Linie 72


Ich betrete mein Zimmer und schmeiße meine Schultasche in die hinterste Ecke.
Es ist Wochenende. Zum Glück, denn heute war wieder mal einer der Schultage, die einem wie eine Ewigkeit vorkommen. Aber das ist ja nun überstanden, ich drehe die Musik auf und lass mich auf mein Bett fallen. Einfach mal nur entspannen. In Gedanken gehe ich den Tag noch einmal durch, denn abgesehen vom Unterricht war es ein guter Tag. Ich kann Ihnen auch sagen warum ich das so sehe. Ich bin nämlich nun seit einiger Zeit verliebt, dummerweise unglücklich verliebt. Ich bin mir genaugenommen nicht einmal sicher ob sie mich überhaupt mag. Also was auch immer sie erwarten, es ist keine Romeo und Julia Geschichte in dem Sinne, obwohl ich auch nicht sagen kann was es stattdessen ist. Oh man, was bilde ich mir da nur ein, irgendwas muss ich tun, sonst bringen mich meine Gefühle noch um. Ich war vor einiger Zeit schon einmal genauso unglücklich verliebt, was mir dann so ziemlich all meine Lust zu Leben genommen hat, ich hab das dumme Gefühl das hier wäre wieder so, aber es fühlt sich anders an. Vielleicht ist es die Ungewissheit, ich weiß es nicht.
Bevor mich meine ganze Vergangenheit einholt gehe ich zum Schreibtisch und schalte meinen Computer an. Das Thema Liebe verdränge ich sofort wieder. Während er hochfährt suche ich mit der Fernbedienung nach einem Lied, was eventuell meine Laune aufbessern wird. -David Guetta – Where them Girls at-. Etwas entspannter gehe ich jetzt meine Emails durch und gucke ob es bei Facebook was neues gibt, alles was man halt so zu tun hat. Ich werde auf eine Email von einem unbekannten Absender aufmerksam. Als ich sie öffne finde ich nur Zahlenreihen, als wollte mal jemand mit Zahlen statt mit Buchstaben schreiben. Ich versuche mehrmals die Zahlen durch Buchstaben zu ersetzen, kriege jedoch nicht ein einziges Wort zusamengebastelt. Schließlich gebe ich es auf mit meinen Künsten und suche im Internet einfach mal nach Entschlüsselungsprogrammen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen das jemand einfach irgendwelche Emails mit Zahlen verschickt, also war ich neugierig ob es sich nicht doch um etwas sinnvolleres als meine Rätselansätze handeln könnte. Ich werde fündig und lade mir insgesamt drei Programme runter. Nachdem alles installiert ist füge ich die Zahlen ein und gehe auf dekodieren.

1:
woef feion ojuisbfjkn – ioqhdib – oqhwfugbjibsdvu uhqi ougubq
oho ceed – jdsnc jibnwf uicb – oewhf uibvw jih - nwif!

Meine Begeisterung hält sich in Grenzen, soweit war ich ja nun fast schon selbst gekommen. Ich gebe die Zahlen sofort ins nächste Programm ein.

2:
niekshd iah etwfd – sprhksatkn geoj um füijubsdf – es wkemf
linefg zwfnhvoihnw efkn – jjjksdnfkjb jbndf ujbvf – iwfihbu!

Nun gut, ohne auch nur einen Kommentar von mir zu geben füge ich die Zahlen mit schwankender Hoffnung in das letzte Programm ein.

3:
mittwoch steht fest - niemand ahnt etwas – sprengsatz geht
um dreizehn halbe hoch - linie 72 wird zu dem zeitpunkt am
meisten fahrgäste haben – sie werden alle sterben – TOD!


Mit offenem Mund sitze ich vor dem Monitor. Ich weiß nicht was ich davon halten soll...



Ich werfe mein Telefon wütend auf mein Bett. Natürlich wollten die von der Polizei mir nicht glauben.
'Wie blöd muss ein Terrorist sein um einem Zivilisten in einer Email zu schreiben, dass er einen Anschlag plant? Dazu noch eine Nachricht die sich mit irgendeinem Standardprogramm entschlüsseln lässt.', mehr haben sie nicht dazu gesagt.
'Euch Jugendlichen fallen doch auch immer dümmere Witze ein. Wenn du uns ein paar Beweise mehr zu bieten hast, dann meld dich wieder!' Gott, und ich dachte unser Bundespolizeinetz geht heutzutage sofort allen Anzeichen nach. Aber was soll ich tun, es ignorieren? Wenn die Polizei mir nicht helfen will, kann ich selbst auch nicht viel tun. Vielleicht haben sie ja recht und das ist nur ein schlechter Scherz. Ich hoffe mal es ist so. Ich drehe abermals die Musik auf und setze mich an meine Schulbücher. Verdammte Hausaufgaben.





