Kapitel 1

Erzähle mir eine Geschichte. Erzähle von einem Land, einem wunderschönen Land.
Von Feldern, von Wald, von Meer und von dem Leben.
Ohne Krieg. Ohne Leid, ohne Schmerzen. Ohne Tränen und ohne Angst.
Erzähle mir eine Geschichte vom Leben, von Liebe, von Frieden.
Und lass diese Geschichte leben.
Wäre es hier doch bloß auch so...

Immer wieder und wieder lese ich mir den Brief durch. So vieles steht darin, so vieles ist neu für mich. Und doch glaube ich, immer noch nicht alles verstanden zu haben. Erneut studiere ich den Brief aufmerksam.
Für Cashmere Goratsch: Renizilas, Juli 231
Unser Heimatland Palonien hat eine lange Geschichte.Vielleicht weißt du es noch nicht, aber früher hieß es einmal Deutschland. Unser Wohnort, Renizilas, hieß früher einmal Lübeck. Ich weiß nicht, wieso diese Namen geändert wurden, aber es ist so.
Zurück zu Palonien. Es existiert seit 231 Jahren. Um zu erkennen, worin der Schlüssel der heutigen Lebensbedingungen liegt, muss man eben so viele Jahre in die Vergangenheit gehen. Das Ende des vorherigen Zeitalters wird dort datiert. Das vorherige Zeitalter wird heute, wie du sicher weißt, Zeit der vielen Kriege oder auch Kriegszeit genannt. Diese Zeitrechnung begann mit der Geburt eines mir unbekannten Gottes, oder einem ähnlichen Wesen. Ich meine gelesen zu haben, dass jener Christus hieß. Oder ähnlich...
Der Name der Kriegszeit lässt sich auf mehrere "Weltkriege" zurückführen. Es mag ironisch klingen, dass jene Zeit ausgerechnet mit einem Krieg aufhörte. Dieser Krieg begann ungefähr im Jahre 2500 (wohlgemerkt in der Zeitrechnung der Kriegszeit).
Allgemein wird behauptet, diese, also unsere jetzige Zeit begann, als ein Staat namens USA eine erste Rakete auf dem Zwergplaneten Pluto landen konnte. Meiner Meinung nach ist der wahre Grund allerdings eine Entdeckung, die auf dem Planeten gemacht wurde und der daraus folgende Krieg.
Die von mir angesprochene Entdeckung kennst du sicher auch. Karoson. Natürlich kennst du es...
Karoson ist ein Edelgas und ich muss dir sicher nicht sagen, was es bewirkt.
Oh ja, das weiß ich. Dieses Karoson hat die Welt... zerstört. Es schädigt die Ozonschicht, welche wiederum mehr und mehr unfähig wird, die Erde zu schützen. Viele, zuvor unbekannte, giftige Stoffe befinden sich nun in der Atmosphäre. Das zerstört die Natur und die Landwirtschaft. Oft bricht Hunger aus. Es ist schrecklich, mitansehen zu müssen, wie Kinder leiden und einfach nichts tun zu können.
Um wieder auf den Krieg zu kommen: Die Leute, die auf dem Pluto jenes schicksalhafte Edelgas bemerkten, brachten es mit auf die Erde. Es wurde vorerst unter Verschluss gehalten und von einigen wenigen ausgewählten Forschern untersucht. Einer dieser Forscher kam aus Palonien (damals hieß es noch Deutschland). Auf irgendwelchen Wegen, vermutlich durch Erpressung, Bestechung und Drohungen, schaffte es dieser Wissenschaftler, sich das Karoson anzueignen und in seinen alleinigen Besitz zu bringen.
Über weitere zwielichtige Wege hatte sich dieser Forscher viel Macht verschafft. So ließ er langsam einige Forschungsergebnisse wie zufällig an die Öffentlichkeit dringen. Unter anderem, was das Karoson mit der Umwelt machte. Das hatte man anhand einiger nachgestellter Biosphären getestet.
Nachdem die Leute diese Informationen besaßen, war es für den Wissenschaftler ein Leichtes, den Menschen zu drohen. Er selbst wollte die Welt regieren, so sagte er den Leuten. Er drohte ihnen, jenes Karoson an die Umwelt zu lassen und die Menschen gaben nach. Lediglich wenige Aufständige gab es noch. Bei diesen ließ der Forscher gezielt das Edelgas frei.
Natürlich wurde auch mit anderen Waffen gegen die Aufständigen gekämpft. Diese Waffen zerstörten die Häuser der Menschen. Auch heute werden noch Bomben, sogenannte Blindgänger gefunden. Wenn diese hochgehen, ist dies tödlich.
Allerdings hatte er die Wirkung unterschätzt. Das Karoson verteilte sich auf die Welt und zerstörte sie. So wie wir sie heute kennen... Was manche Leute Frieden nennen, ist eigentlich nur eine Art gezwungener Waffenstillstand. In den Jahren nach dieser Entdeckung kümmerte sich niemand um die Infrastruktur des Landes. Und so ist es auch heute noch.
Was heißt wohl "Infrastruktur"? Aber ich glaube, ich weiß, was er meint. Kaum jemand wohnt noch in einem richtigen Haus. Naja, wir - also ich und meine Mutter - schon, aber beinahe alles anderen wohnen in kleinen Zelten, die kaum ein Wetter abhalten. Und mittlerweile sind die Menschen so arm, dass sie sich keine Häuser leisten können. Außerdem weiß kaum einer, wie man sie baut.
Und du kennst diesen Forscher, Cash. Wender Eretro.
Den kenne ich... Eretro. Heute ist sein Urenkel an der Macht. Chico Eretro. Er regiert das Land mit grausamer Härte. Kümmert sich nicht annähernd um irgendwelche leidenden Menschen. Nur ihm und seinen Anhängern geht es wirklich gut. Die sind reich und alles...
Alles Gute
Louis
(Auch wenn ich nicht ganz verstehe, wofür du das hier brauchst...)

Nein Louis, das verstehst du wirklich nicht. Ich verstehe es ja selbst kaum.
Louis ist mein Kollege an der Uni und ein guter Freund. Er studiert Staatsgeschichte und ich Medizin. Ich habe ihn gebeten, mir diesen Brief zu geben. In diesen Zeilen hat er alles zusammengefasst, was er über die Geschichte unseres Staates weiß. Irgendwann hat er mal erwähnt, dass er mit diesen Informationen als Grundlage weitere Recherchen machen will, aber was das für Recherchen waren... Keine Ahnung.
Ach, das ist alles so kompliziert.
Ich glaube, ich brauche noch mehr Material.

Kapitel 2

Die Seite raschelt, als ich sie langsam umblättere.
"Jedes Kind hat ein Recht auf Schutz!", steht da sorgfältig gedruckt, auf den etwas vergilbten Seiten.
Schutz! Welches Kind in Palonien hat Schutz?! Genauso wie das Recht auf Bildung! Die Schulen sind wegen Einstürzen geschlossen oder zumindest einsturzgefährdet. Gewaltfreie Erziehung? Kinder heutzutage erfahren nur Gewalt! All die Leiden, die Anschläge, die immer drohen, das soll gewaltfreie Erziehung sein?! Oder Nahrung! Kein Kind bekommt bei uns genug zu Essen; wir hungern alle. Aber... wen stört das?!
Das Buch über Rechte, das ich meiner Mutter aus unserem winzigen Bücherschrank genommen habe ist sehr alt. Es wurde 2137 gedruckt; 2137 in der Kriegszeit. Es liegt aufgeschlagen auf meinem Kopfkissen, leuchtete ein wenig im Schein der flackernden Petroleumlampe.
"Rechte", fauche ich leise, "Wen schert das?!" Verstohlen schaue ich mich nach allen Seiten um. Egal wie leise man spricht, egal wo man ist, man hat irgendwie immer das Gefühl, belauscht zu werden. Nicht, dass es öffentlich ist, dass man abgehört wird oder, dass ich jemanden kenne, der mit Sicherheit belauscht wird... Nein, das Gefühl ist einfach da. Für alle ist das normal. Und mit 'abgehört' meinen wir keine versteckten Geräte oder ähnliches. Nein, einfach Menschen; Chicos Anhänger! Sie könnten überall sein. Es wäre nicht einmal auszuschließen, dass sie jetzt im Nachbarzimmer hocken und zuhören, wie ich hier staatsfeindlich rede. Aber ist das staatsfeindlich, was ich sage?
Ich denke über meine Worte nach. Rechte... Rechte... Dieses Wort... Jeder kennt es. Aber... die Rechte... oder das Recht an sich... Wer kennt das schon wirklich? Natürlich ist das staatsfeindlich, aber ich habe sehr wohl das Recht, staatsfeindlich zu sein, wenn der Staat menschenfeindlich ist!
Plötzlich wünsche ich mir, ich hätte einen anderen Beruf oder ein anderes Studium gewählt. Rechtswissenschaft. Jura statt Medizin. Ich studiere jetzt seit fast drei Jahren. Bald will ich ein Praktikum machen, oder zumindest das, was man bei uns zur Zeit als Praktikum versteht. Danach will ich, wie schon gesagt, richtig Ärztin werden und am liebsten eine Praxis eröffnen. Falls das möglich ist...
Aber das ist wieder etwas anderes... Ich bin ziemlich froh, dass ich überhaupt studieren kann. Es ist nicht sehr teuer, aber wir haben auch alle noch weniger Geld. Nur weil meine Mutter einen Job hat, können wir uns so etwas leisten. Louis hat mir einmal erzählt, früher hätte es eine Förderung vom Staat für das Studieren gegeben. Bei unserer heutigen Regierung... das wäre unvorstellbar.
Die Regierung... was für eine Regierung eigentlich? Es gibt ja nur Chico.
Er hat übrigens auch zwei Kinder. Layla und Edward. Wie Chico überhaupt eine Frau finden konnte?
Jedenfalls sind seine Kinder ungefähr in meinem Alter. Um die 20 Jahre alt. Nicht, dass ich dadurch besser von ihnen denken würde. Im Gegenteil: So jung und schon richtig verdorben. Sie sollen sehr talentiert sein. Worin auch immer... Vielleicht würden sie anders denken und auch ihre Talente anders nutzen..., wenn sie nicht Chicos Kinder wären und in seinem Palast leben würden. Aber irgendwie tun sie mir auch ziemlich leid.
"Cashmere?", höre ich plötzlich die Stimme meiner Mutter. "Cashmere, bist du noch wach?" Hektisch schließe ich das Buch, schiebe es unter mein Kopfkissen und lösche schnell die Lampe - keine Sekunde zu früh! Meine Mutter öffnet die Tür.
"Cashmere?" Sie gibt sich vielleicht Mühe, leise zu sein, aber in der Lautstärke könnte sie einen Bären aus dem Winterschlaf wecken.
"Cashmere? Bist du noch wach?", fragt sie jetzt zum wiederholten Mal nicht minder leise. Auf den Gedanken, dass ich vielleicht schon schlafen könnte, kommt sie anscheinend nicht. Also setzt ich mich gespielt müde auf.
"Jetzt schon!", sage ich versucht genervt und müde, obwohl ich nicht mal annähernd versucht habe, zu schlafen.
"Oh, entschuldige bitte! Ich dachte nur, bei dir würde noch Licht brennen", meint meine Mutter.
Innerlich zucke ich zusammen, knurre dann aber nur gähnend: "Spinnst du? Ich habe seit um 9 igeschlafen und würde das jetzt auch gerne weiter tun. Darf ich?! Danke!"
"Ja ja. Ach und versuch', schnell zu schlafen; du musst morgen um 8 in der Uni sein, ja?" Immer diese mütterliche Fürsorge. Ehrlich, ich bin 21, fast 22, und sie behandelt mich wie ein Kleinkind.
"Gut", stöhne ich. "Aber wenn ich jetzt schlafen soll, könntest du vielleicht aus dem Zimmer gehen", füge ich, diesmal wirklich genervt, hinzu.
"Okay, okay", murmelt meine Mutter und verlässt das Zimmer. Aber sie hat Recht: Ich sollte jetzt wirklich schlafen. Obwohl ich vorhin kaum die Augen aufhalten konnte, liege ich noch lange wach da. So sehr ich mich auch zwinge, so sehr ich schlafen will, der Schlaf will einfach nicht kommen.

