Lotte:
Das Öffnen der vielen Geschenke gefiel mir schon immer am besten. Auch heute zittern mir wieder ein bisschen die Finger, als ich das Geschenkpapier vom ersten Geschenk aufreiße. Unter hellblauen Papier verbarg sich eine große, bauchige Kaffeekanne. Ich nahm sie vorsichtig in die Hand.
Sie war weiß mit einem kitschigen Rosenmuster, das sich über die ganze Teekanne hinweg zog. Das konnte nur ein Geschenk von Gertrude, meiner Schwiegermutter, sein.
„Ach, Gertrude. Das wäre doch nicht nötig gewesen.“, sagte ich und setzte ein gespieltes Lächeln auf.
„Ich wusste, dass sie dir gefallen wird, mein Liebes. So ein edles Stück ist etwas ganz Besonderes. Durch ihre besondere Fertigung hält sie Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte, wenn man vorsichtig mit ihr umgeht.“, erklärte sie lächelnd.
Jahrzehnte… Ich hatte schwer zu schlucken.
Gerade wollte ich sie vorsichtig wieder auf dem Geschenketisch abstellen, da verkrampfte sich plötzlich meine Hand. Mit einem kläglichen Aufschrei ließ ich die Kanne fallen. Sie zersprang auf den harten Fliesen in viele tausende Einzelteile. Entsetzt starrte ich auf die Scherben.
„Gertrude, ich… Es tut mir Leid… Ein Krampf“, versuchte ich mich zu erklären.
Ein Raunen ging durch die anwesenden Gäste. Die Augen meiner Schwiegermutter taxierten mich unentwegt.
„Du hättest sie nicht gleich kaputt machen müssen.“, schnaubte meine Schwiegermutter. „Dass sie dir nicht gefällt, habe ich wohl gesehen. Deswegen zerstört man sie doch nicht gleich. Ich erwarte eine Entschädigung!!“
Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Haus. Man hörte einen Motor aufheulen. Und dann war alles still. Ich starrte erneut auf die Scherben.

Schwiegermutter:
Gertrude sah lächelnd ihrer Schwiegertochter dabei zu, wie sie das hellblaue Papier aufriss und die schöne Kaffeekanne aus der Verpackung hob, die sie, Gertrude, eigenhändig ausgesucht hatte.
Sie konnte den freudigen Ausdruck in den Augen Lottes kaum erwarten. Als sie so alt war wie Lotte, hatte sie auch so eine von ihrer damaligen Schwiegermutter bekommen. Noch heute war sie in Gertrudes Besitz und stand fein säuberlich in der Vitrine.
Der freudige Ausdruck in Lottes Augen blieb aus. Viel mehr sah sie eine große Leere, gar Verachtung. Das schockierte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Sie hatte doch extra ihren Sohn gefragt, ob sie Lotte denn wirklich so eine Kanne schenken sollte. Dieser hatte eifrig bejaht.
Höflich wie Lotte eben nun einmal war setzte sie ein Lächeln auf.
„Ach Gertrude, das wäre doch nicht nötig gewesen.“, sagte sie langsam.
Den Anschein wahrend, dass sie glaubte, Lotte würde das Geschenk gefallen, erklärte sie: „Ich wusste, dass sie dir gefallen wird, mein Liebes. So ein edles Stück ist etwas ganz Besonderes. Durch ihre besondere Fertigung hält sie Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte, wenn man vorsichtig mit ihr umgeht.“
Lotte schien dies auszureichen und wollte das Thema beenden. Gertrude schaute zu ihrem Sohn hinüber und funkelte ihn böse an.
Plötzlich war ein lautes Klirren zu hören. Gertrude drehte ruckartig den Kopf und sah, wie ihre Schwiegertochter über einem Scherbenhaufen stand. Wut stieg in ihr auf. Wie konnte Lotte es nur wagen, so ihr teures Geschenk zu behandeln.
„Gertrude, ich… Es tut mir Leid… Ein Krampf“, versuchte sie sich zu erklären.
Ein Krampf. Gertrude glaubte diesen Schwachsinn nicht einen Augenblick. Lotte hatte bloß ihr Geschenk nicht gefallen und hatte es sich einfach ganz schnell vom Hals geschafft. Um Ausreden war ihre Schwiegertochter ja nie verlegen!
„Du hättest sie nicht gleich kaputt machen müssen.“, schnaubte sie. „Dass sie dir nicht gefällt, habe ich wohl gesehen. Deswegen zerstört man sie doch nicht gleich. Ich erwarte eine Entschädigung!!“
Gertrude erhob sich, ging schnurstracks aus dem Haus und setzte sich in ihren Wagen. So etwas ließ sie sich nicht bieten. Das hatte sie gar nicht nötig. Sie ließ den Motor aufjaulen und fuhr davon.