Montag, acht Uhr morgens und ich sitze mit nur halbgeöffneten Augen im Unterricht. Ich konnte das Wochenende über nicht wirklich schlafen, diese Email wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen, noch dazu der ganze Stress den ich mir selbst mache, mit der Schule und mit ... ihr. Ich muss mich wohl durchkämpfen, aber ich freue mich ernsthaft schon auf Unterrichtsschluss.
Endlich stehe ich an der Bushaltestelle und unterhalte mich. Ich habe niemandem etwas gesagt und halte es inzwischen auch selbst eher für einen Scherz. Die Schulzeit hatte mich heute auf andere Gedanken gebracht. Ein Bus hält an der Haltestelle, doch ich beachte ihn eigentlich gar nicht, es ist halt nicht meine Linie. Zufällig sehe ich auf die Anzeigetafel des Busses: Linie 72.
Ich habe nie realisiert welche Linien hier alle halten.
Ich bekomme nichts mehr mit, bin irgendwie paralysiert.
„Wo bleibt denn der Bus? Muss der nicht inzwischen dagewesen sein?“, fragt jemand.
„Nein, es ist erst zwanzig nach eins, es dauert noch nen bisschen, kannst es wohl kaum erwarten nach Hause zu kommen, wie?“, antwortet ein anderer.





Das kann doch alles kein Zufall sein, habe ich dem Schicksal irgendwas angetan? Die ganze Sache lässt mir keine Ruhe, deshalb habe ich im Internet gesucht, wieviele Linienbusse oder Züge die Nummer 72 hatten. Zu meiner Enttäuschung nur der, den ich vorhin gesehen habe. Ich habe noch etwas kontrolliert, da ich den Bus ja noch nie gefahren bin. Er hält in der Nähe von zwei Schulen, an einer um etwa dreizehn Uhr, und dann noch in der Nähe meiner Schule, das würde bedeuten, dass der Bus um halb zwei recht voll sein müsste. Mit trockener Kehle wähle ich noch einmal den Notruf....



Wieder nichts, sie wollen mir einfach nicht glauben, aber was soll ich nun tun? Sie meinten zwar sie würden eine Streife hinschicken und ich habe ihnen die Mail weitergeleitet, aber auf großen Zuspruch bin ich nicht gestoßen. Ich werde wohl morgen einfach mal in den Bus einsteigen, vielleicht glaubt mir ja der Fahrer und er kann die Linie am Mittwoch ausfallen lassen, auch wenn ich an diese Sache ebenfalls nur mit wenig Hoffnung auf Verständnis gehe.




Dienstag, nach der Schule, ich stehe wieder an der Haltestelle und warte auf die Linie 72. Ich habe schon Kopfschmerzen, warum muss sowas ausgerechnet mir passieren? Ich steige in den Bus und muss feststellen, das der Bus wirklich gut gefüllt ist, wenn auch nichts ungewöhnlich wirkt, warum auch? Es ist ja erst Dienstag. Ich sehe mich um, sehe ein paar Schülerinnern und Schüler aus meiner Stufe, und dann sehe ich ... sie ... ich lächle kurz und drehe mich dann schnell weg und starre aus dem Fenster. Wieso ich? Ich sitze in einem vollen Bus von dem ich denke, dass er morgen um diese Uhrzeit explodieren wird. Und sie ist auch da. Das Schicksal will mich wohl total zu Boden kriegen. Mein Schädel brummt wie verrückt. Als der Bus etwas leerer ist gehe ich nach vorne und erkläre dem Busfahrer was ich denke. Er hält mich wohl für komplett bescheuert und schickt mich wieder auf meinen Platz. Warum sollte er mir auch glauben? Mir glaubt ja nichtmal die Polizei. Dann setzt sie sich neben mich, als wäre ich nicht schon durcheinander genug.
„Was gab's denn mit dem Fahrer zu besprechen?“
„Ach weißt du, du würdest mir sowieso nicht glauben...“
„Hmm, wenn du meinst. Warum bist du eigentlich hier im Bus? Ich habe dich noch nie zuvor mitfahren sehen.“
„Naja, das hängt mit dem zusammen was ich dem Fahrer zu erklären versuchte.“
„Na, dann sag mir doch einfach was los ist.“
Sie lacht ... ihr Lachen lässt mich zum ersten mal auch wieder etwas lockerer werden. Ich bezweifle zwar, dass sie mir glaubt, aber ich erzähle es ihr trotzdem.
Nachdem ich meine Geschichte beendet habe, sieht sie mich so komisch an, dass mir das Herz gefriert, sie glaubt mir auch nicht ...
„Ich versteh schon, du glaubst mir auch nicht, wieso auch, der Fahrer und selbst die Polizei wollten mir nicht glauben. Ich will doch nur, dass niemand verletzt wird, insbesondere du nicht ...“, rutscht mir raus.
„Ja ich weiß was du meinst, ich weiß es schon länger, ob es dir hilft oder nicht. Weißt du, ich mag dich auch, vielleicht sollte man sich mal in Ruhe unterhalten, denn offenbar bist du ein sehr zurückhaltender Typ?“
Ich nicke nur, unfähig sie anzusehen. Sie wusste es, hat mir aber doch so oft zu verstehen gegeben, dass es keinen Sinn macht, dass sie mich eventuell nichtmal mag ... Sie ist bereits ausgestiegen, hält mich jetzt wohl für noch durchgedrehter als zuvor, was soll ich nur tun? Morgen ist Mittwoch ...




