Ich erinnerte mich daran, wie ich als kleiner Junge eines Herbstes zum Spielen in den Park hinausgeschickt wurde. Alle anderen Jungen spielten mit einem Ball oder zogen die Mädchen an den Zöpfen. Ich hingegen wollte einfach nur allein sein.
Da sah ich sie! Unter ihrer Art war sie die Größte und Kräftigste, aber auch die Schönste. Leuchtend rot und wunderschön war ihr Haupt. Sie stach förmlich aus der Menge heraus und ich konnte meinen Blick keine Sekunde von ihr wenden. Meine Maman sagte mir später, dass sie ein Ahornbaum wäre. Ich hingegen nannte sie liebevoll Mérable, während ich mit dem Rücken an sie angelehnt meine Hausaufgaben erledigte und ihr hin und wieder aus einem Buch vorlas. Es sollte noch einige einsame Tage dauern, bis ich den Mut fasste und sie erklomm.
Zunächst umrundete ich sie einige Male und schaute mir ihre Äste von allen Seiten an. Ich zog an dem einen oder anderen Ast, um die Tragfähigkeit zu testen und schließlich überwand ich mich und zog mich an einem von ihnen hoch. Mit den Füßen suchte ich Halt am Baumstamm und versuchte ein Bein über den Ast zu legen. Es gelang mir und ich legte das andere Bein von der anderen Seite um den Ast. So hang ich erst einmal da, bis mir einfiel, dass ich versuchen könnte ein Bein weiter über den Ast zu bekommen, um mich rittlings auf diesen zu setzen.
Nach mehreren Fehlversuchen und leisem Gekicher von einigen Mädchen, die sich scheinbar in der Nähe aufhielten und sich über mich lustig machten, gelang es mir endlich den Ast zu besteigen.
Ganz langsam und weniger elegant balancierte ich mich auf den Ast hinauf und versuchte den nächsten zu fassen.
Nach und nach bezwang ich einen Ast nach dem anderen und mit meiner Erfahrung und eingearbeiteten Routine stieg auch meine Sicherheit mit jedem weiteren Geäst. Letztendlich fand ich mich, umringt von roten, handförmig gelappten Blättern, in der Nähe des Baumwipfels und konnte die atemberaubende Schönheit der Aussicht nicht glauben, welche sich mir bot. Ich schloss die Augen und sog die Luft ein. Es erschien mir, als wäre dort oben alles anders. Die ganze Welt um mich herum war auf einmal wundervoll und ich wollte nie wieder von Mérable runter klettern.

Doch es waren die anderen, die mir mein Glück mit ihr nicht gönnen wollten. Sie riefen meinen Namen. Ich sollte runterkommen, man dürfte nicht so hoch klettern. Diesmal vernahm ich auch die Stimmen der anderen Jungen, sie hatten scheinbar aufgehört mit dem Ball zu spielen.
In meiner Ahnungslosigkeit, was daraufhin passieren würde, blickte ich zu ihnen hinunter.

Mein Herz blieb stehen und mich packte der größte Schreck, den ich je in meinem Leben hätte fühlen können. Vermutlich hätte mir sogar das Ende meines Lebens weniger Angst bereitet.
Ich blickte in die Tiefe. Äste, Äste und abermals Äste waren unter mir und unter ihnen standen kleine, nein, mickrige Gestalten. Fast schon unmerklich waren sie. Sie schienen meinen Namen zu rufen, doch auf einmal hatte ich das Gefühl, als ob sie zu weit weg waren, als dass ich sie hören konnte.
Meine Hände vergruben sich in der Rinde des Baumstammes und ganz plötzlich wurde aus der süßen Mérable ein Mhorrible – das Grauen meiner Kindheit!
Niemals hätte ich zurück auf die Erde gefunden und ich begann ein Heimweh zu empfinden, welches nur Astronauten kannten, die die endlosen Weiten des Weltalls erforschten und für die ‚Heimat‘ nicht das eigene Haus, sondern bereits der Planet Erde bedeutete.
Mir erschien es, als sei ich ein Luftballon, dessen Schnurr der kleinen, tollpatschigen Hand eines kleinen Kindes entglitt und nun stieg ich immer weiter hinauf und entfernte mich, entgegen der Erdanziehungskraft, vom Boden. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass ich mir dies nur einbildete, da mein Blick von meinen Tränen verschwommen war.
„Antoine, Antoine!“, meldeten sich die mickrigen Menschen wieder, „heulst du??“
Sie lachten über mich und tief im inneren meines Herzens tat es weh, aber noch viel mehr hatte ich Angst herunter zu fallen und diese mickrigen Geschöpfe platt zu wälzen.
Auf einmal vernahm ich den schrillen Alarm einer Sirene. Diese unangenehmen Klänge setzten so unerwartet ein, dass ich vor Schreck beinah vom Ast geflogen wäre. Jedoch hatte meine neuentdeckte Höhenangst meine Finger umso mehr in der Rinde verzahnt, sodass ich relativ sicher am Baum fixiert war.
Die Feuerwehr war gekommen, um mich vor Mérable zu retten! Meine ausersehene beste Freundin, die mir das Paradise schenkte, wurde innerhalb von Sekunden zu dem größten Albtraum, vor dem mich eine Feuerwehrleiter in Sicherheit bringen sollte. Doch zunächst einmal musste mich ein Feuerwehrmann aus meinen eigenen Fesseln befreien, indem er mit beruhigenden Worten auf mich einredete und geduldig einen Finger nach dem anderen aus der Starre zog. Er arbeitete sich so präzise vor, wie jemand, der an Weihnachten mühsam die Lichterketten entzwirbelte und am Ende gab es Applaus von der gesamten Crew, sowie sämtlichen Zuschauern, die sich über die Dauer meines Kletterabenteuers angesammelt hatten.

