Kapitel 3 – un petit exercice

Sonntagsbesuche bei Arno und Elise waren selten etwas Erfreuliches. Während Elise mich wie ihren eigenen Sohn behandelte und umsorgte, sah mein Vater Arno seine größte Aufgabe darin mich zu einem ‚echten Mann‘ zu erziehen. Es passte ihm nicht, dass ich nach Maman kam.

Meine engelhafte Maman – wie gerne würde ich doch alles tun, um sie bei mir zu haben. Gerade jetzt, wo ich dringend ihren Rat gebrauchen könnte.

Hier saß ich nun auf einem der altmodischen grau-braunen Cord Sofa und ließ mir von Elise, einer Frau Mitte fünfzig, die allerdings immer noch bildhübsch war, Tee und Plätzchen auf dem kleinen Fernsehtisch servieren. Sie lächelte wie immer und zwinkerte mir zu bevor sie sich hinsetzte.

„Lepidopterologie. Le-pido-pterologie.“, wiederholte mein Vater das Wort, als wäre es eine Krankheit. Er fixierte dabei die ganze Zeit einen Punkt in der Ecke des Raumes knapp unter der Decke.

„Wäre es wenigstens Medizin oder etwas Vernünftiges!“, sah er mich wieder an. Diese Diskussion führten wir jedes Mal, wenn ich bei meinen Eltern war.

„Jetzt lass den Jungen doch!“, hörte ich Elise. Sie stellte sich meistens auf meine Seite, wenn mein Vater Streit anfing. Nur manchmal enthielt sie sich ‚um die Männer mal raufen zu lassen‘, sagte sie mir mal, als wir nach dem Abendessen in der Küche das Geschirr spülten.
„Nimm es Arno nicht übel“, hatte sie damals gesagt, „er macht sich nur Gedanken um deine Zukunft.“
Doch die machte ich mir auch. Ich hatte Angst! Ich hatte Angst das Falsche zu tun und ich hatte Angst das Richtige zu tun und dabei zu scheitern. Ich hatte einfach nur Angst!

„Antoine?!“, Arno starrte mich an. „Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ja, Papa!“, antwortete ich.
„Gut! Dann kannst du mir ja auch erklären, warum du noch nicht Jura studierst! Dein Onkel Bruno hat für dich einen Platz an der Université Lumière Lyon 2 reserviert und…“
„Arno!“, meldete sich Elise zu Worte. „Nicht jeder hat das Interesse und die Begabung sich Gesetze einzuprägen und vor Gericht aufzutreten. Antoine hat ganz andere Leidenschaften! Vielleicht wird aus ihm ja ein toller Wissenschaftler. Du solltest ihn in seinem Vorhaben unterstützen. Er ist dein einziger Sohn und wir haben alle nur ein einziges Leben!“, sie setzte wieder ihr entwaffnendes Elise-Lächeln auf und wollte gerade weitersprechen, als Arno sie unterbrach.

„Erzähl du mir nicht, wie ich meinen Sohn zu erziehen hab!“, schrie er sie an.
„Ich weiß genau, was ich tue. Da lass ich mir von dir nichts reinreden. Du hast ja noch nicht einmal Kinder!“

Sofort verstummte Arno, als er begriff, was er da gerade gesagt hatte. Elise‘ Lächeln verschwand und in ihren Augen lag unfassbare Trauer.
Arno hatte es wieder einmal geschafft einen geliebten wundervollen Menschen auf taktlose Art und Weise zu verletzen.

Elise‘ Augen wurden feucht, doch sie fasste nochmal all ihre Kraft zusammen und lächelte.

„Entschuldigt mich, meine Lieben.“, sagte sie und verließ den Raum.


© Ronia Tading


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