahl der Zuschauer und des wilden Umherrennens der Betroffenen wegen, schien es völlig aussichtslos den Brandherd unter Kontrolle bringen zu können. Die leichte Brennbarkeit der Notunterkünfte tat ein Übriges. Aber immer wieder gelang es einem Uniformierten den Flammen ein schwarzes Bündel zu entreißen. Notarztfahrzeuge transportierten dann die Verletzten – meist Kleinkinder – unter Einsatz von Sirene und Blaulicht, ab. Andere behandelten Polizisten und Feuerwehrmänner ambulant.

Bei Einbruch der Dunkelheit zeichnete sich eine nicht weniger gespenstische, als auch faszinierende Szene ab. Die Stromversorgung der Stadt war ausgefallen. Nur die gewaltige Feuerwand, die sich den gesamten Hügel mit den Holzbaracken und Wellblechhütten hoch fraß, erleuchtete - zusammen mit einem sich ankündigenden Gewitter - einen dick bewölkten, mond- und sternlosen Himmel. Vor dem hellen Flammenhintergrund zeichneten sich nun die ersten Tanzgruppen ab, die sich auf Anraten der Medizinmänner gebildet hatten, um die Götter zu besänftigen. Trommeln schlugen ihren Takt in die gellenden Töne des übrigen Durcheinanders. In der Ferne zuckte der erste Blitz. Sam Gleich, der Hauptkommissar – soeben dabei ein Verhör mit einem Tatverdächtigen zu beginnen – knickte in den Knien leicht ein. War das der Beginn der Erschütterungen seiner molekularen Struktur? Oder hatte der Stich der winzigen Metallpyramide weder Folgen noch Bedeutung? Zur Klärung dieser Frage war leider keine Gelegenheit.
Der Tatverdächtige, ein kleiner Franzose, war immerhin mit einer abgebrannten Gartenfackel und 20 Gramm Shit erwischt worden. Er fuchtelte mit einer Uralt-Ausgabe von Jean-Paul Sartres „Der Ekel“ herum. „Merde!“ schrie er, „’as ‚ollt ihr eischentlisch, das ischt doch alles abgekartet bis zur letzten Einselheit und nu suscht ihr einfasch nach Sündenböken, weil ihr den wahren Schuldigen nischts tun könnt!“

Immer wieder schossen neue Flammentürme hoch aus der unheimlichen Nacht, was eindringlich auf begeisterte Pyromanen hindeutete, deren Bedürfnisse offenbar noch nicht befriedigt waren.
Der Aufmerksamkeit des Fahnders war das natürlich nicht entgangen, aber er gedachte systematisch vorzugehen. Vielleicht ließ sich an der Einstellung kleinkrimineller Subjekte die Absicht großer Verbrecher erkennen. Und das Ergebnis der Überlegungen daraus würde dann mit Sicherheit akzeptable Lösungsmöglichkeiten erzeugen.

Daß der kleine Mann mit der Gartenfackel und dem bisschen Rauschgift kein Schwerverbrecher war konnte er mit dem bloßen Auge sehen, aber vielleicht brachte ihn das Verhör auf die Spur des, bzw. der Gesuchten.
Seltsamerweise verband der Hauptkommissar Kaspar Gleich, genannt „Sam“ große Erwartungen mit der Brandkatastrophe. Die Beendigung der Mordserie in seinem Distrikt stand kurz bevor, da war er sich sicher. Und deshalb schickte er Inspektor Greifzu, „Zuffi“, mitten in das Inferno.
„Solange ich hier verhöre, solltest du versuchen den neu entstehenden Brandherden zu folgen. Sie scheinen sich dort oben wie eine Perlenkette aufzureihen. An ihrem Ende müßten eigentlich die Brandstifter und - wie ich vermute – auch die Serienmörder zu finden sein. Wenn du sie zu fassen kriegst sind wir rehabilitiert“.

Zuffi hatte kein gutes Gefühl bei der Sache, aber er riss sich zusammen. Vorsichtshalber griff er zu seiner altbewährten Methode zur Stützung des Selbstbewusstseins. Er machte mit Absicht O-Beine, so gut er nur konnte, bis er schließlich aussah als habe er in die Hose gepinkelt und könne deshalb nicht mehr ganz aufrecht stehen. Dann lockerte er den Revolver im Schultergurt und steckte sich eine Mallborog superheavy in den Mundwinkel. Als er das sichere Gefühl verspürte zum original Texasranger geworden zu sein, schnalzte er mit der Zunge und trabte los. Die Daltons konnten nicht weit sein.

Sam schaute ihm nachdenklich hinterher, wie er zwischen den Trommlern, den Tänzern, den Witwen und Waisen, sowie den Feuerwehrleuten und den Schaulustigen verschwand. Dann ging er versonnen, ebenfalls durch den Trubel auf die Flammenwand zu. Und wie ein Verliebter ins Gesicht seiner Angebeteten schaut, um dort den Sinn seines Lebens zu suchen, glotzte er in die helle, wabernde Front. Offensichtlich wirkte sie wie ein Spiegel, denn sein Abbild erschien auf einmal darin. Jedenfalls hatte er den Eindruck. Aber war es wirklich Hauptkommissar Gleich, den er da sah? Dieses feurige Gegenüber hatte ja keine Haare und große, schwarze Augen: eine einzige Pupille. Seine Nase war wesentlich kleiner als die Sams. Die Hand, die sich ihm jetzt zu reichen schien hatte nicht 5 sondern 6 Finger.