Ich fühlte mich wie in einem Film! Mit Ausnahme, dass ich nicht gerne im Rampenlicht stand, da ich mich sehr unsicher fühlte. Alle Augen waren in diesem einen Moment auf mich gerichtet und während das eine Schrecken mich verließ und ich den Boden nun endlich wieder unter meinen Füßen spürte, breitete sich das Zweite bereits aus – Aufmerksamkeit. In dieser Welt war ich stets unsichtbar, auf etwas anderes war ich nicht gefasst. Doch eh ich mich versah, blitzte es aus allen Richtungen und der Feuerwehrmann, der mich vom Baum rettete, legte seine Hand auf meine Schulter. Eins der Blitze ließ schließlich das Bild entstehen, welches später in der lokalen Zeitung abgedruckt wurde. Auf diesem Bild war ein großer freundlich aussehender Mann mit einem Schnäuzer zu sehen und neben ihm blickte ein kleiner Junge mit dunkelblonden Haaren und verweinten Augen erschrocken drein. Daneben stand ein halbseitiger Bericht über den heldenhaften Feuerwehreinsatz, ich hingegen wurde zu meiner Erleichterung nur kurz und nebensächlich erwähnt. Das Ganze war mit ‚Helden des Tages‘ betitelt.


© Ronia Tading


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Beschreibung des Autors zu "Liebe meiner Albträume"

Es ist ein Ausschnitt aus meinem noch nicht fertigen Roman "le mystère du coeur", allerdings kann man den Abschnitt als eine "eigene", allein stehende Story sehen.




Kommentare zu "Liebe meiner Albträume"

Re: Liebe meiner Albträume

Autor: Homo_Ingenuus   Datum: 25.07.2015 11:05 Uhr

Kommentar: Hey Ronia :)
schöner Text mit einprägsamen, und in der Erinnerung eines (fast) jeden enthaltenen, Themen der Kindheit: Eigensinnigkeit, Kreativität, Drang des Alleinseins, Angst...
Ich las davor deinen Blogeintrag bezüglich der Lesefaulheit. Danach musste ich einfach mal beginnen, deine Werke auf mich wirken zu lassen.

Was mir auffiel und evt. noch überarbeitet werden könnte, wäre die Stelle, als der Junge den Ahorn erklomm: die Wiederholung des Wortes "Ast/Äste" ist für meinen Geschmack zu häufig, vorallem wenn es in beinahe jedem folgenden Satz Verwendung findet. ;)
Das nur als kleiner Hinweis im ansonsten mit tollen Bildern gefüllten Text über einen in sich gekehrten Jungen, der an einem Herbsttag seine Angst überwindet, den Baum seiner Träume erklimmt, nur um darauf im Gefüge der Freiheit die Angst/Heimatlosigkeit zu erfahren.

Gern gelesen!
liebe Grüße
Flo

Re: Liebe meiner Albträume

Autor: Ronia Tading   Datum: 25.07.2015 16:35 Uhr

Kommentar: Hallo Flo,

vielen lieben Dank für deinen netten Kommentar, ich habe mich sehr gefreut.

Deine Kritik kann ich voll und ganz nachvollziehen und unterstützen, an der Wortwiederholung in dem Abschnitt muss ich echt nochmal arbeiten. Danke für deinen Hinweis! :)

Mit meinem Blogbeitrag hatte ich damals etwas Dampf abgelassen und hoffe, es kam nicht aggressiver rüber als es wirklich gemeint war. Tatsächlich hatte ich auch bei diesem Text wieder die Sorge, dass es zu lang ist und dass ihn keiner ließt, aber dem scheint nicht so zu sein.

Vielen Dank nochmal für deine überaus netten Worte! :)

Habe noch ein schönes Wochenende und einen tollen Tag. :):)

Liebe Grüße
Ronia

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