Kurven - Physik mit Emotionen

© Wolfgang Sonntag

Die Sonne stand schon ziemlich tief, als ich am Ortsschild Dorfausgang eines Nachbarorts vorbei zischte. Aber nicht so tief, dass ich meine defekte, aber mit Sekundenkleber fixierte Sonnenblende hätte aktivieren müssen. Noch den Frust der Hinfahrt im Balg, als sich an dieser Stelle Lkws und Pkws den Berg hoch quälten, braute sich was in meinem Hirn zusammen: Motor und Reifen auf Betriebstemperatur, Reifen wenig Profil (nur Slicks wären besser), Tank fast leer, Straße trocken, kein Auto vor mir, kein Gegenverkehr. So eine Chance bekomme ich nie wieder.

Mit nervösem Zeigefinger der rechten Hand fuchtelte ich auf dem Armaturenbrett herum, bis ich endlich die Sport Plus Taste gedrückt hatte. Als Quittung schaltete mein gelbes Monster (sein Spitzname) gleich mal zwei Gänge runter und schlenkerte kurz mit dem Hintern und gab mir damit einen Klaps auf meinen, als wenn er sagen wollte: Hey Alter, es gibt dich noch, fein. Komm, lass es uns den Kurven da unten im Tal besorgen.

Gesagt, getan. Er wartete schon mit einer moderaten Drehzahl auf mich, die 310 Pferde aber noch im Zaum. Das Fahrwerk jetzt knochenhart, als hätte jemand Splinte quer durch die Stoßdämpfer geschoben. Mit der rechten Hand ein Griff zum Gurt, mit aller Kraft gestrafft und mit dem rechten Fuß... Kickdown. Dann endlich dieses in letzter Zeit viel zu selten erlebte Szenario. Hinter mir die Mischung aus Kreissäge und brüllendem Löwen, vor mir die immer schmaler werdende Straße. Der lückenlose Beschleunigungsdruck bereitete mir Atemnot. Oder war es diese Mischung aus Spaß, Leichtsinn, Vernunft, Angst und Vorsicht? Egal, es war gerade in dieser leichten Linkskurve vor der Serpentine der Punkt an mir vorbeigerauscht, wo ich normalerweise durch scharfes Anbremsen mir die erste 90° Rechtskurve zur Brust nehme. Und? Ach, nur noch ein paar Zehntel, wer später bremst, hat länger Gas. Ich hatte sogar noch einen Hauch von Zeit auf das Tacho zu schauen: 147 … einhundertsiebenundvierzig … persönlicher Rekord an dieser Stelle, aber da ging noch was, doch ich hatte Muffensausen. Dann, die Bremsen, noch brachialer als die Beschleunigung. Genug, genug, ich brauchte ja noch Dampf für mein Untersteuerungs-Spielchen.

Er lief wie auf Schienen durch die erste Kurve mit einer Zentrifugalkraft, wo andere Autos schon den Notausgang benutzt hätten, kein Singen der Reifen, keine Hilfe der Elektronik, aber auch leider kein Untersteuern über die Vorderräder. Enttäuscht murmelte ich den berühmten Satz vor mich hin, den andere in meinem Leben oft zu mir sagten: Wolfgang, du bist zu langsam. Um dieses Manko zu kompensieren gab ich sofort mächtig Gas. Oh fuck, zu viel. Der dicke Arsch schwenkte raus und die Elektronik rettete mir den Selbigen. Ein beherzter Tritt auf die Bremse beruhigte die ganze Hüpfburg. Dann hinein in die 180° Linkskehre, im Zenit gefühlvoll aufs Gas. Vorsicht, nicht so stark driften, die Leuchtpfähle sind sehr hart. Mit einem Blick auf's Tacho könnte ich auf die Kacke hauen, aber leider kein Auge frei. In der 115° Rechtskurve im Auslauf des Geschlängels konnte ich meine aufgefrischten Erfahrungen nochmal umsetzen. Zum Ausklang rauschte rechts das 70er Schild an mir vorbei. Voll in die Eisen. Mein nächster Gedanke: Bei Gelegenheit wenden und das Spielchen nochmal? Das ABS knurrte mich an: Alter, es reicht jetzt. Lass das Erlebte erst mal sacken. Außerdem hast du keine Ersatzunterhose dabei.

Mit einem breiten Grinsen streichelte ich über das Wappen mitten auf dem Lenkrad und dachte: Bisher habe ich in meinem Leben doch einiges richtig gemacht.


© Wolfgang Sonntag


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Kommentare zu "Kurven - Physik mit Emotionen"

Re: Kurven - Physik mit Emotionen

Autor: Varia Antares   Datum: 08.07.2019 20:12 Uhr

Kommentar: Das ist mal eine Landschaft. Da macht das Autofahren bestimmt Spaß. :D

Gut geschrieben!

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