Sams anderes Ich lächelte weise und er wußte was das zu bedeuten hatte. Bereitwillig griff er in die Brusttasche seines Jacketts und zog den letzten Bekennerbrief heraus. Der andere nahm ihn und verging mit dem Dokument in den Flammen. Im selben Augenblick ertönte ein schriller Schrei: „Lass das, du Umstürzler!“ Hinter ihm stand, zu voller Größe aufgebaut, Ljubow Turischtschewa, der Überwachungsoffizier!

Sam wirbelte erschrocken herum. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Ljubov sah ihn aus blitzenden Augen an. Mit ihren kräftigen Händen packte sie ihn wie eine Puppe. Dabei machte sie ein Gesicht als wolle sie ihm den Kragen umdrehen. Doch dann schien sie es sich anders überlegt zu haben. „Ich hasse Phrasen“, sagte sie, ohne daß es besonders böse klang. „Können sie mir beschreiben was sie gerade gesehen haben?“ Unerklärlicherweise fühlte sich Sam zum Scherzen aufgelegt. „Ich kann es ihnen so genau beschreiben, als hätten sie eine Fotografie gesehen“.

Der Überwachungsoffizier zog diese Aussage sogleich in Zweifel, weil sie den Kaspar in eine Kategorie Menschen einstufte, die nicht wussten worüber sie redeten.
„Wie sie sich denken können halte ich nichts von Spekulationen“, warnte sie ihn.

„Im Augenblick spekuliere ich nur über den Ausgang unseres kleinen Rendezvous hier“. Sam war über Gebühr frech geworden. Sekunden später wurde ihm das klar, aber die Folgen hatte er wieder einmal nicht vorausgesehen. Ljubov näherte sich mit ihren Lippen den seinen. Gleich darauf drückte sie Kommissar Gleich einen dicken Kuss auf den Mund – und er ließ brav Ober- und Unterkiefer auseinandergehen. Ihrem Ansturm war Tür und Tor geöffnet. Mit der wilden Energie ihrer rauen Katzenzunge entjungferte sie geradezu Kaspar ( Sam ) Gleichs bislang relativ unschuldige Mundhöhle. Im Hintergrund donnerte es. Ein mächtiger Blitz zuckte über den Nachthimmel. Ein bunter Blitz!? Ganz da oben, auf dem brennenden Hügel musste ein Munitionsdepot explodiert sein. Der Gesang durch die Luft fliegender, größerer Wellblechteile kündigte eine gewaltige Oper der Vernichtung an, die zu dem Naturschauspiel des Gewitters in Wettstreit trat. Sozusagen als Ouvertüre ging zuerst die Gefechtsfeldbeleuchtung hoch. Etwa 100 weiße, mindestens aber 25 rote und ebenso viele grüne Leuchtkugeln stiegen auf und schwebten majestätisch zur Erde nieder. Dabei erhellten sie schamlos die mit ganzer Wucht vorgetragene Offensive des Überwachungsoffiziers in den Diensten des PÜV. Dann bebte die Erde. Schwere Haubitzenmunition ging hoch, zusammen mit Tretminen. Hochgeschleuderte Handgranaten verwandelten sich, im Rahmen des großen, infernalischen Konzerts in kleine, reizvolle Feuerbälle.

„Verdammt, wer hat denn diese Katastrophe angezettelt?“ wetterte Sam. Und: „Wo ist Zuffi? Ich habe ihn da rein geschickt“.
Ein kaltes Lächeln spielte um Ljubovs schmale Lippen, bevor sie Sam zu einem von ihr angeforderten Taxi schob. „Hier können wir nicht bleiben“, sagte sie und kitzelte ihn mit der Zunge im Ohr.

Inspektor Greifzu hatte die Fährte der Brandstifter aufgenommen. Das Gewitter war noch einige Kilometer weit weg, aber bereits aus dieser Entfernung schien spürbar, welch gewaltige Entladungen da vor sich gingen. „Komm“, sagte er zu sich selbst - seine Angst überspielend – „sicher fängt es bald an zu regnen, also sieh zu, Ranger, daß du zur Verhaftung schreitest. Wie Peitschenschläge klang jetzt der Donner. Der Inspektor ging auf eine brennende Hütte zu – und erstarrte dann plötzlich, mitten in der Bewegung.

Ein unwirkliches Leuchten schien den ganzen Bezirk, in dem er sich jetzt aufhielt zu umgeben. Der wolkenverhangene Himmel schimmerte direkt über ihm so gespenstisch, als wenn der Teil nicht wirklich zu dieser Welt gehören würde. Zuffi stand ungläubig da, den Mund sperrangelweit offen, und wartete ab was weiter geschehen würde. Das Ganze dauerte nicht länger als ein paar Augenblicke, dann war der geheimnisvolle Schimmer wieder verschwunden. Ein weiterer Blitz zuckte und der Donner riss Zuffis Körper aus der Erstarrung. Die Erstarrung seines Geistes löste sich ebenfalls. Er hatte eine Idee: Wer immer da oben Brand um Brand legte, würde wahrscheinlich auch wieder zurückkommen, um sich mit den vielen Schaulustigen da unten an seinem Werk zu erfreuen. Das war tatsächlich die richtige Eingebung – sie rettete ihm das Leben! Zuffi ging nicht mehr weiter. An einem kokeligen Stück Holz zündete er eine Zigarette an und betrachtete versonnen die Tanzgruppen, die jetzt langsam den Hügel herauf kamen. Dann hörte er ein Geräusch. Es kam aus der anderen Richtung: mitten aus dem Inferno.

Zwei Gestalten in Asbestanzügen näherten sich. „Was sollen wir jetzt noch unternehmen, Jacky?“ fragte eine sonore Männerstimme. „Die Party ist ein voller Erfolg“, antwortete die andere, die sich dunkel und etwas unheimlich anhörte. Zuffi hatte eine solche Stimme einmal in dem Film „Die Lebenden Leichen“ gehört.