Am nächsten Morgen haste ich durch unsere winzige Wohnung. Ich muss gleich los und habe noch nicht mal gefrühstückt. Und mein burgunderrotes Tuch lässt sich auch nicht mehr finden.
"Was suchst du, Cashmere? Willst du nicht mal langsam etwas essen?", fragt meine Mutter besorgt. i"Ich suche mein Tuch", informiere ich sie knapp.
"Das Weinrote?"
Also ehrlich!
"Es ist burgunderrot und ja genau das", seufze ich genervt.
"Das trocknet gerade, Cash", sagt meine Mutter. Ich verdrehe die Augen und krame stattdessen nach meiner Kristallkette. Die Kette und das Tuch sind das einzige, was mir selbst gehört. Natürlich noch etwas Kleidung, aber sonst nicht sehr viel.
"Cashmere, du musst gleich los." Im Gehen schiebe ich mir ein Stück vertrocknetes Brot in den Mund und hetzte zur Tür und auf die Straße. Die Straße ist auch sonst wirklich kein schöner Anblick. Schlaglöcher, Löcher vom Krieg und Dreck. Einfach grauenvoll. Aber das bin ich gewöhnt. Nur heute ist etwas anders, heute zucke ich, zu meiner eigenen Überraschung, zusammen. Ich kenne die Straße, kenne jedes Loch. Aber heute... heute sind es mehr Löcher als sonst, und auch Brandflecken. Das heißt, es gab in der Nacht, hier in der Nähe einen Anschlag. Habe ich wirklich so tief geschlafen, dass ich das überhört habe? Oder habe ich mich schon so sehr daran gewöhnt?
Also, um ehrlich zu sein, Anschlag bedeutet bei uns alles und nichts. Der Krieg war auch ein Anschlag, eben ein recht großer. Ich frage mich, warum ich mich überhaupt noch wundere. Es gibt fast täglich Anschläge, das ist beinahe natürlich für uns. Kugelhagel, Feuer, Bomben,... all das begegnet uns nicht gerade selten. Meistens aber eher im kleinen Maße. Erschreckend, aber nicht sehr groß. Meist sind nur ein bis zwei Häuser betroffen, deren Besitzer wohl staatsfeindlich geredet haben. Deshalb habe ich auch ein wenig Angst, solche Reden zu schwingen. Aber wenn es keiner hört...
Die Löcher hier sehen nach einem leichten Kugelhagel aus, und die Brandflecken... na ja, eben nach Feuer. Nach einem großen Feuer!
Ob jemand verletzt ist? Oder sogar getötet? Anschläge sind bei uns gruselig, aber, wie schon gesagt, leider nicht wirklich selten. Und jedes Mal die gleichen Fragen, das gleiche Bangen... Was sind die Folgen? Tod? Verletzungen, die vielleicht nie mehr heilen? Vielleicht wissen meine Freunde und Kollegen in der Uni mehr.
Ich haste die Straße entlang. Es werden immer mehr Brandflecken. Dann sehe ich Rauch, sehe Flammen. Das Feuer brennt noch. Vielleicht wurde es erst früh am Morgen entfacht. Ich renne weiter. Die armen Leute in dem Haus. Also die, die... vorher darin gewohnt haben. Trotzdem: Es mag vielleicht egoistisch klingen, aber solange es nicht unser Haus ist... oder die Uni... Ich erstarre. Die Uni?! Na klar, welches hohe Gebäude liegt in Richtung Flammen?!
Ich stürme, von einer neuen Angst getrieben, die zerstörte Straße entlang, sehe, wie meine schrecklichen Annahmen wahr werden, sehe all meine Alpträume wahr werden..., sehe das Gebäude in Flammen: Die Uni!

Kapitel 3

Meine Freunde. Das ist mein erster Gedanke, während ich noch wie gelähmt auf die lodernden Flammen starre. Meine Freunde, meine Kollegen. Manche beginnen schon eher mit ihrem Unterricht als ich. So um 7 Uhr oder sogar noch früher. Wie geht es ihnen?
Aber... wieso ausgerechnet die Uni? Es gibt weder eine andere Universität noch eine Hochschule in 100 Kilometer Umkreis. Ich hatte großes Glück, hier aufgenommen zu werden. Obwohl es zweifellos auch am Geld lag. Und nun? Was wird aus meinem Studium, meinem Praktikum, meinen Traum von der Praxis und... allem?!
Eigentlich hatte ich schon riesiges Glück, und vor allem keinen Grund zu zetern.

Im Allgemeinen: 1. Wir wohnen noch in einem richtigen Haus. Also, einer winzigen Wohnung, aber fast keiner wohnt mehr so wie wir.
2. Wir sind nicht wirklich arm, weil meine Mutter einen ziemlich guten Job hat.
3. Meine Mutter hat überhaupt einen Job. Schon das ist bei uns ja verdammt selten.
4. Dank 2. und 3. konnte ich studieren, wobei die Betonung auf konnte liegt, denn studieren kann ich in der Uni jetzt ja nicht mehr so gut.
Und das war ja nur das Allgemeine. Schon das ist für unsere Verhältnisse richtig viel.
5. Ich war nicht in der Uni, als sie anfing zu brennen.
6. Mein Freund Phil auch nicht.
6. weiß ich nur, weil er genau in diesem Augenblick auf mich zu stürmt. "Phil!" Ich haste auf ihn zu. Er ist eben mein Freund. Also,... Freund wie Kumpel, nicht... ähm... Freund wie Liebe. Bester Freund.
"Cashmere!" Sein Blick wandert von der brennenden Uni zu mir und wieder zurück. Ich weiß, was er denkt, muss nicht in seine Augen schauen, um das zu lesen. Natürlich denkt er genauso wie ich: Glück im unbeschreiblichen Unglück. Oder nicht...?
Ich beiße mir auf die Lippe und wende mich wieder der Uni zu.
"Wir müssen Wasser holen", meint Phil und ich kann seinen Schock förmlich fühlen, obwohl er nur an der Tonlosigkeit in seiner Stimme zu hören ist. Ich nicke leicht und dann laufen, nein, rennen wir los. Die bodenlose Angst um meine Freunde gibt mir Schnelligkeit und Ausdauer, nachdem ich jetzt den ganzen Weg zu Uni gerannt bin. In der Nähe finden wir ein noch bewohntes Haus, eigentlich eher eine Ruine. Wir klopfen an und erklären knapp, was passiert ist. Den Besitzer, einen Mann um die 60er Jahre, habe ich zwar schon oft, aber nie lächelnd gesehen. Hatte wohl zu wenig Grund dazu. Ich mache mir keine großen Hoffnungen. Umso überraschter bin ich, als er uns die Tür aufhält, uns Eimer zur Verfügung stellt, uns hilft sie in dem gammeligen Wassertrog zu füllen, ja, sogar zwei Eimer für sich selber füllt und mit uns zur Uni eilt. Tja, Not verändert eben Leute.
Als wir an der Uni ankommen, haben sich schon einige wenige Leute versammelt und versuchen verzweifelt, das Feuer zu löschen. Das ist auch mehr als notwendig, da wir keine Feuerwehr haben. Man packt mit an, versucht das Feuer zu löschen, aber... es ist nicht immer schnell genug.
Erst nach einer guten halben Stunde, ist das Feuer gelöscht; jedenfalls die Flammen. Die Helfer sinken zitternd zusammen, ein paar holen feuerfeste Kleidung. Manche Leute haben so was zu Hause, in ihren Zelten. Ich habe keine Ahnung, wo man so etwas herbekommt, aber das muss nichts heißen; bei den Waffen weiß ich es ja auch nicht. Ich selber stehe stocksteif neben Phil, als mir jemand eine schwarze Jacke, eine schmutzige, braune Hose und eine feuerfeste Maske reicht. Anscheinend sieht man mir an, dass ich sofort in die Uni möchte. Ich bin schon in die Klamotten geschlüpft und fast beim Haupteingang des Universitätsgebäudes, als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Ich drehe mich um.
"Bitte nicht, Cash. Bitte!" Phil schluckt und wirft einen Blick auf meine Kleidung. Er vertraut nicht auf die Sicherheit der Sachen, das weiß ich, und unter normalen Umständen würde ich das auch nicht, aber das sind keine normalen Umstände. Ich muss einfach da rein und Phil muss das verstehen. An seinem traurigen Blick sehe ich, dass er das tut. Dass er versteht. Er schließt die Augen und als er sie wieder öffnet, sehe ich Verständnis, Entschlossenheit und sogar leichten Stolz darin.
"Ich weiß", meint er schließlich, obwohl ich nichts gesagt habe.

Zusammen mit fünf anderen Leuten, einer Frau und vier Männern, begebe ich mich nun ängstlich, nervös und schockiert in die Uni. Als wir in die Eingangshalle kommen, verteilt einer der Männer, ich glaube, er heißt Derex, eine Art Walkie-Talkie.
"Trotzdem bleiben wir zusammen", erklärt er. "Nur für den Fall." Wir anderen nicken. Ich schlucke meine Ängste hinunter, doch als wir in die vollkommen ausgebrannte Vorhalle kommen, überfluten sie mich von neuem. Eins wird mir klar: Ich bin nicht für das gewappnet, was auf mich zukommt.
Wir gehen in den Hörsaal. An der Tür bleibe ich stehen. 7:30 Uhr ist normalerweise die erste Vorlesung. Das heißt... ach, ich will mir gar nicht vorstellen, was das heißt. Ich denke an Professor Stephen, die die 7:30-Vorlesung leitet, an Max und Louis, meine näheren Kollegen... und Rike, meine allerbeste Freundin.
Stockend gehe ich zum Lesepult.
"Prof.", flüstere ich. Sie ist nicht da. Sie muss es geschafft haben. Vom Pult aus habe ich einen guten Überblick. Vielleicht haben es die meisten, ja, vielleicht auch, oder ja, ich bin sicher: Alle müssen es geschafft haben. Der Weg zur Tür ist ja auch nicht so weit. Außer... Mir wird übel... außer für Rike. Sie sitzt immer am weitesten hinten, am weitesten von der Tür entfernt; wieso auch immer.
Ich haste durch die ausgebrannten Reihen, bin sonst völlig betäubt. Die anderen sehen mich an, verstehen nicht; aber ich verstehe. Mir wird eiskalt.
Eine einzelne Gestalt liegt vor dem hintersten Sitz. Mein Mund wird trocken. Rike. Tränen rinnen über meine Wangen, fließen ohne Ende.
"Warum? Warum nur?", schluchze ich.