Mittwoch ...
Mittag ...
Eigentlich habe ich noch Nachmittagsuntterricht, aber im Moment gibt es wichtigeres ...
Ich stehe an der Bushaltestelle ...
Ich sehe sie ...
Zwanzig nach eins ...
Der Bus kommt ...
Sie steigt ein ...
Ich steige ein ...
Ich sehe ständig auf meine Uhr, beobachte das gesamte Geschehen im Bus, achte nicht auf die genervten Blicke der anderen. Ich sehe nichts auffälliges.
13:23 ... Ein Mann im schwarzen Anzug steigt ein und sieht sich um. Er setzt sich ganz vorne hinter den Busfahrer.
13:24 ... An dieser Haltestelle steigen noch ein paar Leute ein die ich nicht kenne, nichts wirkt eigenartig soweit, nur der Mann im Anzug, der sich irgendwie nervös umguckt.
13:25 ... Der Mann bückt sich nach vorn, es sieht so aus als würde er sich die Schuhe zubinden. Schüler steigen ein, der Bus ist zwar voll, aber nicht überfüllt.
13:26 ... Der Mann setzt sich wieder gerade hin, tut als wäre nichts passiert. Ich muss etwas tun, irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht. Ich gehe nach vorne zum Busfahrer, der mich noch von gestern wiedererkennt. Ich flüstere ihm zu, dass alle den Bus verlassen müssen.
13:27 ... Der Mann im Anzug hat mich wohl gehört, denn er tippt mir auf die Schulter und fragt unwissend:
„Was gibt’s denn für ein Problem, junger Herr?“
Ich drehe mich zu ihm um, sehe sein hässliches Grinsen. Und weiter hinten im Bus sehe ich sie, wie sie und mehrere andere Fahrgäste fragende Blicke nach vorne zu uns werfen.
„Ich weiß nicht, aber ich habe das Gefühl, dass etwas mit diesem Bus nicht stimmt und wir besser alle hier raus sollten.“, sage ich absichtlich laut. Die Fahrgäste werden nervös und fangen an sich Sachen zuzuflüstern.
13:28 ... Plötzlich geht alles ganz schnell. Der Mann zieht eine Pistole aus der Tasche und schiesst. Ich spüre stechende Schmerzen in Schulter und Bauch. Der Busfahrer verliert vor Schreck die Kontrolle über den Wagen und setzt am Bürgersteig auf. Da ich so schnell keine Möglichkeit fand mich festzuhalten stürzte ich mitsamt dem Mann mit der Pistole zu Boden. Der Fahrer brachte den Bus schnellstmöglich zum Stillstand.
13:29 ... Menschen rannten aus dem Bus, Scheiben wurden eingeschlagen, totales Chaos. Meine linke Schulter brannte wie verrückt, mein Bauch tat höllisch weh, ich versuche mich aufzurappeln. Der Mann bleibt offenbar bewusstlos liegen. Dann rennt mich jemand um und ich falle schmerzvoll flach auf den Boden. Ich versuche den Kopf zu heben, bis auf mich und den Mann ist der Bus leer ... komplett leer ... alle haben es geschafft ... alle ... sie hat es geschafft ... geschafft ...
13:30 ... Ich sehe nichts mehr, höre nichts, spüre nur eine Erschütterung, dann eine Hitzewelle, die mir die Schmerzen nimmt ...










- - - Das beste im Leben ist die Liebe, handeln Sie so, wie Sie es für richtig halten und es Ihr Herz Ihnen sagt, bevor es zu spät ist und Schmerz und Trauer den Platz einnehmen - - - Philipp Gallus

























Ich fühle ... etwas. Ich spüre den Schmerz. Mir tut einfach alles weh, insbesondere meiner Schulter. Ich versuche mich zu bewegen, lasse es aber schnell bleiben. Ich weiß nicht wo ich bin, versuche mich zu erinnern. Verschwommene Bilder tauchen in meinem Kopf auf. Der Bus ... Der Mann ... Der Fahrer bringt den Bus zum stehen ... Der Mann war scheinbar tot ... Der Rest des Busses war leer ... alle hatten es geschafft ... auch sie ...
Ich versuche noch einmal mein Augen zu öffnen, doch das grelle Licht schmerzt. Ich sehe Umrisse, wie mich jemand von oben ansieht. Jemand streicht mir über die Wange und beugt sich näher zu mir. Mir fallen Haare ins Gesicht ... ... ... ihre Haare ... ich kann sie riechen ...
Mich durchfährt eine so enorme Emotionswelle, ich könnte aufspringen, doch das bringe ich nicht zustande. Aber dieses Gefühl ... sie ... ich verliere das Bewusstsein, aber es ist geschafft ...


© Philipp Gallus


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