Der verkohlte Balken, auf dem er Platz genommen hatte, knirschte. Aus seinem Innern waren „Totenuhren“ zu hören, eine Klopfkäferart, die ihren Beinamen durch das tickende Geräusch erhielt, das sie verursachen. Wie konnten sie in dem schwarzen Holz überlebt haben?

Langsam kamen die Tanzgruppen näher. Ihr Trommeln mischte sich in die Töne der Totenuhren und verschmolz mit ihnen zu einer weltfremden Melodie. Zuffi entdeckte, daß sich nun auch Eingeborene der Polonaise aus Capoiden und Asmat angeschlossen hatten. Das machte ihm Mut.
Das Feuer schien vor dem Anrücken der Tänzer zurückzuweichen. Die Stille, die hypnotische Stille wurde dem Inspektor bewußt. Unerklärlicherweise präsentierte sich der Beobachtungsstandpunkt von Greifzu als ein Ort der Ruhe. Der Donner des näher rückenden Gewitters machte sich hier ganz verhalten aus. Nur stark gedämpfte Laute drangen in den Kreis der beiden Asbestanzugträger und ihres Verfolgers. Der Inspektor begriff warum er die Totenuhren überhaupt gehört hatte.

Hatte die Geschichte ein ganz spezielles Vakuum geschaffen, in das sie die Ergreifung zweier Feuerteufel einschloss? Auf einmal krachte es wie von einer Explosion. Der Blitz schlug genau in die Glocke des Vakuums ein, wo sich noch vor Sekunden eine historische Sternstunde abzuzeichnen begann. Die beiden Männer in ihren feuersicheren Anzügen leuchteten gleichzeitig, gleißend hell wie Engel auf – und waren im selbem Moment verschwunden. Nein – etwa 20 m weiter links tauchten sie wieder auf, wie eine Fatahmorgana aus flimmerndem Licht. Einen Wimpernschlag später standen sie – von den strahlenden Antennen der Blitzes, der sie traf, gekrönt – 50 m rechts unten, in Richtung der Tänzer. Ihr Verschwinden und Wiederauftauchen wiederholte sich insgesamt ca. 13 mal, wie eine nacheinander aufblinkende Lichterkette, den ganzen Hügel entlang. Was für eine Apotheose!

Unten heulten die Tänzer vor Freude auf. Ihr Gott, den sie so inbrünstig beschworen hatten, war ihnen erschienen. So sah es jedenfalls Zuffi, der mit weit offenem Mund in der vom Rauch dampfenden Landschaft stand, die einmal ein quirliger Slum gewesen war. Der Blitz hatte ganz in seiner Nähe eingeschlagen. Er hatte ihm die Haare versengt und ihm durch den ungeheueren Schock den Verstand geraubt. Zuffi lachte und weinte gleichzeitig. In wirre Selbstgespräche vertieft ging er den Hügel hinunter, der bunten Polonaise entgegen. Dort reihte er sich ein und tanzte mit um die Götter zu beschwören, die seiner Meinung nach, bereits erschienen waren. Dann explodierte das geheime Munitionsdepot. Die Erschütterungen durchzogen den Hügel, wie eine Brandung elektrischer Wellen und verursachten in Inspektor Greifzus Beinen ein wohltuendes, lustiges Kribbeln.

„Ich werde von heute an, deine Königin sein“, sagte Ljubov, so sanft sie konnte und küsste Sam zärtlich auf die Stirn. Das Taxi hatte vor ihrem Hotel in der Nachtkerzenstraße angehalten.
Der Kommissar unternahm einen letzten Rettungsversuch, denn er ahnte nicht bloß, daß er dieser Frau nicht gewachsen war. „Zu fragen wie viele Sterne dieses Hotel hat, ist wohl nicht angebracht?“ meinte er schüchtern. Seine einzige Chance bestand darin, die hohe Staatsbeamtin so lange zu nerven bis sie ihn wieder in Ruhe arbeiten ließ. Ansonsten hatte er alle ihre Vorschläge, die ausschließlich seiner Überwachung dienten, als Befehle zu respektieren.

„Seien wir froh, daß wir nicht im Zelt übernachten müssen“, erwiderte der weibliche Überwachungsoffizier. Damit schürte Ljubov Sams schlimmste Befürchtungen: Würde sie das, nun mit Sicherheit folgende, Verhör so gestalten, daß es einer Psychofolter gleichkam? Dafür brauchte sie ihm nur Schlaf und Essen zu entziehen.

Sie passierten den Eingang. Hinter dem Tresen der Rezeption saß ein Mann in den Neunzigern. Er trug eine grüne Augenklappe und machte ein grimmiges Gesicht. Als er die Turischtschewa sah, stand er auf und musterte sie mit seinem einen intakten Auge eingehend. „Sie sind sicher diese wichtige Abgesandte des Psychologischen Uberwachungs-Vereins in Peking“, krächzte er.
„Erraten“, sagte Ljubov und reichte ihm die Hand. „Kann ich den Zimmerschlüssel haben?“
„Einen Moment bitte. Welcher ist es denn? Ich bin zwar der Besitzer des Hotels, aber ich kann mir keine Angestellten leisten. Meine Frau und ich müssen die ganze Arbeit alleine machen“.
„Nr. 31“.
Er nahm den Schlüssel ab und legte ihn auf den Tresen. „Wenn sie geweckt werden wollen, dann sagen sie mir bitte wann. Aber ich schätze das wird nicht nötig sein“. Er zwinkerte Sam verschwörerisch zu.