Kapitel 4

Wie lange ich schon da stehe und weine, wie lange mir die Tränen schon Furchen in mein Gesicht graben, wie lange ich schon erstarrt bin, weiß ich nicht.Um ehrlich zu sein, es ist mir auch egal. Mir ist alles egal. Ich will nur Rache. Rache an der Regierung, die für diesen Anschlag verantwortlich ist. Rache an der Welt, den Menschen, an einfach allem und jedem. Mir ist alles egal. Ich will aus dem, was von der Uni noch übrig ist stürmen, will weg, nur weg von diesem entsetzlichen Ort.
Aber ich will Ärztin werden. Ich muss mit Wunden, Blut und Tod fertig werden. Das heißt Zähne zusammen beißen. Ich beuge mich runter, knie neben Rike und schlucke. Meine Hand legt sich sanft auf die Stelle, wo ich sonst den gleichmäßigen Schlag ihres Herzens fühlen müsste, nur - ich fühle nichts.
Jetzt weiß ich es. Jetzt ist die Wahrheit nicht mehr abzuwenden, stirbt auch der letzte Funke Hoffnung. Ich sinke zusammen. Meine Begleiter stellen durchs Funkgerät Fragen, erteilen Anweisungen, beratschlagen sich. Doch ich kann das alles nicht mehr hören. es ist doch alles egal, jetzt, wo die Welt und das Leben, einfach alles, an Wert verloren hat. Jetzt, wo das Leben... nicht mehr lebenswert ist. Am liebsten würde ich die Sauerstoffmaske absetzten, würde niedersinken, wie Rike... Rike...
Ich höre ihre klare, hohe Stimme deutlich in meinen Ohr. Wie sie mich mahnt, mich zur Vernunft bringen will.
"Nein, Cashmere. Das bringt doch nichts! Wem nützt das schon?! Du weißt, wer das getan hat und iwer die Schuld trägt. Und das bist nicht du!" So würde sie sprechen, wenn... wenn sie es noch aussprechen könnte.
Und ich weiß es; ich weiß, wer die Schuld trägt, und das bin nicht ich. Die Regierung, oder eben Chico, müssen bezahlen, aber das kann warten. Zumindest bis ich allen geholfen habe, denen noch zu helfen ist. Doch für einen winzigen Moment will ich bei Rike bleiben, meiner Freundin. "Beste Freundin" reicht einfach nicht aus, um das zu beschreiben, was sie für mich war. Ich denke, an unser erstes Treffen; wie sie Linda, meine kleine Schwester, die ich über alles liebte, wegzog und so verhinderte, dass eine Kugel Linda traf. Linda, die ich so liebte, die mir immer noch einen Grund zu lachen gab, Linda, die nur einige Wochen später überfallen wurde. Sie ist tot, auch sie. Und Rike tröstete mich und auch als mein eigener Vater zu Chico wechselte, stand sie mir bei. Ich weiß nicht genau, was uns so zusammenschweißte, ich weiß nur, dass ein Leben ohne Rike nicht lebenswert ist.
"Nein, Cash!", flüstert ihre Stimme jetzt in mein Ohr, obwohl ich weiß, dass das unmöglich ist. "So idarfst du nicht denken, Cashmere. Und das weißt du! Bitte, tu es mir zuliebe!" Ich nicke, obwohl es sinnlos ist. Rike kann es eh nicht mehr sehen. Aber es gibt mir neue Kraft.
Dann ist es vorbei, dieser letzte Moment in Rikes Welt. Ich schlucke und stehe auf, so schwer es mir auch fällt.
"Cashmere?"
Die Stimmen sind jetzt real und ich murmele leise: "Am Gerät!"
"Wer... ist das hier?", fragt der, von dem ich denke, dass er Derex heißt.
"Das ist Rike... Ulrike Link; sie ist Philosophiestudentin. War, meine ich", antworte ich leise. Die Frau in der Gruppe muss meinen Schmerz gesehen oder gehört haben, denn sie legt mir den Arm um die Schulter.
"Ich kannte sie. Sie...sie war unglaublich."
Derex ergreift wieder das Wort: "Ist sie..." Ich nicke, bevor er weiter sprechen kann. Ich will dieses Wort nicht noch einmal hören. Derex scheint nervös zu schlucken.
"Dann müssen wir die anderen finden."
"Können wir uns nicht aufteilen?", frage ich vorsichtig. Ich muss zu Max, Louis und auch zu Prof. Stephen. Sie können doch nicht auch... tot sein.
Derex schüttelt jedoch entschlossen den Kopf und Phils Freund Kevin, der auch mit in der Gruppe ist bestätigt: "Das ist zu gefährlich!"
"Wir müssen sie aber sofort finden; jede Sekunde kann über ihr Leben entscheiden", entgegne ich fest.
"Da hat sie Recht. Wir müssen sie retten, und zwar schnell! In zwei oder drei Gruppen würden wir isie eher finden", stimmt die Frau zu. Ich habe keine Ahnung, wie sie heißt, aber ich bin für ihre Unterstützung sehr dankbar. Die Männer zögern, doch ich kann nicht länger warten. Ich renne los.
"Okay, wir teilen uns auf", ruft Derex und ich komme schlitternd zum Halt. "Leevy, du gehst mit iCashmere. Eric und Finn gehen zusammen und Kevin, du kommst mit mir mit", entscheidet Derex schnell.
Ich nicke der Frau, Leevy zu und stürme los. Mein Herz pocht, der Atem geht viel zu schnell und vor Angst, was ich vorfinden werde, kann ich mein Tempo nicht drosseln.

Kapitel 5

"Max?" Ich spitze die Ohren. Nichts. "Prof. Stephen?" Nichts. Nein! "Louis?"
"Cash?" Die Stimme kommt von weit her.
"Louis?", rufe ich noch einmal.
"Hier!" Aber wo ist hier?
Leevy zeigt in eine vage Richtung. Die Kantine. Dort bekommen wir in der Uni eine warme Mahlzeit. Nicht lecker, aber es stillt den Hunger. Außerdem ist man dort relativ gut geschützt. Klar, dass die Stimme daher kommt.
"Cash?"Die Stimme ist jetzt lauter.
"Bleib da!", brülle ich durch den Rauch und stürme los. Leevy ist dicht hinter mir. Ich höre sie keuchen, doch ich halte nicht an. Langsam nähern wir uns der Kantine. Mein überstürzter Lauf verlangsamt sich etwas, während mir de Kräfte ausgehen. Wir rennen weiter, doch jetzt gleichmäßiger und stetiger, statt vollkommen überstürzt. Vorbei an all den zerstörten Klassenräumen.
Und dann sehe ich sie. Louis steht vor der Kantine, seine Augen funkeln blau durch den Rauch.
"Oh, Cash...", flüstert er. Am liebsten würde ich mich in seine Arme stürzen, nur aus Erleichterung, dass er noch lebt, aber er stützt Max.
"In die Kantine", befehle ich barsch. "Sofort!" Etwas Undeutliches schwimmt in Louis' Blick, bevor er nickt und sich blitzschnell umdreht.
Keuchend blicke ich mich in der übervollen Kantine um. Die gesamte Uni muss sich hier versammelt haben. Einige Gestalten liegen leblos am Boden.
Leevy spricht in ihr Funkgerät: "Sie sind alle im Essensraum, im Westflügel der Universität!"
Ich wende mich wieder Louis zu. Immer noch stützt er Max, dessen Gesicht kraftlos und aschfahl wirkt. Louis erwidert meinen Blick eine Weile, bis ich das Schweigen breche.
"Ich bin froh, dass ihr noch lebt." Meine Stimme zittert leicht und Louis zuckt zusammen.
"Was ist passiert?", fragt er tonlos. Er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich so etwas nicht einfach so sagen würde. Ich senke den Blick, Tränen treten in meine Augen.
"Rike...", flüstere ich.
"Nein, nein", wimmert Max. Er war Hals über Kopf in Rike verknallt, das wusste jeder. Immer noch wimmert Max, als er plötzlich zusammenbricht und still liegen bleibt. Ich falle auf die Knie. i"Max!" Mein Schrei endet in einem erstickten Laut und es wird in der Kantine noch stiller als zuvor. Auch Max ist tot, kein Zweifel.
"Es war der Rauch", meint Louis leise und legt mir die Hand auf die Schulter. Wieso ist er so ruhig, beinah kalt? Ich drehe mich um und runzele leicht die Stirn. Wie ruhig seine Stimme doch klingt, denn als er aufblickt sind seine Augen voller Schmerz. Max war Louis' bester Freund. Sie sind durch dick und dünn gegangen. Plötzlich schäme ich mich, als ich daran denke, wie ich bei Rike reagiert habe. Völlig aufgelöst. Aber ist das denn falsch?
"Das muss ein Ende haben", spricht Louis meine Gedanken laut aus und jetzt liegt die unendliche Trauer auch in seiner Stimme. Ich nicke, aber ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch die Kraft habe, Wut zu zeigen.
Die Tür geht auf. Das "Rettungsteam". Auch Phil ist dabei. Ich werfe mich in seine Arme.
"Cash, es geht dir gut!", flüstert er erleichtert.
"Ja, im Gegensatz zu vielen anderen hier." Meine Stimme ist hart und ja, jetzt kann ich die Wut fühlen, kann fühlen wie ich ertrinke in Wut. Phil sieht das und nimmt mich bei der Hand.
"Komm mit", murmelt er, "Wir müssen hier raus."
Ich nehme Louis mit. Er blickt in meine Augen; der Schmerz ist weg. An seiner Stelle ist da bodenloser, grenzenloser Hass. Ich blinzele. Louis schüttelt den Kopf, folgt mir aber nach draußen.

