An der Sitzung am Morgen hatte ich ihn noch, meinen schwarzen Rollerballstift. Ich suche ihn in der Handtasche. Im Aussenfach ist er nicht, auch nicht im Innern der Tasche. Um Gewissheit zu bekommen leere ich den Inhalt der Tasche auf den Tisch. Portemonnaie, Lesebrille, Lippenpomade, Haarbürste, Kugelschreiber, Notizpapier, Schlüsselbund, ein aus einer Zeitung herausgerissenes Sudoku und ein paar Münzen purzeln heraus. Aber keine Spur vom gesuchten Gegenstand. Schreibzeug hätte ich ja, aber der schwarze Rollerball ist mein Lieblingsschreiber. Mit der frei rotierenden Kugel ist er angenehm beim Schreiben, so sanft, geschmeidig und weich zu führen. Und das Schriftbild erscheint entsprechend einschmeichelnd. Es täuscht sogar vor, der Text würde mit der Füllfeder und Tinte geschrieben.

Ich ärgere mich. Wo kann er sein? Während der Zugfahrt habe ich diesmal nichts geschrieben, da bin ich mir ganz sicher. Ob ich ihn liegen gelassen habe? Liegt er noch auf dem Konferenztisch? Nein, das glaube ich nicht. Das kann ich mir nicht vorstellen. Dafür liebe ich meinen Rollerball viel zu sehr! Hab ich ihn beim Einpacken neben die Tasche gesteckt? Ich muss dort sowieso wegen einer anderen Angelegenheit anrufen. Da werde ich gleich meinen Verlust bekannt geben.

Die hilfsbereite Sekretärin schaut sich im Konferenzraum um. Auch unter dem Tisch am Boden hätte sie keinen Stift gefunden, sagt sie.

Ich hintersinne mich, weshalb ich ständig mein Schreibzeug vermisse. Dieser Rollerball ist nicht der einzige Stift, der mir in letzter Zeit abhanden gekommen ist.

Ich ergreife meine Handtasche, um sie wieder zu füllen. Etwas hindert mich, die Tasche zusammenzudrücken. Da muss noch ein Gegenstand in der Tasche sein, den ich beim Leeren übersehen habe. Aber beim Hineingucken sehe ich nichts. Kurzerhand kehre ich das Futter nach aussen. Der vergessene Gegenstand müsste jetzt hinauskullern. Aber nichts geschieht! Was habe ich denn vorhin ertastet? Mit beiden Händen gleite ich über Futter und Leder. Jetzt erspüre ich etwas hartes, kantiges Längliches. Das fühlt sich wie ein Bleistift an. Und da noch etwas rundes, das auch länglich ist. Ein weiteres Schreibzeug? Und noch eines?

Meine Tasche ist ein Monster, das Gegenstände auffrisst! Diese Dinge befinden sich zwischen Futter und Leder. Irgendwo muss ein Loch sein. Ich suche es und werde endlich fündig. An der Stelle, wo zwei Nähte aufeinander treffen, ist das Loch. Es ist zwar klein, aber es genügt wohl, um Teile des Tascheninhalts zu schlucken.

Mit Mühe fingere ich durch dieses Löchlein und kriege etwas zu fassen. Nacheinander befördere ich den ertasteten Bleistift, Büroklammern, Haarnadeln, einige Münzen, zwei Kugelschreiber und endlich auch den schmerzlich vermissten Rollerball zu Tage.

Bei diesem Riesenfund wundere ich mich nicht länger, weshalb ich mit meiner fast leeren Tasche immer so grosses Gewicht mit mir herum getragen habe!


© Pia Koch-Studiger


3 Lesern gefällt dieser Text.





Beschreibung des Autors zu "Hokus Pokus Verschwindibus!"

........hm........... da ist wohl noch ein anderes Schluck-Monster am Werk: wie ich soeben feststellen musste, ist der Schluss der Geschichte auch einfach so: Verschwindibus!! Jetzt habe ich ihn aus der Versenkung ausgegraben.......... sehen, wie lange er bleibt............??

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Hokus Pokus Verschwindibus!"

Re: Hokus Pokus Verschwindibus!

Autor: axel c. englert   Datum: 01.02.2015 18:08 Uhr

Kommentar: Drum spricht man ja vom Taschen – Dieb!
Nicht JEDE ist Hand – Zahm. Und lieb…
(Während Taschen Stifte klauen –
Waschmaschinen Socken stauen…)

LG Axel

Kommentar schreiben zu "Hokus Pokus Verschwindibus!"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.