Ljubov Turischtschewas Zimmer wirkte verwahrlost. Überall lagen ihre Sachen herum. Hier musste lange nicht mehr aufgeräumt worden sein. In einem der Fenster fehlte eine Scheibe und irgendwo wurde ein Fensterladen, von dem frischen Wind, der jetzt, kurz vor der Ankunft des Unwetters, von den Hügeln herab blies, geräuschvoll hin- und hergeworfen. Die Einrichtung wirkte schäbig. Sie stammte noch aus dem vorigen Jahrhundert und musste so aus den Jahren um 1960 sein. Aber schon damals dürfte sie nicht viel gekostet haben. Ganz im Gegensatz zu der üppigen Kunstsammlung, die Sam schon im Foyer aufgefallen war. Bei allen Exponaten handelte es sich durchweg um Werke der sogenannten „Ganz Neuen Superwilden“, einer Künstlergruppe um den Bärlinger Kunstprofessor Ars Hole. Alles sündhaft teure Stücke, die sich meist durch großzügig aufgetragenes Malmaterial auszeichneten. Spuren- und Zeichenhafte Elemente in braun, Wülste und Striche in braun, die meist „Balance“ oder „Transmission1,2,3“ usw. hießen.

Sam vertiefte sich gerade in ein solches Kunstwerk – das einzige in Ljubovs Zimmer – als ihm ernstlich schlecht wurde. Das Gift! Im Eifer des Gefechts hatte Kaspar Gleich die ominöse Ankündigung, daß er sich innerhalb von 24 Stunden auflösen werde, vergessen. Er ließ sich nach hinten fallen und landete auf dem Bett. Fast im selben Augenblick war der Überwachungsoffizier über ihm. „Spürst du, daß die Luft zwischen uns förmlich magnetisch aufgeladen ist?“ hauchte sie heiser. Ich spüre überhaupt keine Luft mehr zwischen uns, dachte Sam. Die Tursichtschewa mochte gut und gerne an die 95 kg wiegen. Sie glotze ihm tief in die Augen und wenige Augenaufschläge später kehrte ihre alte Vertrautheit zurück: Sie steckte ihm ihre raue Katzenzunge in den Mund! Sam schluckte, während ihre Hand über seine Haare strich. „Mellm Kallpal“ ( Mein Kaspar ), lallte das stämmige Weib undeutlich, weil sie hauptsächlich damit beschäftigt war Sams Gebiss zu erforschen. Für ihre Verhältnisse verhielt sich Ljubov noch zurückhaltend, aber bald gebärdete sie sich leidenschaftlicher. „Ich habe mich so lange nach dir gesehnt und versuchte dich ganz aus meinem Kopf zu vertreiben“, gestand sie. „Aber das ist mir nie ganz gelungen“. Jetzt brachen ihre Gefühle stürmisch und ungestüm aus ihr hervor. Sie überwältigten Sam und rissen ihn ein Stück mit auf den Weg der zügellosen Begierde, die von seinem Widerpart Besitz ergriffen hatte – wie er glaubte. Er war sogar ein bisschen gespannt, was er von dieser starken Frau, die es – wie ihr Ruf besagte – auch in gefährlichen Situationen verstand, einen kühlen Kopf zu bewahren, noch lernen konnte. Seinetwegen war sie nun im Begriff ihren Ruf zu verlieren. Oder täuschte er sich wieder? Aber zuerst verlor Sam die Besinnung. Für einen winzigen Augenblick wurde er durchscheinend.

Diesen Eindruck hatte wenigstens Ljubov. Aber nicht lange. Die stahlharte Realistin in ihr siegte sofort über die Einbildung. Sie tätschelte die Wangen des Mannes unter sich und rief: „Kasparchen, Kasparchen, du wirst mir doch jetzt nicht vor Glück ohnmächtig werden. Uns steht zusammen noch eine Menge Spaß bevor“.

Kaspar Gleich kam widerwillig zu sich, denn er hatte etwas Schönes geträumt. Ein wunderbares, fremdes Wesen hatte ihm aus einem Nebelschleier zugeflüstert, er solle sich nicht grämen, sondern die Reise für wenige weitere Stunden fortsetzen. Unverzichtbares käme noch auf ihn zu. Einmal mehr ergab er sich in sein Schicksal. Nur das Schicksal ergab sich nicht in ein Wohlgefallen.

Obwohl sich der weibliche Überwachungsoffizier die größte Mühe gab, wollte zunächst einfach keine Stimmung aufkommen. Doch das Glück des Tüchtigen beseitigte schließlich noch alle Schwierigkeiten. Dem bezaubernden Süßholzgeraspel einer unbekleideten Frau, ihre Haut auf der seinen, konnte Sam nicht ewig widerstehen. Und als das heiße Geschöpf endlich auf ihm saß ließ er sich gehen.

„Komm, du Botschafter von Ichweißnichtwas, gib mir was ich brauche – und flüstere mir ganz nebenbei, was ihr, du und deine Mitverschwörer, vorhabt“. So begann das Verhör. Aber beim letzten Wort wurde der Hauptkommissar wieder durchsichtig. Seine Haut verwandelte sich in eine Membran aus Zellophan. Muskeln und sogar Knochen schienen durch. Grauenhaft groß lagen seine Augäpfel in ihren Höhlen und starrten die reitende Amazone an. Dann flimmerte Sams gesamte Gestalt wie eine schlechte Fernsehübertragung.
„Wie machst du das?“ brüllte Ljubov. „Oder bin ich jetzt auch verrückt geworden?“ Seit der Ankündigung von Sam Gleichs Abreise aus der realen Welt dieses Kontinuums waren 8 Stunden vergangen. 16 standen noch aus.