Ich blicke auf die Uni, während die Verletzten auf einfachen Tragen aus dem Gebäude geschleppt werden. Am liebsten würde ich helfen, aber Phil hat das so entschlossen verhindert, dass ich mich nicht dagegen auflehnen kann und will. Wir stehen dicht beieinander. Louis ist jetzt bei den Ärzten. Die haben ein kleines Gebäude, ein provisorisches Krankenhaus, das längst nicht für die täglich steigenden Verletzungen gedacht ist. Auch Professor Stephen habe ich kurz gesehen. Sie steht unter Schock, scheint aber sonst keine schlimmen Verletzungen zu haben.
Phil schaut mich an.
"Was wollen wir machen? Ich denke, studieren fällt unter diesen Umständen aus", meinte er fast ein wenig spöttisch zu mir.
Ich fauche.
"Das ist überhaupt nicht witzig!" Dann breche ich in Tränen aus. Phil wird ernst.
"Cashmere, es tut mir echt leid... das mit Rike. Ich weiß, es muss schwer für dich sein, aber... das iLeben geht weiter", sagt er beruhigend. Daran, dass Phil Rike auch gekannt hat, daran denke ich irgendwie überhaupt nicht.
*Ja, toll, dass du so optimistisch bist! ICH NICHT!*, fauche ich, aber in Gedanken. "Ich will nach iKamirus", flüstere ich tonlos. Phil lacht gequält.
"Sei nicht albern, Cash!" Er wird wieder ernst, todernst. "Das willst du im Leben nicht!"
"Doch", flüsterte ich wieder und hoffe, dass meine Augen schwarz vor Wut sind, damit Phil merkt, wie ernst ich das meine.
"Cash...", hebt er an, doch ich unterbreche ihn. "Können wir wenigstens zu meiner Mutter igehen?", fauche ich barsch. Phil scheint erleichtert.
"Gern!" Wir laufen los. Phil wirkt locker, doch ich bin angespannt und denke über meine Worte nach. Kamirus... Ich schlucke. Kamirus ist eine Insel, klar. Aber seit Langen schon ist sie auch viel mehr als eine Insel. Sie liegt dort, wo früher einmal die Insel Rügen lag. Sie gehört Chico, obwohl sie nicht direkt Chicos Hauptquartier ist. Sie ist sein Palast. Die ganze Insel ist ein einziger Palast. Riesig, prunkvoll und ungemein übertrieben und protzig. Dort lebt Chico. Dort leben seine Kinder, und ja, dort lebt auch mein Vater. Wenn er noch lebt. Er meinte damals, vor gut zwei Jahren, es wäre für uns alle besser, wenn er ginge, wieso auch immer. Aber ich bin der Meinung, er war nur feige. Keiner auf Kamirus, keiner von Chicos Bediensteten hungert. Sie haben Geld, Macht und Rechte. Natürlich ist das für manche Leute ein Traum. Ich finde es ja auch nicht schlecht. Nie hungern, Rechte und alles vom Feinsten. Aber ich würde niemals, NIEMALS meine Familie dafür verlassen.
Trotzdem will ich nach Kamirus. Nicht, um ein gutes Leben zu führen, wie mein feiger Vater.
Ich will mich rächen, rächen für diesen Anschlag und all das Leid, dass schon immer besteht. Ich will nach Kamirus.
Ich weiß, dass Phil das nie verstehen wird. Er ist ein wunderbarer Freund, aber das versteht er nicht...
Ich beiße mir auf die Lippe.
"Du, Phil,... ich meinte das vorhin ernst,... das mit Kamirus", sage ich schließlich, als wir eine irgendeine Straße überqueren; sie ist völlig zerstört.
Phil seufzt.
"Cash, das ist echt nicht lustig..."
"Nein, aber ernst", entgegne ich ruhig. "Cash...", setzt Phil wieder an.
"Lass uns gehen!", sage ich barsch. Er nickt, doch jetzt wirkt er weder locker, noch enthusiastisch. Ich schlucke.
"Tut mir leid, Phil!" Er reagiert nicht.
Meine Güte, was habe ich getan?
"Phil, ich...", beginne ich. Doch jetzt unterbricht er mich forsch: "Versuch es gar nicht erst, iCashmere! Verstehst du das echt nicht?! Ich habe Rike auch gekannt, ja?! Wieso denkst du nur an dich? Denkst du, nur du hast darunter zu leiden? Bist du echt so egoistisch?!" Es ist wie ein Messerstich ins Herz. Augenblicklich laufen mir die Tränen über die Wangen. Phils Blick wird erst weich, dann wieder hart. Ich beiße mir auf die Lippe, versuche diesen unglaublichen Schmerz zu unterdrücken. Das er so etwas je sagen würde, hätte ich nie gedacht. Obwohl er nicht wirklich im Unrecht ist.
Wir sind noch gut 500 Meter von der Zeitungsredaktion, dem Arbeitsplatz meiner Mutter entfernt, als ich es schon rieche. Mittlerweile hat sich meine Nase schon fast an den Geruch gewöhnt, doch er ist immer noch stechend. Rauch. Ich sinke in mich zusammen. Phil legt mir sofort den Arm um die Schultern. Aller Ärger, jeder Streit ist augenblicklich vergessen.
Langsam räuspert sich Phil: "Sehr... verwunderlich war es nicht, oder?"
Ich schlucke.
"Nein, nicht wirklich", murmele ich.
Es war ja auch erst gestern. Es war auch nur ein winziger Text in der Zeitung, die sich eh fast keiner, außer den Leuten auf Kamirus, leisten kann, nur ein paar Zeilen und eigentlich total unauffällig. Aber es hat gereicht.
Auch die Zeitungsredaktion ist in Trümmern. Wegen eines winzigen Textes:

Liegen wir richtig?
Mit dieser Frage beschäftigten sich Studenten und Studentinnen der Universität Renizilas in den letzten Wochen. Nach Forschungen, vor allem mit geschichtlichen Hintergründen, sind sie der Meinung, dass es nicht die beste und auch nicht die richtige Lösung ist, der Regierung blind zu vertrauen. "Eine verantwortungsvolle Regierung muss sich mehr um das Wohl der Bürger kümmern und ihre Rechte und Meinungen akzeptieren", so Louis Trinilas, Student für Staatsgeschichte. Ob man mit dieser Einstellung jedoch der Regierung beikommen kann, mag im Bereich der Spekulationen bleiben.
Stellanie Goratsch

Ich bleibe stehen und sehe auf. Wir haben die Zeitungsredaktion erreicht. Immer noch sind mir die Bilder der Uni grauenvoll in Erinnerung. Sie sind genauso schlimm, wie das, was gerade direkt vor uns geschieht.
Natürlich hat Phil Recht. Verwunderlich ist es nicht. Und im Rückblick mehr als sonnenklar. Wer das Konzept der Regierung, also Chicos Konzept in Frage stellt, muss eigentlich lebensmüde sein. Was haben sich meine Kollegen in der Uni, und ja, vor allem meine Mutter, Stellanie, dabei gedacht?! Es war doch so voraussehbar. Hätte es diesen Artikel nie gegeben, wäre Rike...
Die unterschiedlichsten Gedanken spinnen Fäden durch mein Gehirn. Ich kann es nicht kontrollieren und plötzlich ist da ein Netz. Ein Netz voll Wahrheit und Grauen. Ein Netz, in dem nur eine Frage zu stehen scheint, die ich nicht beantworten will: Ist meine Mutter letztendlich Schuld an Rikes Tod?

Kapitel 6

Mir wird übel. Stimmt das? Ist meine Mutter Schuld?
Ich liebe meine Mutter, ja. Aber der winzige Teil in meinen Gehirn, der noch klar denken kann, der beantwortet diese Frage einfach... mit einem knappen "JA!".
Der Schmerz überwältigt mich. Ja, sie ist Schuld. Hätte es den Zeitungsartikel nie gegeben, dann hätte Rike...
Nein! Ich darf diesen Gedanken nicht weiter denken. Egal, wofür meine Mutter verantwortlich ist, sie darf nicht tot sein. Ich würde es nicht ertragen. Erst Linda, meine liebe, süße Schwester, dann Rike, Max... nein, jetzt darf nicht meine Mutter in dieser Reihe kommen. Plötzlich bin ich wieder voll in der Realität. Das darf ich nicht zulassen; ich muss es verhindern. Egal wie!
Ich beginne zu rennen.
Phil nimmt den Arm von meiner Schulter.
"Warte Cashmere", ruft er mir hinterher, doch da komme ich schon an dem dürftigen Arztzelt vor dem Gebäude an.
Viele, zu viele Liegen stehen hier. Körper, mit lumpigen Tüchern bedeckt, mit schrecklichen Wunden. Die Luft hier ist eiskalt von all dem Schrecken. Ich kann mich nicht bewegen.
Aus meinen Mund kommen Laut, die sich nur ganz langsam zu Worten formen lassen: "Wo ist meine Mutter?"
Die anwesenden Leute antworten nicht. Plötzlich beginnt sich alles um mich herum zu drehen. Auf einer der Liegen erkenne ich das Gesicht meiner Mutter. Nein! Die Welt beginnt zu wanken. NEIN!!! Mein Magen dreht sich um und Tränen laufen in Sturzbächen meine Wangen hinunter.
Ein Arzt kommt zu mir.
"Was ist los?" Jetzt bin ich es, die schweigt. Unter anderen Umständen würde ich vor Wut kochen... aber wie soll ich jetzt denn wütend sein?
Plötzlich sehe ich aus den Augenwinkel eine Bewegung. ich halte die Luft an, blinzele... als meine Mutter den Kopf hebt.
"Cashmere!" Sie klingt unendlich erleichtert.
"Ja?", flüstere ich heiser. Sie lächelt.
"Es geht dir gut!" Langsam gehe ich zu ihrer Liege.
"Dir weniger, vermute ich", meine ich leise, ein wenig sarkastisch.
Meine Mutter gibt ein undefinierbares Geräusch von sich und zieht eine Grimasse. Dann zuckt mich den Schultern. Einer der Ärzte antwortet für sie. i"Nicht wirklich. Sie hat einen schweren Schock erlitten und leidet an Blutverlust." Er räuspert sich kurz. "Was allerdings, im Vergleich zu den meisten hier, nichts ist." Zögernd nicke ich.
Meine Mutter sieht mich an.
"Alles in Ordnung? Wieso bist du nicht in der Universität?" Ich schlucke, dann beginne ich ihr alles zu erzählen. Von dem Brand, von Rike und Max. Ich zögere, doch dann erzähle ich ihr auch von einen Vermutungen wegen dem Zeitungsartikel. Meine Mutter wirkt sehr betroffen.
"Das tut mir schrecklich leid!", sagt sie schließlich und ich sehe, dass Tränen in ihren Augen stehen, Tränen der Schuld. Ich schlucke wieder. Phil, der inzwischen auch im Zelt ist, streicht sanft über mein Haar.
"Ich kann Cash mit in mein Zelt nehmen, damit sie nicht so alleine ist, bis Sie wieder kommen, iStellanie!" Ich will gerade sagen, dass er auch mit in meine Wohnung kommen kann, da habe ich eine Idee.
"Und bis du wieder da bist, können wir unsere Wohnung jemanden geben, der sie nötiger hat." *Obwohl ich da schon auf Kamirus sein will*, füge ich in Gedanken hinzu.
Meine Mutter nickt. Ich wende mich an Phil.
"Wir gehen dann mal", sage ich ruhig und umarme meine Mutter fest. "Oder kann ich Ihnen hier inoch helfen?" Diese Frage gilt den Ärzten hier. Sie schauen sich zweifelnd an. Ich schlucke, das ist richtig fies.
"Ich bin Medizinstudentin... war, meine ich", sage ich trotzig. Einer der Ärzte neigt den Kopf. i"Danke, aber...wir schaffen das schon selber." Ich starre ihn an.
"Bei so vielen Verletzten?", frage ich herausfordernd. Der Mann schaut weg.
Ein junger Arzt sieht auf.
"Wir sind hier relativ gut ausgestattet. Aber sicher kannst du anderswo gut helfen." Er sagt das so einfach, aber wenn sie mich hier, bei so vielen Verletzten nicht brauchen, dann... bin ich wirklich so schlecht? Ich wende mich zum Gehen.
"Warte", sagt der Arzt. "Mein Freund hat eine Praxis, da kann er sicher Hilfe gebrauchen. Mehr als iwir hier. Wir sind hier wirklich ziemlich gut dran."
Ich nicke ruhig und lächele. Dann nimmt mich Phil am Arm und führt mich raus. Ich folge im stumm. Wenigstens kann ich irgendwo helfen.
Bei einem zurückhaltenden Räuspern bleibe ich stehen.
"Ja", frage ich und drehe mich um. Der junge Arzt lächelt.
"Ich wollte dir die Adresse geben." Ich schlucke. Das habe ich vor Schreck und Freude ganz vergessen. Der Mann reicht mir einen kleinen Zettel.
"Danke", sage ich leise. Der Arzt fasst mich am Arm, weil ich mich schon wieder zum Gehen gewandt habe.
"Und Cashmere..." Ich drehe mich wieder um.
"Ja?"
"Ich kenne ein Ehepaar mit fünf Kinder, da dachte ich... wegen deiner Wohnung..."
Ich lächele. "Immer gerne doch!"