Lottes Ehemann:
Da stand meine Frau inmitten der Scherben. Meine wutentbrannte Mutter starrte sie ohne Unterlass an. Wie hatte Lotte das nur tun können? Wir waren uns doch einig gewesen, dass wir alle Geschenke meiner Mutter sicher im Keller verstauen und nur ans Tageslicht holen, wenn sie zu Besuch käme. Es konnte doch nicht sein, dass sie meiner Mutter jetzt so das Herz zerbrach.
Als meine Mutter davon stürmte, wollte ich eigentlich hinter ihr her, aber dann dachte ich an Lotte und ich hatte mich entschieden bei ihr zu bleiben.
Ich war traurig, dass Lotte so gehandelt hatte, denn eigentlich kannte ich sie ganz anders.

Der auktoriale Erzähler:
Mit zittrigen Fingern packte Lotte das Geschenk ihrer Schwiegermutter aus, welches in hellblaues Geschenkpapier gehüllt war.
Ihr Lächeln erstarb, als sie die kitschige Teekanne mit ihrem bauchigen Design erblickte. Die Schwiegermutter fand einfach nie das passende Geschenk. Um den Anschein zu waren, dass ihr das Geschenk gefiele, setzte sie wieder ein Lächeln auf und überspielte ihre Enttäuschung geschickt.
„Ach Gertrude, das wäre doch nicht nötig gewesen.“, sagte sie langsam.
Gertrude, der Schwiegermutter, war jedoch schon aufgefallen, dass sie mit dem Geschenk nicht die richtige Wahl getroffen hatte. Sie hatte zwar ihren Sohn um Rat gefragt, doch der hatte anscheinend auch nicht den richtigen Riecher, wenn es um seine Frau ging. Den bösen Blick, den Gertrude ihm zuwarf, nahm er kaum zur Kenntnis.
Den Anschein wahrend, dass Gertrude glaubte, Lotte würde das Geschenk gefallen, erklärte sie: „Ich wusste, dass sie dir gefallen wird, mein Liebes. So ein edles Stück ist etwas ganz Besonderes. Durch ihre besondere Fertigung hält sie Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte, wenn man vorsichtig mit ihr umgeht.“
Lotte wollte dieses Thema schnell abschließen, um sich nicht doch noch irgendwie in Erklärungsnot oder Verlegenheit zu bringen und wollte die Kanne auf dem Geschenketisch abstellen, um das nächste Geschenk zu öffnen. Ihre Hand verkrampfte sich jedoch, ausgelöst durch das Gewicht der Kanne, und die Kanne fiel zu Boden.
Sie zersprang in Tausende von Teilen. Es wäre unmöglich, sie wieder zusammenzusetzen.
Erschrocken starrte Lotte auf die Scherben und sah, was sie angerichtet hatte. Den Blick ihrer Schwiegermutter konnte sie förmlich spüren.
„Gertrude, ich… Es tut mir Leid… Ein Krampf“, versuchte sie sich zu erklären.
Lottes Worte kamen bei der Schwiegermutter nicht an. In ihr loderte die Wut. So viel Mühe hatte sie sich mit diesem Geschenk gegeben und nun warf ihre Schwiegertochter, ihre eigene Schwiegertochter, sie einfach auf den Boden, nur, weil sie ihr nicht gefiel.
„Du hättest sie nicht gleich kaputt machen müssen.“, schnaubte sie. „Dass sie dir nicht gefällt, habe ich wohl gesehen. Deswegen zerstört man sie doch nicht gleich. Ich erwarte eine Entschädigung!!“
Gertrude stand auf und lief hinaus. Ihr Sohn wollte eigentlich hinter ihr her, ließ es aber dann doch bleiben. Ihn verunsicherte diese Situation. Er wollte seiner Frau gerne glauben, dass ein Krampf Schuld an diesem Unglück war, doch die Wut seiner Mutter konnte er einfach nicht übersehen. Er sah, wie verloren Lotte da vorne stand und wusste nicht, was er tun sollte. Also, tat er einfach nichts.
Um sie herum, war alles still geworden. Ein Motor heulte auf und man hörte, wie ein Wagen davonbrauste.


© GoldenShadow


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