Die reitende Amazone mit den breiten Schultern und den kleinen Brüsten verschwand aus Sams Gesichtsfeld. An ihrer Stelle tauchte ein Strudel aus Bildern auf, in deren Mitte Gaya, die Mutter Erde, rasend schnell kleiner wurde. Am Äquator färbte sich etwas rot. Ein Riss bildete sich, der Riß öffnete sich, Gaya verschwand und der Riss sagte, zu einem Mund geworden: „Dir gefällt wohl nicht was wir hier treiben, was? Bist Besseres gewöhnt, wie?“

Kaspar Gleich, der begnadete Ermittler, schnappte nach Luft. Wie lautete seine neueste Erkenntnis? „Wer sich selbst nicht leben kann, der kann auch keinen andern überzeugend leben - also, spiel dir nichts vor, denn deine Aufgabe ist es so viel wie möglich zu begreifen“. Dieser Gedanke gab ihm Kraft und er versuchte Ljubovs Stöße zu erwidern. Gleichzeitig meinte er trocken: „Ich kann dir nichts verraten, was euch weiterhelfen würde, weil ich im Grunde nichts Genaues weiß“.

Mit dem letzten Blitzschlag des nun herangekommenen Unwetters setzte wolkenbruchartiger Regen ein. Und mit dem Regen kam Ljubov! Sie zelebrierte den ungewöhnlichsten Orgasmus, den Sam je selbst erlebt oder im Kino gesehen hatte. Zuerst war ihr beschleunigter Atem zu einem gurgelnden Keuchen angeschwollen, das sich eine lange Minute später in einem ekstatischen Schrei entlud. Und mit dem Schrei kamen die Tränen. Unter heftigen Zuckungen quoll der ganze Hass, die ganze Abscheu einer enttäuschten Frau vor sich ( ihrem Versagen ) und der Welt aus dem einzig Schönen, das Ljubov Turischtschewa, die Sonderbeauftragte des PÜV, vorzuweisen hatte: aus ihren hellblauen Augen. Wahre Ströme der salzigen Flüssigkeit ergossen sich auf die Brust des Kommissars, denn dort lag der Kopf seiner Amazone, die völlig zusammengebrochen war. Ihr Kampfgeist hatte sie verlassen. Ihre ganze Autorität war entmachtet. Zeigte sie jetzt ihr wahres Gesicht? „Verzeih mir“, würgte sie hervor. „Iihich kann nichts dafür“, jammerte sie. „Morgen bekomme ich meine Periode!“ schrie sie. Und: „Da mache ich immer alles falsch“.

Der Ermittler von Gottes Gnade sah sich schuldbewusst um. „Was kann ich nur für dich tun?“ erkundigte er sich, denn er war sich absolut sicher, auch irgendetwas zu Ljubovs depressivem Anfall beigetragen zu haben. Womöglich traf ihn sogar die ganze Schuld.
„Nichts“, schluchzte sie. „Du kannst nichts tun. Ich bin selbst schuld. Überhaupt begehe ich nur noch Fehler“.
Ströme von Mitleid überfluteten das sensible Herz des Chefs der Mordkommission von Münchhausen. Er dachte an Murtl, seine resolute und einsilbige Frau. Von ihr kannte er dergleichen nur in Ansätzen. Allerdings hatte Murtl nie Zeit für Gefühlsausbrüche gehabt. Sie war meistens gerade schwanger oder in Not oder beides zusammen gewesen. Ein leichtes Leben führte sie nicht. Der Unterhalt, den sie von Sam für sich und die lieben Kleinen bekam, reichte nur für das Nötigste. Das Zubrot das sie als Nutte verdiente änderte daran nicht viel. Die Freier konnten, des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs wegen, immer weniger bezahlen. Ihre Geschlechtsgenossin, die momentan mit ihrem Ehemann das Lotterbett hütete, erhielt dagegen jedes Jahr eine Gehaltsaufbesserung. Sie konnte auf eine beeindruckende Karriere verweisen und näherte sich dem Gipfel aller ihrer beruflichen Träume: Sie wollte Weltmoralpräsidentin werden, die oberste Instanz aller Kontrollausschüsse für Partyservice, Funk, Film und Fernsehen. Die besten Voraussetzungen dafür besaß sie seit ihrer Geburt: Ein hohes Maß an schauspielerischer Flexibilität und keinerlei Respekt vor Personalautoritäten – vor Leuten mit glänzendem IQ und vielseitiger Begabung. Jetzt war sie 46 und wenn es ihr gelänge Kaspar Gleich als Rädelsführer einer hochbrisanten subversiven Vereinigung zu entlarven, wäre ihr der Posten so gut wie sicher.

„Es ist sinnlos, mein Gott, es ist sinnlos“, raunte der Hauptkommissar. Seine letzten Ermittlungsergebnisse gefielen ihm absolut nicht. Zumindest waren sie völlig privat: Er musste sich eingestehen überhaupt keinen echten Bezug mehr zur Realität herstellen zu können.

Müde schlüpfte er in seine Klamotten, die zusammen mit der Kleidung dieser eigenartigen Frau einen unordentlichen Haufen bildete. Nach einer Weile hatte er sich aber das Seine zusammengesucht. Je mehr er sich bekleidete, desto schlimmer steigerte sich Ljubov in ihren Anfall hinein, der immer mehr wie der Beginn – oder der wiederholte Ausbruch? – einer schweren psychischen Krankheit aussah. Nach einer kleinen Weile schloss er leise die Türe hinter sich. Er machte sich auf und davon! Als er das Treppenhaus erreicht hatte, hörte einen Schuss. Sie wird sich doch nicht etwa...? fuhr es ihm durch den Kopf. Dann hörte er noch einen Schuss und noch einen. In das Schießen mischten sich schrille Schreie. Kam der Radau von der Straße, bahnte sich dort eine Unruhe an, oder konnte wirklich ein Mensch alleine derart randalieren? Sam, der schon zurückgehen wollte, drehte sich um und entfernte sich mit großen Schritten. Er wählte das Treppenhaus, das offensichtlich zur Galerie umfunktioniert worden war. Dort konnte er noch einmal eine ganze Anzahl brauner Bilder bewundern. Unten schüttelte er den Kopf.