Kapitel 7

Tränen treten mir in die Augen, als ich in Phils Zelt stolpere. Der Tag war der Schlimmste in meinem Leben.
Und ich will Ärztin werden! Ich denke an die Arztpraxis zurück. Nach dem, was in der Uni passiert ist, war ich fest entschlossen zu helfen.
Aber diese Praxis... sie war schrecklich. Schon im Flur... da war nur Blut. Ich schäme mich jetzt noch, wenn ich daran denke, wie ich einfach aus dem Gebäude gerannt bin. Aber das war nun einmal genug.
So viel Blut und so viel Leid.
Helfen, wollte ich. Helfen! Aber wofür? Damit die Leute bei nächsten Anschlag getötet werden. Niemals! Das ist vorbei.
Die Zeit ist vorbei, in der ich helfen wollte, für einen Moment. Wo ich nur heilen wollte, nicht retten. Jetzt, ist es anders. Jetzt geht es um ein Danach! Ein Danach, in dem man auch leben kann.
Es geht um die Zukunft der Menschen. Ich sehe nicht mehr jeden einzelnen Mensch, ich sehe eine Masse, die direkt ins Verderben rennt. Ich kann sie heilen, aber retten aus diesen endlosen Teufelskreisen, das kann ich nicht.
Sie werden nicht mehr hinauskommen, wenn nichts getan wird. Das muss ich verhindern. Ich, weil es kein anderer tut. Eigentlich müssten es alle machen, aber...
Phil kommt rein.
"Cash?" Er sieht mich forschend an. "Alles okay?" Ich blinzele.
"Nein." Phil legt den Kopf fragend zur Seite.
"Vergiss es", murmle ich schnell.
"Klar doch!", meinte Phil fast spöttisch. "Nichts ist passiert, oder?!"
Er lacht halb bitter, halb herausfordernd.
"Ich wünschte, du würdest mir vertrauen."
Ich schlucke, verziehe das Gesicht und schaue zu Boden. Was meint er bloß? Dass ich nicht ehrlich ihm gegenüber bin? Ich streiche mir leicht die Haare aus dem Gesicht.
"Tut mir leid, vielleicht morgen..." Phil nickt nur und legt sich schlafen. Doch ich spüre, dass er seine Gefühle nur vertuschen will...

Am nächsten Morgen wache ich früh auf. Ich sehe mich im Zelt um. Phil schläft noch. Ich denke an Kamirus. Phil will, dass ich ihm gegenüber ehrlich bin; das vermute ich zumindest. Aber ich... ich kann ihm nicht sagen, dass ich nach Kamirus will. Eigentlich habe ich es ihm ja schon gesagt, aber ich glaube, er nimmt mich einfach nicht ernst. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal den Mut aufbringen könnte, ihn daran zu erinnern. Oder doch, ich könnte es, aber dann würde er mir Vorwürfe machen oder noch schlimmer: Argumente einbringen, die meine ganze Entschlossenheit zunichte machen würden.
Neben mir regt sich Phil sanft. Ich schlage meine Bedenken in den Wind.
"Phil?", frage ich leise. Er blinzelt, stöhnt ein wenig.
"Cash?" Er richtet sich auf.
Als ich zögere, hakt er nach: "Was gibt's?"
Ich beiße mir auf die Lippe.
"Ich muss mit dir reden!"
Ich kann förmlich sehen, wie er sich ein sarkastisches "Ach nee!" verkneift.
"Phil, ich..." Mein Atem geht flach und mein Herz schlägt schnell, sehr schnell.
Ich hole tief Luft und beginne zu erzählen. Von meinem Besuch in der Praxis und der Ansicht, dass es so nicht weiter gehen kann. Als ich wieder Luft hole, um von Kamirus zu reden, unterbricht mich Phil.
"Ja, ich weiß, jetzt willst du dich rächen und nach Kamirus." Ich zucke zusammen. Er... er kennt mich so auswendig, dass es nicht verwunderlich ist und das ist auch nicht das, was mich stört... Seine Stimme klingt scharf, fast ein wenig gelangweilt. Meine Stimme versagt, ich bin unfähig zu reden.
"Phil, das... das ist mir echt wichtig... und ich...", bringe ich nach einer Weile hervor.
"Cash! Ich habe es dir mehrfach erklärt!" Phil klingt jetzt auch traurig, so traurig, dass mir die Tränen kommen.
"Phil, hör mir zu", sage ich nach einer Weile, als meine Stimme wieder einigermaßen normal klingt. Er schweigt, was ich als ein Zeichen sehe, weiter zu sprechen.
"Ich habe meinen Vater gehasst, als er ging. Ich habe ihm nachts hinterher geweint. Ich habe aber iauch viel nachgedacht... über Chico. Wie Leute sein müssen, um ihm zu folgen. Was sie dazu ibewegt. Ich meine, klar, er verspricht ihnen ein gutes Leben. Aber sie nehmen auch in Kauf, was er schlimmes tut; sie wissen es. Mir war nie klar, wieso sie das in Kauf nehmen. Ich denke, jetzt weiß iich es. Sie wissen es selber nicht. Sie denken, Chico ist der Herrscher und es hilft ihnen, ihm zu ifolgen. Ich habe nicht immer so gedacht, aber seit geraumer Zeit..."
Wieder hole ich Luft, Phil sieht mich mit seinen ruhigen, braunen Augen an.
"Die Menschen wollen Rechte haben, sie wollen gut leben. Ob sie einem Verräter und Tyrannen ifolgen, ist ihnen egal. Sie wissen selber nicht, wer Chico ist. Sie wissen nicht, nein, sie wollen inicht wissen, wie abgrundtief böse unser 'ach so toller' Herrscher ist. Sie interessiert nur ihr ieigenes Leben!"
Meine Lippe fängt an zu beben und ich bin sauer auf mich selber. Ich wollte ernst und ruhig bleiben. Jetzt kreische ich fast, so wie ein Kleinkind.
"Aber auch wir hier in Renizilas, in Palonien und auf der ganzen Welt wollen das gleiche. Aber wir iwürden nie zu Chico gehen." Jetzt kommt der schrecklichste Teil.
"Wir würde nur nicht zu Chico gehen, sonst würden wir alles tun. Auch... kämpfen..."
Phil sieht mich an, als wäre ich ein Außerirdischer.
"Du meinst, du würdest kämpfen! Du? Du würdest kämpfen für den Frieden? Bist du irre? Kampf ifür Frieden?!"
Das schreit er fast und er hätte es noch so leise sagen können, es zerschmettert meine Entschlossenheit in tausend winzige Stücke.
"Wir... wir müssen nicht kämpfen... Es gibt sicher auch andere Möglichkeiten...", krächze ich. i"Nenn' mir eine", ruft Phil zornig. doch ich weiß keine. Also gehe ich nicht darauf ein.
"Willst du etwa, dass es so bleibt wie es ist? Willst du Chico folgen, willst täglich deine Liebsten isterben sehen? Willst du nichts ändern?" Jetzt schreien wir beide unsere Seele aus dem Leib.
"Was meinst du damit? Denkst du, ich wäre Chico's Marionette?"
Phil wirkt so außer sich, dass ich Angst bekomme, trotzdem kontere ich: "Ja! Sonst würdest du nicht so reden! Du würdest sonst so denken wie ich!"
"Ach ja?! Ich würde an Krieg denken, würde kämpfen?! Bist du dir da ganz sicher?", zischt derjenige, den ich einst für meinen Freund gehalten habe.
"Willst du deine Liebsten verlieren?", fauche ich wieder.
Das trifft Phil, aber nicht so, wie ich wollte.
"Nein! Von meinen Liebsten ist niemand mehr übrig. Nur du!" Er sinkt in sich zusammen.
"Kamirus wäre dein TOD!", schreit er mich an und jetzt trifft er mich.
Mir bleibt die Luft weg, die Wahrheit trifft mich gegen die Brust, schmettert mich nieder. Ich schaffe es kaum stehen zu bleiben, aber ich kann nicht nachgeben.
"Und wenn es so wäre! Dann würden vielleicht wenigstens ein paar andere frei sein!"
"Ja? So denkst du?" Phil klingt immer noch wütend, aber jetzt schreit er nicht mehr. "Du denkst, idadurch würden Menschen frei werden?" Ich verschränke die Arme vor der Brust.
"Ja, genau so denke ich!"
"Und was ist mit den Leuten, denen es dadurch schlechter gehen würde? Die leiden würden, wenn idu stirbst?"
Das nimmt mir wieder den Atem. Wieso habe ich bloß mit ihm geredet? Wieso habe ich mich ihm anvertraut? Ich hätte gehen können, ich wäre jetzt schon längst weg... Aber ich habe es Phil erzählt und das sind die Argumente, die meine Entschlossenheit vernichten.
"Wer würde denn leiden?", frage ich jedoch weiter und mit einem herausfordernden Unterton in der Stimme. Phil zieht die Augenbrauen hoch und schüttelt stumm den Kopf.
"ICH!", ruft er schließlich so laut, dass ich zurückfahre.
"Aber... ich...", stottere ich und weiß plötzlich nicht, was ich sagen soll. Was meint er damit? Ja, wir sind Freunde, aber... Sicher, auch normale Freunde leiden unter einem solchen Verlust, aber der Ton in Phil's Stimme... der klingt nicht so...
Phil starrt mich an, versucht meinen Blick aufzufangen, doch ich drehe den Kopf weg.
"Es ist ja auch egal...", sagt er nach einem langen Moment. "Darum geht es ja nicht..."
Ich stemme die Arme in die Hüften, lege den Kopf herausfordernd zu Seite und frage: "Ach nein?! Worum geht es denn dann?"
Die braunen Augen werden zu Schlitzen, als sie mich von oben bis unten mustern, Abscheu in ihrem Blick.
"Es geht darum, dass ich niemanden in meinem Zelt haben will, der so denkt wie du. Der denkt, Krieg wäre die einzige Lösung. Der nur an Gewalt denkt,... wie du!" Ich weiche noch einen Schritt zurück.
"Was soll das heißen?", frage ich, jetzt mit zittriger Stimme. Phil durchbohrt mich mit seinem Blick.
"Du weißt, was das heißt, Cashmere", meint er hart.
Ich halte die Luft an, bin vollkommen still.
"Geh!", brüllt Phil mir direkt ins Gesicht und bricht mir damit fast das Herz.
Kapitel 8

Vollkommen ausgelaugt sitze ich auf dem kalten Stein, am Ende des Piers, direkt am Wasser. Die Wolken hängen grau und unheilvoll dicht über der dunklen Ostsee. Das salzige Wasser sieht in der nahenden Dämmerung fast ein wenig zäh aus, schwappt langsam, Welle für Welle auf den verlassenen Sand weiter rechts von mir. Ich starre in die Ferne, warte, dass das Schiff am Horizont erscheint. Als ich heute Nachmittag, so gegen 5 Uhr, alles mit dem alten Fährmann ausgemacht habe, war ich noch voller Elan. Jetzt bin ich nur noch ein vollkommen verlassenes, zusammen- gebrochenes Bündel, dass keinen Willen mehr hat.
Ich denke an Phil. Was habe ich bloß getan? Wieso versteht er mich nicht und... wieso verstehe ich ihn nicht? Widerwillig und nur halb entschlossen schüttele ich den Kopf.
Ich muss ihn vergessen, muss alles vergessen, was ich zurücklasse. Ich muss kämpfen. Doch vor meinem inneren Auge sehe ich immer wieder Phils wütendes Gesicht und höre ihn "Kamirus wäre dein Tod!" brüllen.
Mit hängenden Schultern schaue ich auf das weite Meer. Wird das Boot überhaupt kommen? Zitternd stehe ich auf und laufe ein wenig auf und ab, um mich warm zu halten. Doch meine Gedanken kreisen wild umher. Kamirus... wie wird es dort wohl sein? Werde ich meinen Vater sehen? Was ist, wenn mich jemand erkennt, der nicht von Kamirus kommt? Dass mich jemand auf Kamirus als Cashmere Goratsch kennt, ist eher unwahrscheinlich. Mit halb geschlossenen Augen starre ich auf die weite See. Irgendwie kann ich noch immer nicht glauben, dass ich wirklich nach Kamirus kann. Es war purer Zufalls, dass die Frau meine Kristallkette gekauft hat. Ich hatte es ja nicht geplant, irgendwas zu verkaufen. Vor allem, weil ich der Meinung war, ich hätte nichts. Und dann hat mich diese reiche Frau, vermutlich kam sie von Kamirus, gesehen und gesagt, die Kette wäre unglaublich. Dafür hätte sie mir auch unglaubliche 50 Daren gegeben. Das ist unsere Währung. Also eigentlich die Währung von Chico, seinem Gefolge und Kamirus. Der Rest der Welt hat schließlich kaum Geld.
Aber 50 Daren. Das ist ein Vermögen! Aber ich habe gesagt, dass ich mit so viel Geld nichts anfangen kann. Vor allem nicht in bar. Wo sollte ich denn etwas kaufen? Erst wollte ich, dass sie das Geld an ein Krankenhaus spendet, aber dann hatte ich die Idee mit den Karten. Okay, dass ich in Kamirus Urlaub machen wollte, war etwas weit hergeholt, zumal Phil mir prophezeit hat, das ich dort sterben würde. Aber die Dame hat mir das tatsächlich abgenommen. Sie hätte mir sicher auch ein Luxusschiff bezahlt, aber ich muss ja nicht so auffällig nach Kamirus kommen.. So habe ich jetzt einen Platz auf irgendeinem winzigen Frachtschiff. Nicht gerade ein wirklich angenehmer Platz, aber wenigstens nicht so auffällig.
Ich setzte mich wieder und schlinge die dünne Jacke noch fester um mich. Unter ihr habe ich nur ein schlichtes Kleid und das sieht zwar recht schön aus, wärmt aber nicht gerade. Wieder wandert mein Blick auf das Meer hinaus, während ich warte, warte auf einen winzigen Lichtschein oder das ferne Geräusch eines Nebelhorns. Doch die Wolken bilden eine undurchdringliche Wand, die noch von wabernden Nebelschwaden verstärkt wird und außer dem gleichmäßigen Rauschen des Meeres ist es vollkommen still. Ich blicke in den fast schwarzen Himmel. Kann auf einem so schrecklichen und zerstörten Planeten, wirklich so wunderschöne, äußerliche Ruhe sein? So friedliche Ruhe?
Würde jetzt ein Außerirdischer auf unsere Erde herab schauen und mich sehen, er würde vermutlich denken: *Was für ein schöner, friedlicher Planet!*
Und wieder kommen die Zweifel. Was hilft Krieg schon?
Doch ich weiß, dass es diese Ruhe nur hier gibt. Anderswo hungern und leiden die Menschen. Lieber kämpfe ich, als, dass ich zusehe wie all die Leute sterben. Oder... will ich meine Gefühle nur in Wut und Krieg ertränken? Bin ich herzlos, wie Phil sagt? Egoistisch? Ich wünschte, er wäre hier. Dann könnte ich ihm sagen, dass es mir leidtut. Dass ich es einsehe... Oder wäre das gelogen? Sehe ich es ein? Oder will ich mich nur mit Phil vertragen, weil ich Streit mit ihm hasse? Ich glaube nicht, dass ich es wirklich einsehe.
Mein Atem geht langsam und ich zwinge mich, nicht an Phil zu denken. Doch es ist zwecklos. Für einen Moment erlaube ich mir, bei Phil zu sein. Würde er mir verzeihen? Mir vergeben? Oder sollte ich ihn einfach vergessen? Vermutlich sollte ich ihn vergessen. Laut Phil werde ich ja auf Kamirus sterben. Was hilft es da, an ihn zu denken?
Ein leises Hupen in der Ferne und ein winziger Lichtstrahl bringen mich zurück in die Realität. Ich schaue auf. Das Schiff. Endlich!

Nur ganz langsam steige ich die Holzplatte, die als Brücke zum Schiff dient, hinauf. Am liebsten würde ich umdrehen, wegrennen und einfach hier bleiben. Hier, auf dem festen Land. In dem Land, in dem ich aufgewachsen bin. Palonien. Meine Entschlossenheit ist hin, doch ich habe mir geschworen, für dieses Land zu kämpfen. Für mein Land.
Der Kapitän sieht mich an, als ich schließlich auf dem Schiff bin.
"Wir halten noch ein wenig hier. Um Proviant zu holen und die Fracht aufzuladen."
Proviant holen? Hier? Fast muss ich kichern. Wo wollen die hier Proviant herholen? Doch ich bleibe ernst. Das ist nicht die richtige Zeit für Scherze.
Der Kapitän zeigt mir schnell meine Kabine. Direkt neben dem Frachtraum. Es stinkt bestialisch, aber es ist unauffällig. Okay, vielleicht habe ich etwas übertrieben, als ich sagte, ich will auf keinen Fall gesehen werden. Wie auch immer. Ich strecke mich auf dem kleinen Bett aus. Es ist mehr eine Liege, aber besser als nichts. Die Fahrt nach Kamirus dürfte nicht allzu lange dauern. Am Morgen sind wir sicher da. Denke ich...
Ich stehe wieder auf. Noch einen letzten Blick will ich auf das Land werfen, dass ich retten will. Werde ich es retten? Werde ich nichts tun können? Nur sterben? Oder noch schlimmer: sogar allen schaden?
Und wieder denke ich an Phil. Er glaubt nicht, dass ich die Welt retten werde und ehrlich gesagt, wenn Phil in meiner Nähe ist, glaube ich das auch nicht. Gedankenverloren stehe ich am Fenster, als der Kapitän herein kommt.
"Wir fahren gleich los", sagt er bloß und verschwindet wieder, bevor ich die Zeit habe, zuzustimmen. Ich putze das Fenster ein wenig sauber und schaue hindurch, um noch ein wenig Heimat einzufangen. Ein letztes Bild?
Eine einzige Gestalt kommt an den Strand und winkt heftig. Ich runzele die Stirn und schüttele den Kopf. Sicher nur Fantasie.
Doch da ist wirklich eine Gestalt. Sie kommt angerannt und winkt, aber nicht fröhlich, sondern eher heftig und entschlossen. Ich schaue sie an und habe das Gefühl, dass sie direkt in meine Augen schaut.
Doch bevor ich etwas rufen kann, legt das Boot ab. Wie betäubt stehe ich am Fenster. Ich kenne die Gestalt.
"Nein!", brüllt diese Gestalt jetzt. "Warten Sie! Warten Sie!"
Phil!

Kapitel 9

Erregt haste ich den schmalen Flur entlang, bis ich zum Kapitän komme.
"Halten Sie an! Halten Sie an", rufe ich mit trockenem Mund. Der Mann hebt die buschigen Braunen und runzelt die Stirn.
"Bitte", flüstere ich.
Langsam, ganz, ganz langsam dreht der Kapitän am Steuerrad. Das Boot steuert wieder landwärts. Erleichtert atme ich aus, obwohl ich nicht mal gemerkt habe, dass ich die Luft angehalten habe.
Phil blinzelt sanft, als ich von der schmalen Brücke springe.
"Phil", flüstere ich tonlos. Er blickt auf.
"Hi, Cash", sagt er, als wäre nichts geschehen.
Ich bin so erleichtert, dass er hier ist, dass ich nicht wütend sein kann. Ja, wieso sollte ich auch wütend sein? Es wäre verständlich, wenn Phil mich für immer hassen würde. Ich hingegen habe keinen Grund, ihm unfreundlich zu begegnen. Oder doch? Ich weiß es einfach nicht...
Mit den Zähnen tief in die Lippe gegraben, schüttele ich den Kopf um wieder klar denken zu können. Trotzdem verstehe ich nichts mehr.
"Was... äh... was machst du hier?" In meiner Frage ist kein Vorwurf, doch Phil zuckt trotzdem zurück. Ich kneife die Augen zusammen.
"Du... musst dich nicht angegriffen fühlen", sage ich ruhig. "Es war nur reine Neugierde. Weil ich... iäh... ich dachte, du willst nichts mehr mit mir zu tun haben." Wieder zuckt Phil heftig zurück.
"Sag so etwas nicht", murmelt er.
Ich hebe nur verwirrt die Augenbrauen. Phil winkt ab.
"Was ist denn jetzt?", höre ich die tiefe Stimme des Kapitäns. "Wir sollten dann mal fahren, wenn wir je ankommen wollen."
Noch bevor ich zu Phil blicken kann, sagt dieser schon: "Ich komme mit Ihnen!"
"Aber... das Geld", murmele ich noch, doch da ist Phil schon fast im Boot. Der Kapitän lächelt nur. i"Man kann auch mal eine Ausnahme machen." Ich nicke leicht verwirrt.
"Äh... ja, danke."
Der Kapitän schenkt mir ein zahnloses Grinsen.

Als ich in die winzige Kabine komme, steht Phil reglos an der Wand. Ein langes Schweigen breitet sich über uns aus, wie ein Teppich.
"Hübsch hier", meint Phil schließlich, doch er klingt nicht sehr humorvoll. Ich nicke mit verzerrtem Gesicht.
Nach einer weiteren, langen Pause, frage ich schließlich ganz leise: "Was meintest du vorhin?" Mehr nicht.
Ich hätte jede Antwort erwartet. Von "Wann vorhin?" bis zu "Ach, egal!" oder auch "Ich weiß nicht, was du meinst...". Aber nie hätte ich das gedacht, was jetzt kommt.
Phil starrt einfach zu Boden. Ohne Antwort. Ich will schon gekränkt die Hände in die Hüften stemmen, da schaut Phil plötzlich auf.
"Du meinst... als ich sagte 'sag so was nicht'?"
Ich antworte nicht, nicke nur ganz leicht. Phil holt kurz Luft.
"Du... du musst es einfach so annehmen, aber ich... ach, ich kann es nicht erklären..." Ich lege den Kopf leicht schief, doch nicht herausfordernd.
"Dann versuch es", sage ich möglichst freundlich.
Wieder blickt er zu Boden.
"Es... es ist einfach so..., dass ich mehr für dich empfinde, als umgekehrt du für mich..." Er zögert kurz, doch als ich ihn fragend, ja richtig verständnislos ansehe, sprudelt es nur so aus ihm heraus. i"Ich kann das nicht steuern, aber für mich bist du halt mehr als nur eine Freundin. Du bist mein Ein und Alles. Ich könnte nicht leben ohne dich. Ich halte es nicht aus, wenn du nach Kamirus gehst!" Tausend Fragen liegen mir auf der Zunge, doch ich schaffe es kaum, eine zu stellen.
"Aber... wieso hältst du mich dann nicht davon ab? Wieso willst du nicht, dass ich gar nicht erst dieses Schiff besteige... oder bestiegen habe...", sage ich, obwohl es nicht mal ein richtiger Satz ist, nur undurchsichtiges Gestammel. Phil atmet tief durch.
"Ich... ich weiß nicht. Vermutlich, weil ich mir sicher bin, dass ich dich nicht aufhalten kann, egal iwas ich sage."
Ich verstehe langsam gar nichts mehr.
"Aber... du kommst mit? Nach all dem, was du heute Morgen gesagt hast?" Jetzt klinge ich nur noch müde.
"Ja, Cashmere", sagt Phil kaum hörbar. "Weil ich ohne dich nicht leben könnte."
Meine Lippen sind ganz trocken, doch ich fühle mich ein wenig bestätigt.
"Dann glaubst du nicht mehr, dass ich in Kamirus sterben werde?"
Phil schüttelt den Kopf und jetzt lächelt er ein ganz klein wenig, wenn auch mit sehr verzogenem Gesicht.
"Doch..."
Noch bevor ich Zeit habe zu fragen, fügt er hinzu: "Aber wenn Kamirus dein Tod ist, dann soll es auch mein Tod sein. Und bis dahin helfe ich dir, eine Menge Ärger zu machen."
Ich starre ihn an, als wäre er verrückt, doch dann nicke ich.
"Danke!" Phils Augen beginnen zu leuchten.