Ein beinahe heiliger Frieden lag über der Stadt – zusammen mit einer schwefelfarbenen Rauchwolke des Großbrandes, der immer noch nicht unter Kontrolle war. Der Tumult auf der Straße hatte sich aufgelöst. Oder hatte es niemals einen gegeben?

Sam ging zu Fuß zu seinem „Verschlag“, wie er sein Appartement nannte, das direkt im Stadtzentrum, unweit des Bahnhofs, am Madonnenplatz lag. Sein etwa 12 qm großes Wohnschlafzimmer und das 2 qm große Bad erwarteten ihn wie eine Insel der Seligen.

Der schon etwas stumpfe Badezimmerspiegel präsentierte ihm ein bartstoppeliges Weltenbummlergesicht mit verschlafenen Augen. Seine Erschöpftheit konnte er nicht mehr verbergen. Nicht einmal die makellos glatte Oberfläche des anderen Gesichts hinter dem seinen vermochte darüber hinweg zu täuschen. Große, schwarze Pupillen, die ganze Augenhöhle füllend schauten ihn an. „Komm mit“, sagte oder dachte es leise. „Das ist der Wahnsinn“ antwortete der bartstoppelige Weltenbummler und raufte sich die Haare. Das war ja nicht mehr auszuhalten. Tränen liefen über seine Wangen. Irgendwo daneben, dazwischen ( zwischen den beiden, sehr verschiedenen Kreaturen im Spiegel ), stand Hauptkommissar Kaspar Gleich, genannt Sam, der Im Begriff stand sich aufzugeben. Wie ernst konnte er sich noch nehmen? Ein vehementer Schwächeanfall zwang ihn zu Boden. Erfüllte sich die Offenbarung, daß er sich binnen kurzem auflösen würde, nun doch? Wenn ja, dann blieben ihm noch 11 Stunden.

Mit letzter Kraft zog sich Sam zu seinem Bett hinüber, wo er sofort in einen tiefen Schlaf fiel. Mit dem Schlaf kamen, ganz intensiv, die Träume. Eingangs ihrer langen Kette verrichtete ein Mann seine Arbeit. Und der Mann beobachtete sich selbst dabei. Aufgeregt kam Inspektor Greifzu ins Büro und berichtete... Das war vor 20 Jahren gewesen. Eine Szene aus der jüngeren Vergangenheit ließ ihn aus – im Traum vertrauten Augen - sehen: auf Füße! Sie ragten aus einer Röhre heraus und gehörten zu einem Körper, der sich gerade einer peinlich genauen Untersuchung unterziehen musste. Mitleid und Wärme überfluteten sein gütiges Herz und er spürte, daß er lächelte. Dann hörte er sich freundlich denken: „seien sie hier willkommen, Sam“. Um ihn ertönte dezente Musik aus einer virtuellen Zone.

Die Anstrengung über eine große Entfernung mit dem Besitzer der Füße in Kontakt zu treten war groß. Er fühlte sich wie durch die Grenzen einer anderen Wirklichkeit von seinem Gesprächspartner getrennt. Es roch ein wenig wie nach verbranntem Fleisch... Gleich darauf lag der, für Mütter so verführerische Babygeruch, in Verbindung mit Reinigungs- und Arzneimitteln, in der Luft: Eine Entbindungsklinik. Sams Geist raste durch die Korridore und stoppte schlagartig vor einem Operationstisch. Ein grün gekleidetes Menschenwesen mit Mundschutz hielt ein blutüberströmtes Bündel in der Hand, das noch immer über einen Schlauch mit einem Kadaver verbunden war. Eine Kaiserschnittgeburt. Die Mutter war soeben verstorben. Rechts daneben schwebte ein Ballon aus orangefarbenem Licht. Der Ballon flimmerte wie eine schlechte Fernsehübertragung. Erkennbar wurden jedoch einige überintelligente Insekten und ein Fisch, die über die Zukunft von Gayas Kindern konferierten.

„Aus gutem Grund haben wir sie soweit gebracht“, dachte eines der Insekten. „Doch jetzt ist es besser ihre Ausbreitung im Universum zu verhindern. „Der Schaden durch ihre Instinkte, wie Eifersucht und Rivalität wäre entschieden zu groß“.
Der Fisch blähte die Backen. „Wir brauchen sie nur in ihren Neigungen zu bestärken...“ blies er mehr als er sagte.
Vor Schreck kam Sam kurz zu sich. Sein Zimmer erkannte er aber nicht mehr. Ihn umgab das Gewitter der Agonie. Die orangefarbene Blase verschluckte ihn. Das Neugeborene verschwand. „Wir werden einen Botschafter und einige potente Mitarbeiter brauchen, die den bestimmenden menschlichen Grundeigenschaften Geburtshilfe leisten. Ihre tiefsten Wünsche sollen vermehrt in Erfüllung gehen. Wir übertragen die von ihnen unidentifizierbare Macht ihres kollektiven Unbewussten ( UHU ) in die Wirklichkeit. Und am Ende darf es keine Lügen mehr geben. Wenn sie erkennen wie sie im Grunde sind, werden sie sich, vor die Wahl gestellt, in der Mehrzahl für ihre einfachen Antriebe entscheiden“...
Hauptkommissar Gleich, der für eine Sekunde ganz unsichtbar wurde, materialisierte sein Skelett wieder auf der Matratze, blieb jedoch ohne Besinnung.