Nach einer Weile blicken wir ruhig aufs Meer hinaus.
"Wann werden wir auf Kamirus ankommen?", fragt Phil schließlich.
"Ich glaube, morgen früh in der Dämmerung", erwidere ich leichthin.
Ich denke zurück an das Gespräch, dass wir gerade eben geführt haben. Wie Kamirus sein wird, was uns erwartet. Was wir dort machen wollen, war seltsamerweise überhaupt kein Thema. Vielleicht, weil wir zu viel Angst haben.
Plötzlich sieht Phil mich durchdringend an.
"Ich weiß, dass du nach Kamirus willst... Aber ich weiß nicht so richtig, wieso..." Ich runzele die Stirn und habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Ich dachte, das hätten wir oft besprochen...Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke... Wieso will ich nach Kamirus?
Ich will alles wieder in Ordnung bringen. Aber wie soll ich das in Ordnung bringen, was durch das Karoson geschehen ist.
Das ist wie eine Urgewalt. Das kann ich nicht ändern, da kann ich kämpfen, wie ich will.
"Ich... vielleicht will ich die Regierung..." Ich stocke. Moment. Regierung? "Ich will, dass Chico ieinsieht, was er angerichtet hat." Phil schüttelt den Kopf.
"Cashmere, das hat nicht bei Chico angefangen... und auch nicht bei Wender Eretro. Und das weißt idu auch. Die beiden sind bloß eine 'Folge'..."
"Es hat beim Karoson angefangen", ergänze ich und wieder wallt die Angst in mir auf, dass mein Unterfangen sinnlos ist,... weil ich nichts ausrichten kann.
"Ja, Cash. Es hat beim Karoson angefangen. Und das kannst du nicht ändern, das kannst du nicht stoppen", sagt er ruhig und eindringlich.
Mir wird eiskalt. Ich weiß, was er mir sagen will. Und Phil weiß auch, dass ich es weiß. Es ist sinnlos. Ja, gerade zu ein verzweifeltes Handeln. Ich kann nichts tun.
"Was willst du denn dagegen tun? Gegen etwas, das es seit Ewigkeiten gibt?", hakt Phil nach, obwohl ich es längst verstanden habe. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich sicher nichts ändern kann, dass es sinnlos ist. Ich kann nichts tun. Was will ich dann versuchen?
"Ich weiß es nicht, Phil. Ich weiß es einfach nicht!"

Kapitel 10

Der Motor brummt, als ich aufwache. Ich stöhne. Kamirus. Neben mir regt sich Phil. Möglichst leise stehe ich auf, um ihn nicht zu wecken. Durch das winzige, verstaubte Fenster in der Kabine schimmert, blass graues Morgenlicht. Mit einem unterdrückten Gähnen schleiche ich zum Fenster. Die Sonne ist noch nicht ganz aufgegangen, doch der Himmel leuchtet schon in klaren Blau.
Ich denke an Renizilas, jedenfalls das, was man noch Renizilas nennt. Nie, nie sah es dort so wunderschön aus wie jetzt. Still, und... friedlich. Ich denke an meinen Abend am Hafen. Liegt diese Stille am Meer?
Das Fenster lässt sich nicht öffnen. Nur zu gern würde ich etwas frische Luft in die stickige Kabine lassen. Nach einer Weile sanften Probierens, reiße ich mit Gewalt an dem Fenstergriff. Nichts passiert.
"Cashmere?" Phil ist wach. Ich drehe mich langsam um.
"Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken", sage ich förmlich, beiße mir jedoch sofort auf die Lippe. Seit unserem Gespräch gestern Nacht, bin ich ihm gegenüber bemüht höflich und vielleicht etwas zu kalt. Phils Lippen sind nur noch ein schmaler Strich.
"Nicht so schlimm." Ich lächele, mit leicht verzogenem Gesicht. Dann schaue ich weg. Aus irgendeinem Grund ist es mir peinlich, dass ich ihm gegenüber gemein und kühl bin, während er sich Mühe gibt, freundlich zu sein.
"Woran denkst du?", fragt Phil nach einer Weile, in der wir einfach nur schweigend dastanden. Anstatt zu antworten, schaue ich aus dem Fenster... und reiße die Augen auf. Vor uns liegt eine traumhafte Insel. Sie sieht aus, als würde sie golden glänzen. Das muss wohl an dem riesigen Palast liegen. Ist ja nicht zu übersehen. Die Insel sieht auch sonst aus, wie ein Paradies. Strahlender Himmel, üppige Vegetation. Auf einem Planeten, der von Schadstoffen regelrecht zerfressen ist? Phil stellt sich neben mich und legt mir den Arm auf die Schulter.
"Ich würde sagen: Willkommen im 'Eretro-Paradies'..."
Ich blicke mich um, als ich vor Phil vom Boot steige. Es ist, als wäre diese Insel kein Teil unseres Planeten. Plötzlich merke ich, was hier anders ist, als in Renizilas. Die Luft! Sie ist klar, rein und perfekt zum Atmen. Ich sehe Phil an. Zögernd nickt er und führt mich zu einem ruhigen Plätzchen. Ich setze mich auf den Boden und schaue mich um: Wir sind in einem kleinen Hain. Doch nicht so ein Hain, wie man es in Renizilas kennt, nein, hier ist das ganz anders. Die Bäume sind prächtig: Groß und üppig grün. Wunderschön!
Und doch so unverständlich... Wie kann auf der Erde so viel Schönheit gedeihen? Wo doch Phil Recht hat, dass unser ganzes Leid durch das Karoson kommt.
Das ist so verrückt.
Eine Weile sitzen wir schweigend da.
Schließlich sagt Phil: "Ich verstehe das einfach nicht!" Ohne zu antworten stehe ich auf. "Warte, iCash! Wo willst du hin?" Ich drehe mich um.
"Mich interessiert es halt, was hier los ist", erwidere ich trocken.
"Cash", hebt Phil wieder an, "Vergiss nicht, dass uns niemand sehen sollte." Ich verdrehe die Augen.
"Cash..." Phils Stimme zittert leicht.
"Ja ja, schon gut!" Ich schaue ihn an und versuche ein winziges Lächeln. Streitereien kann ich jetzt echt nicht gebrauchen.
Phil folgt mir.
"Das kann einfach nicht sein! Kamirus müsste genauso vom Karoson betroffen sein, wie jede iandere Insel. Und alles Festland." Ich runzele die Stirn.
"Vielleicht... ist das auf dem Wasser ja anders, äh... weil... Ach, keine Ahnung!" Ich ende frustriert. Phil zupft sich nervös an der Lippe.
"Das würde mich echt interessieren", meint er nachdenklich. Ich verziehe das Gesicht.
"Mich auch."
Inzwischen stehen wir mitten im Zentrum von Kamirus. Jedenfalls von dem Vorort, den man Kamirus nennt. Die kleine Stadt vor Chicos Palast. Ich wende mich an Phil.
"Hast du eine Idee, wie wir hier unentdeckt bleiben?", frage ich, mit leicht ironischem Unterton. Phil seufzt entnervt.
"Cash, bitte..."
"Ja ja, war nicht so gemeint", versuche ich, alles schnell wieder in Ordnung zu bringen, als unser, bis jetzt schon etwas gespanntes, Verhältnis auseinander zu brechen droht.
"Das überlegen wir uns einfach später, ja?", lächele ich gezwungen. Ich kann sehen, wie Phil sich auf die Lippe beißt. Seit er mir seine Liebe gestanden hat, muss es schrecklich für ihn sein, mit anzusehen, wie ich bemüht höflich versuche, ihn auszublenden. Mir ist jetzt schon klar, dass wir nie wieder normale Freunde sein können.
Ich sehe mich auf dem Platz um. Auch hier ist die Luft perfekt. Sauber und klar. Plötzlich fällt mir die Frau aus Kamirus ein, die mir meine Kette abkaufte. Sie wirkte angespannt, gestresst, verunsichert und auch leicht krank. Ich habe nicht darauf geachtet. Was wusste ich denn, was die für Probleme hatte? Woher sollte ich auch wissen, dass jene irgendwann einmal von Bedeutung sein sollten? Aber jetzt ist das alles sonnenklar. Sie hatte einfach Schwierigkeiten zu atmen, weil sie ihr ganzes Leben auf Kamirus und mit total reiner Luft verbracht hat. Irgendwie logisch!
Aber woher kommt diese Luft? Wie gesagt, nirgendwo auf der Erde gibt es so saubere Luft, Kamirus mal ausgenommen.
Ich blicke zu Phil. Er lächelt leicht.
"Die Luft ist wirklich gut, oder?", meint er mit leicht bebender Stimme. Ich beiße die Zähne zusammen und verdrehe die Augen.
"Ach nee, ist klar! Aber woher kommt die Luft?", frage ich genervt.
Zweifellos ist die Antwort "Von oben!" nicht ganz richtig. Es hätte mich aber auch nicht wirklich gestört, die Antwort war sowieso dumm. Nur, dass sie nicht von Phil kommt. Ich fahre herum. Vor mir steht ein Mann, Ende 50.
"Was haben Sie gesagt?", frage ich verwirrt und trotzdem leicht herausfordernd.
"Ich sagte 'von oben'. Aber nun lass dich ansehen, Cashmere! Du bist in 3 Jahren ganz schön igewachsen!"
Ich starre den Mann weiter an.
"Was meinen Sie?", fragt Phil neben mir. Der Mann ignoriert ihn.
"Es ist schön dich wiederzusehen, Tochter!", sagt er stattdessen zu mir. Tochter? Plötzlich begreife ich! Er hat sich aber auch extrem verändert. Na klar, jetzt ist er reich. Er...
Dieser Mann... ist mein Vater!

Kapitel 11

Meine Augen weiten sich. Wieso habe ich ihn nicht erkannt? Habe ich das alles so sehr versucht, zu verdrängen?
"Nun, das gleiche kann ich nicht von dir behaupten", antworte ich nach einer Weile auf seine Frage, als ich meine Stimme wiedergefunden habe, kalt. Mein Vater starrt mich schockiert an.
"Aber Cashmere..." Seine Stimme zittert.
"Kein 'Aber'!", fauche ich. "Du bist abgehauen! Weil du dir hier ein besseres Leben erhofft hast! iUm mich und Mutter hast du dich keinen Deut geschert."
Meine Stimme überschlägt sich fast. Mein Vater, dieser Verräter, schaut mich verlegen an, fast ein wenig unwohl.
"Wie geht es denn Stellanie?", fragt er zurückhaltend, fast kleinlaut.
"Ach, jetzt da ich da bin, interessiert es dich wohl, du..."
Weiter komme ich nicht. Phil legt mir sanft die Hand auf den Mund und zieht mich weg.
"Das reicht fürs Erste, Cash. Wenn Sie uns bitte kurz entschuldigen würden", fügt er an meinen Vater gewandt hinzu. Der zuckt bloß mit den Schultern, seinen Gesichtsausdruck kann ich unmöglich deuten.