500 m Luftlinie von Sams Lager entfernt taumelte Zuffi durch die Straßen, die jetzt in regem Verkehr lärmten. Viele Leute machten sich auf den Weg zum brennenden Slumhügel, andere versuchten - einen Weltuntergang vorausahnend – ihre Habseligkeiten aus der Stadt zu befördern. Inspektor Greifzu fand das ausgesprochen lustig. Immer noch den Tanzschritt der Polonaise in den Beinen, sang er „tschackatschackatam, tschackatackatam“. Am liebsten hätte er neue Tanzgruppen gebildet. Aber die vielen Verkehrsteilnehmer waren zu sehr mit der Befriedigung ihrer momentanen Bedürfnisse beschäftigt. Sie nahmen ihn kaum wahr. Von Zeit zu Zeit gelang es ihm jedoch, sich einen der Passanten herauszugreifen und zu küssen. Erstaunlicherweise versuchte er dabei vorzugsweise Frauen zu ergattern. Doch sein Ziel lag nicht im Küssen, er wollte seinen Freund und Vorgesetzten Kaspar Gleich einen Besuch abstatten. Es gab etwas überaus Wichtiges mitzuteilen: Ich habe eine Erscheinung gehabt. Das wollte er Sam gestehen. Zuffi war sich sicher Zeuge eines Prozesses geworden zu sein, der gewöhnlich nur abstrakt, als schriftliche Botschaft, mitzuverfolgen ist: Einer göttlichen Offenbarung. Das Schicksal höchstpersönlich, so meinte er, habe ihm ein Zeichen gegeben, indem es zwei Übeltäter zu leuchtenden Fanalen eines Lebensgefühls machte, das vielen nur aus ihren heimlichen Tagträumen bekannt ist. Und in Anbetracht seines Geisteszustandes war es erstaunlich, daß er damit unbedingt recht hatte. Der reinen Intuition folgend vermutete er Sam zu Hause. Doch damit hatte er nur bedingt recht.

Als er an Kaspars Wohnungstüre ankam – und sogar den, ihm zu treuen Händen überlassenen, Nachschlüssel in der Hosentasche fand, ging er ohne Umschweife hinein. Hauptkommissar Gleichs Deckenlampe schien einen Wackelkontakt zu haben, denn im Zimmer wurde es abwechselnd hell und dunkel. „Hey, altes Haus“, rief Zuffi erfreut, „heute hast du aber wa.....“ Er stutzte. „Was soll das, du bist ja noch verrückter als ich“, staunte er und suchte schleunigst das Weite. Denn auf dem Bett ging Sams helle Gestalt wie eine Glühbirne mal an, mal aus. Mal war er da, mal nicht. Inspektor Greifzus Verstandesreste erwiesen sich als in keiner Weise geeignet eine solche Denksportaufgabe zu bewältigen.

Inzwischen erläuterte ein gespenstischer Informant, der von jenseits allem Erfahrbaren kam, Sam, daß er für seine Aufgabe als Hauptkommissar nur einen Bruchteil seines Verstandes gebraucht habe. Die überwiegende, freie Kapazität seines Geistes sei immateriell, als Energiezustand, unterwegs gewesen. Möglich sei dies durch seine Transformation hier, in einer fernen Galaxis geworden. Im Kontinuum „Milchstraße“ habe sich seine Identität schließlich geteilt. Das weitaus größere Gewicht seiner Persönlichkeit sei nicht in den hiesigen Zeitablauf integrierbar gewesen. Die Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit um ein Vielfaches, während seiner Anreise, habe ein Übriges dazu getan seine Scheinschizophrenie zu gewährleisten. Eine komplette Anpassung sei also gar nicht denkbar gewesen. Seine Doppelexistenz war geplant. So konnte er einerseits – unter Beibehaltung seines alten Wissens – einfache, menschliche Erfahrungen erringen und andererseits die eingeborenen Individuen bei ihrer kreativen Selbstfindung unterstützen. Die Bekennerbriefe seien nichts weiter als der Ausdruck seines, für hiesige Verhältnisse, phänomenalen Durchblicks gewesen.

Stunden vergingen in dieser quälenden Zerrissenheit in der Kaspar Gleich manchmal den einen, den irdischen, manchmal den anderen, den außerirdischen Kaspar verkörperte, dann erschien riesengroß – wie auf einer Filmleinwand – eine Zahl vor seinen Augen, deren Blickfeld ohnehin nur mehr eine Art Filmleinwand war:
10!
Gleich darauf erhöhte sich die Menge der auf ihn hereinstürmenden utopischen Visionen erheblich. Im selben Maß wurden sie, für Normalsterbliche, unverständlicher.
„Was tust du da?“ sagte eine Blondine neben ihm im Bett, als Sam sie, mit Augen und Händen, eingehend betrachtete. Die Dunkelhaarige lachte. „Ich ermittle“ antwortete er wahrheitsgemäß und frech. „In Sachen Lebenslust“...
„Wir haben eine Verpflichtung, allem intelligenten Leben gegenüber“ dachte er, zu seinen Helfershelfern gewandt, die mit großen, schwarzen Augen zu ihm aufblickten. Es gibt hier sehr viele Fortpflanzungsgemeinschaften, unendlich viele Erbinformationen. Auf diesem Planeten dreht sich – im intelligenten Bereich der Schöpfung - alles nur um die kleinkarierte Besitzstandsvermehrung innerhalb von Paarbildungen...
„Halte dich ran, du hast keine Freunde“, belehrte ihn sein Vater...
Es erschien die Ziffer:
9!
„Hab keine Angst, deine 24 Stunden sind vergangen“. Weiche Gesänge aus dem Nirgendwo umgaben ihn sanft. Musik, wie die aus dem Kernspintomographen drang an sein Ohr. „Wo ist meine Mutter?“
8!
„Deine Mutter ist unsere Mutter, wir haben in der Regel kein Geschlecht. Bei uns gibt es nicht Eifersucht und Rivalität“. Sam konnte die Wesen bereits sehen, die mit seiner zweiten Identität Kontakt aufnahmen...
7!
Jetzt schwebte er frei im Raum. Hinter ihm sah er seine irdische Mutter in einem Meer aus Blüten verschwinden, vor ihm kam das Licht einer futuristischen Halle auf ihn zu...
6!
„Es ist von der Sonne gespeist und wird von der Außenhaut bis in die tiefsten Winkel geleitet. In der Produktionsstätte der Nahrungspilze ist es gedämpft“.
5!
„Wir werden geliebt weil wir außer Konkurrenz lieben. Aber unsere Liebe ist eine andere: wir fördern uns gegenseitig“.
4!
Die ungeheure Geschwindigkeit in die sich Kaspar Gleich, das Wesen aus einer anderen Welt jetzt versetzt fühlte, raubte ihm alle Kraft noch etwas deutlich zu empfinden.
3!
„Ahhhhhhh!“ Hier, zwischen allen Dimensionen, im Überraum, konnte er/es sich nur noch dem Willen einer ...
2!
...immer bekannter werdenden Technik fügen.
1!
Dann schoß er auch körperlich auf ein Sternensystem zu, in dem es mehrere blaue Planeten gab.
0!

Zuffi, der sich aus intuitiven Gründen, oder aus denen seiner geistigen Verwirrtheit entschlossen hatte, doch noch einmal umzukehren, wunderte sich über alle Maßen. Was ich gesehen habe kann doch nicht mal ein Irrer glauben, hatte er sich gesagt.
Gerade, als er Hauptkommissar Kaspar Gleichs Appartement betrat, hörte er ein Geräusch wie von einer Zentrifuge. Dann sah er etwas, was er unmöglich gesehen haben konnte: Ein lebendiger Mensch löste sich in Luft auf! Und gleichzeitig roch es ein wenig nach verbranntem Fleisch.
Auf Sams Bett schimmerte eine seltsame Substanz durchsichtig und grünlich.
Bei der späteren forensischen Untersuchung im Kriminaltechnischen Institut ergab sich, daß es sich um das handelte, was jeder Mensch, während seiner ganzen Reise durch das Leben, mit sich trägt. Es war in etwa die Gesamtsumme aller bakteriellen Parasiten und Krankheitserreger, die sich tagtäglich zwischen unseren Zellen und in ihnen bewegen: Eine stattliche, trüb-durchscheinende Masse, die ungefähr 6,66 kg schwer war und aussah wie

Götterspeise.


Nachlese


Auf ihrer Reise durch das Universum, welches sich immer noch ausbreitet, durchmisst Gaya, die wunderschöne Mutter Erde, alljährlich viele Millionen Kilometer. Dabei macht sie Erfahrungen. Mit uns reift sie zu einem Ort höchster Erlebnisenergie heran, die auf ihren Erfahrungen beruht. Und durch uns entwickelt sie Geschicke und Geschicklichkeiten, die in den unendlichen Weiten, in denen sie ein Staubkorn ist, sicherlich einzigartig sind. Die Bedeutung jeder einzelnen Individualreise darf also nicht unterschätzt werden. Milliarden Reiseberichte gehen im Zeitverlauf ein, der sie auf die große Rolle gesammelter Eindrücke hinter den Sternenhimmel schreibt. Von dort aus gelingt es Zukunftsprogramme zu entwerfen an denen etwas ganz Wesentliches von uns aktiv mitgeschrieben hat: Unsere Fähigkeit Positives zu wollen. Was es letztlich genau war, wird es, in seinem vollen Umfang, immer für uns sein...
Aber lassen wir dem, für unser Empfinden, virtuell gewordenen, Geist Kaspar Gleichs, dem begnadeten Ermittler, Hauptkommissar der Mordkommission von Münchhausen, genannt Sam, die letzten Worte. Was würde er uns, mit verschmitzten, schwarzen Augen aus seinem Kontinuum wohl herübergerufen, herübergedacht haben? Nun, vielleicht hätte er sich, um besser verstanden zu werden, einen unserer großen Dichter zum Vorbild genommen und gemeint:


Ein langes Band aus Zeitabschnitten
hat deine Seelenkraft durchglitten
und deine Botschaft ist zu lesen –
du bist du selbst, ein „Ich“ gewesen.


© Alf Glocker


2 Lesern gefällt dieser Text.



Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Reisebericht Erde 3. / fsk 18"

Re: Reisebericht Erde 3. / fsk 18

Autor: noé   Datum: 10.02.2014 23:38 Uhr

Kommentar: Hi, Bruderherz,
dies war - für mein Empfinden - der sur-realste der drei Teile Deiner Erzählung. Man muss sich schon darauf einlassen. Auf den Text, meine ich.
So werden also nur einige Wenige zurück-transformiert, einige schon verher Auserwählte und nicht für zu leicht Befundene, die danach wieder mit den restlichen 90 Prozent ihres Geistes wiedervereint werden?
Soll man es sich nun wünschen, zu diesen wenigen Auserwählten zu gehören - oder tanzt man besser hier den Totentanz?
BiSi

Re: Reisebericht Erde 3. / fsk 18

Autor: Alf Glocker   Datum: 11.02.2014 7:40 Uhr

Kommentar: Am besten man tanzt irgendeinen Tanz. Die Musik ist vorgegeben...
CrazBro

Kommentar schreiben zu "Reisebericht Erde 3. / fsk 18"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.