"Cash!" Phil schaut mir in die Augen. Ich bin schon wieder kurz davor, wieder in Tränen auszubrechen; aber diesmal vor Wut.
"Cash", wiederholt Phil scharf. Ich schlucke.
"Ja?"
"Was sollte denn das jetzt?", fragt Phil überraschend sanft. Ich zucke verärgert mit den Schultern. i"Was denn? Was habe ich denn jetzt schon wieder gemacht?", erwidere ich trotzig. Phil zögert einen Moment lang.
"Nichts", sagt er schließlich unruhig. Ich schnaube.
"Siehst du?!"
Für einen Augenblick ist es fast ausschließlich still. Nur ein Vogel singt weiter froh vor sich hin.
i"Trotzdem", bricht Phil schließlich das Schweigen. "Der Mann, also dein Vater... kommt ja von iKamirus, oder?"
Ist diese Frage rhetorisch gemeint? Will er darauf eine Antwort?
Ich starre ihn an, die Augen zu wütenden Schlitzen verengt.
"Also", fährt Phil fort, als ich nicht antworte. "Dein Vater weiß sicher, was hier passiert und ipassiert ist. Ich verwette mein heutiges Abendbrot - falls es eins gibt! -, dass er ein so schlechtes iGewissen hat, dass er uns nicht nur antworten, sondern vielleicht auch helfen würde. Vor allem idir!"
Verrückterweise entfährt mir ein mehr belustigtes, als verächtliches Schnauben. Phil glotzt mich schon wieder an, wie ein betrunkenes Schaf. Okay, vielleicht nicht ganz so, aber ich bin gerade, wieso auch immer, in so dämlich-lustiger Stimmung, dass es mir so vorkommt.
Obwohl, wie ich mir ins Gedächtnis rufe, um wieder ernst zu werden, er nur einen vernünftigen und ernsten Vorschlag gemacht hat. Zu spät! Ich breche in heilloses Kichern aus.
Was ist bloß los mit mir? Wieso lache ich? Wieso ausgerechnet jetzt?
Phil weicht zurück, doch auch er hat einen amüsierten Ausdruck auf dem Gesicht. Mein Blick schnellt für höchstens eine Millisekunde zu ihm hoch. Doch das reicht schon und ich gehe wieder in einem endlosen Strom aus Kichern unter, vor allem, weil Phil jetzt auch angefangen hat, zu lachen.
Mit blitzenden Augen richtet sich Phil schließlich auf. Ich kann in seinem Blick sehen, dass er genauso denkt, wie ich: Wir müssen echt verrückt sein!
Verrückt, aber auch entschlossen zu handeln. Ziemlich stumpfsinniges Handeln, aber na gut.
Erst jetzt wird mir wieder bewusst, wie stark doch die Freundschaft zwischen Phil und mir ist. Sie hat nicht nur einen unglaublichen Streit und eine Liebeserklärung überstanden. Langsam bin ich mir ziemlich sicher, dass sie so schnell nicht mehr brechen kann. Hoffentlich!
Phil blickt mich durchdringend an. Der Spaß ist vorbei, jetzt kommen wir zum ernsten Teil: Ich soll meinen Vater aushorchen und mich mehr oder weniger bei ihm einschleimen. Noch vor ein paar Stunden hätte mir die Vorstellung ein Schaudern über den Rücken gejagt, aber missfällt mir der Vorschlag nicht unbedingt. Geschieht diesem Verräter doch recht!
Plötzlich muss ich an vorhin denken. Wie muss das wohl für Phil ausgesehen haben? Eine fast 22-Jährige, die einen 50-jährigen Mann anschreit. Und dann noch ihren Vater! Gut, dass nur Phil zugesehen hat.

Mein Vater wirkt bedrückt, als wir zu ihm kommen. Jetzt gilt es!
"Du, Vater... äh... Papa..." Ich ziehe das Wort in die Länge.
"Ähm... tut mir Leid wegen vorhin, wir... äh... mussten nur was besprechen..."
Mein Vater erwidert nichts. Ich denke an Phil. Er hat nichts gesagt, wie ich mich bei meinem Vater gut stellen soll. Und lügen erscheint mir die beste Idee. Egal, was Phil gesagt hat.
"Na ja, wir mussten überlegen, ob wir dir vertrauen können..." Phil presst die Lippen zusammen, bleibt aber stumm. Gut so!
"Es ist so, wir wollen auch nach Kamirus ziehen. Ich und... Phil. Stellanie weiß nichts davon und iich dachte, du könntest uns verraten. Ich weiß, das klingt jetzt komisch, aber..."
Mit bedeutungsvollem Blick fahre ich fort: "Es wird uns einfach alles zu viel in Renizilas... Wir dachten hier ist es besser."
Mein Vater nickt.
"Ich könnte euch durchaus helfen." Ich lächele.
"Gut! Es gibt aber noch einige Dinge, die wir gern wissen würden." Mein Vater wirkt jetzt ziemlich glücklich."Natürlich, kommt mit!"
Er geht los. Triumphierend schaue ich Phil an.
"Du darfst mich ab jetzt nur noch 'Königin der Einwicklung' nennen!" Er lächelt sanft.
"Lieber Prinzessin, meine Kleine!"
Kapitel 12

"Ich weiß, ich weiß!", sagt mein Vater.
Phil schüttelt sich immer noch vor Lachen und auch ich finde die 'Käseglockentheorie', wie man sie hier nennt, absurd - aber auch ungemein praktisch.
Ebenjene Theorie besteht darin, dass ein bestimmter Stoff eine Art Schutzhülle über einem bestimmten Bereich bildet, die Ozonschicht nachstellt und so eine vollkommen normale Atmosphäre wieder herstellt. Hier auf Kamirus nennt man diesen Stoff 'Anti-Karoson' (sehr einfallsreich!) und eben jene Theorie halt 'Käseglockentheorie'.
Das hat uns mein Vater die letzte halbe Stunde in seiner Wohnung, wo wir jetzt sind, erklärt. Ich weiß das mit der halben Stunde so genau, weil ich hier zum ersten Mal in meinem Leben eine Uhr gesehen habe. Manche der Professoren in der Uni hatten natürlich Uhren, aber hier habe ich zum ersten Mal eine richtige, und auch noch ziemlich elegante Standuhr gesehen. Auch wenn ich weiß, dass das unglaublich kindisch ist, musste ich sie deswegen die ganze Zeit anstarren.
Aber das Wesentliche der letzten Zeit, kam doch von meinem Vater. Hier auf Kamirus wird eine riesige Menge von dem Anti-Karoson gelagert. Genug, um die ganze Welt wieder 'normal' zu machen. Wie genau man eine solche Käseglocke über einem Bereich (und nur über dem Bereich) erzeugt, habe ich nicht erfragt, und auch nicht, wie man dieses Anti-Karoson gewonnen hat.
Vielleicht ist man zu irgendeinem Planeten geflogen, wo es dieses Element gab oder hat es chemisch hergestellt. Was weiß ich?! Diese Leute haben ja Geld wie Heu!
Ich blicke zu meinem Vater, um herauszufinden, ob er noch etwas sagen will. Er schweigt und sieht uns auffordernd an.
Also nehme ich mich zusammen und frage höchst interessiert: "Und wo findet man diesen Stoff?" Phil starrt mich an, als sei ich verrückt.
*Gehts noch auffälliger*, scheinen seine Augen zu fragen. Ich hebe kurz und abwehrend die Hände und verdrehe die Augen. Echt mal! Wie will er denn an Informationen kommen?! Lieb und höflich sagen, was wir vor haben und wofür wir diese Informationen brauchen, oder was?
"Anti-Karoson, meinst du?" Mein Vater hat anscheinend von diesem Gedankenaustausch überhaupt nichts mitbekommen.
"Ganz hier in der Nähe in einem speziellen Gebäude. Gut gedämmt, damit das Zeug nicht iunkontrolliert raus kommt, oder so... Was weiß ich! So gut kenne ich mich damit nicht aus."
Ich starre ihn mit zur Seite gelegtem Kopf an.
"Wieso soll es nicht unkontrolliert entweichen? Man könnte die ganze Welt damit retten!" Ich kann förmlich sehen, wie er sich unwohl windet. Er druckst sich irgendwie ein wenig herum.
"Äh...Äh... Ich... Äh..."
So ist das also! War irgendwie klar! Auch die Leute auf Kamirus sind nicht einer Meinung mit Chico; sie widersprechen ihm aus Angst nicht.
"Ja, ja, schon gut. Nicht so wichtig", sage ich hastig und muss mir ein Grinsen verkneifen. "Kannst du uns dieses 'Gebäude' denn zeigen?"
Wieder bleibt Phil der Mund vor Überraschung fast offen stehen.
Doch mein Vater schluckt den Köder sofort.
"Aber sicher doch, Liebes", meint er herzlich. "Kommt mit."
Mit einem weiteren triumphierend Blick zu Phil folge ich ihm.
"Na", murmele ich leise. Auf Phils Gesicht flackert ebenfalls ein Grinsen auf.
"Du bist genial. Verrückt, aber genial!"

Die Laserstrahlen blinken, während mein Vater mit dem Wärter spricht. Fasziniert starren Phil und ich diese Technik an.
"Unglaublich, oder?", flüstert Phil.
"Hm... schon." Doch ich bin sehr unsicher. Den ganzen Weg bis hier hin hat Phil mich immer wieder beobachtet, befragt, beobachtet und wieder befragt.
Was ich hier will, hat er gefragt. Nach jeder Frage habe ich mit den Schultern gezuckt, das Gesicht verzogen und fast mit den Tränen gekämpft.
Ich dachte, er würde an mich glauben.
Außerdem muss er doch jetzt eigentlich wissen, was ich hier will. Oder?
"Ich will das Anti-Karoson", sage ich leise und tonlos. Phil verdreht nicht die Augen, schüttelt nicht genervt den Kopf.
Seine Stimme klingt merkwürdig heiser, als hätte er starken Schnupfen, als er sagt: "Ich weiß, Cash. Und ich denke wie du!"
Meine ganze Spannung zerfällt mit einem Schlag.
"Du willst auch... das Anti-Karoson holen?"
Phil wirkt erstaunt über diese Frage.
"Natürlich. Für mein Land. Unser Land. Unsere Welt! Für unsere Erde! Niemand weiß davon, Chico lässt alle darüber im Dunkeln..."
"Ja und?", frage ich unsicher.
"Würde jemand darüber, also über das Anti-Karoson, Bescheid wissen, dann wäre auch klar, dass imanche Menschen besser leben. Und dieser Jemand würde dann auch so leben wollen. Das Volk iwürde unzufrieden werden, es könnte zu einer Revolution kommen. Genau das will Chico nicht, ideswegen verschweigt er es. Und genau deswegen müssen wir es aufdecken."
Zeit zum Antworten habe ich nicht, mein Vater kommt zurück.
"Oh Mann", stöhnt er. "Das kann ja teuer werden. Aber wir dürfen rein!"
Ein winziges Lächeln erhellt mein Gesicht.
"Danke, ...Vater."

Gelangweilt blicke ich auf die riesigen Behälter. Ich muss mir ein Gähnen verkneifen. Diese Tour ist sinnlos. Was soll man denn hier sehen? Dicke Fässer, als ob man hochgefährliches Material lagern wollte, soweit das Auge reicht. Mäßig interessant!
Und Informationen bekommt man hier auch nicht. Jedes Mal, wenn ich gefragt habe, wieso man das Anti-Karoson so lagern würde, statt es entweichen zu lassen und die Welt zu 'normalisieren' - also auf den Stand zu bringen, den Louis mir in seinem Brief zu beschreiben versucht hat -, hat sich unser Begleiter kommentarlos abgewandt, fast als hätte er mich nicht gehört.
"Es ist blöd, dem Typen das nachzutragen. Vielleicht hat er dich wirklich nicht gehört", hat Phil gesagt, als ich vor Wut schnaubte. Wie kommt er darauf?! Natürlich hat der Typ mich gehört!
Langsam wird mir das echt zu viel hier! Ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung für solches Gelaber.
Was wollen wir hier?
Ja, irgendwie ist es klar: Ich will das Anti-Karoson, aber diese Behälter wirken nicht so, als würden sie jeden Moment sagen: "Öffne mich."
"Wollen wir jetzt weiter gehen?", fragt unser 'ach so toller' Leiter der Tour. Diesmal bin ich es, die schweigt. Phil stupst mich sanft an.
"Cash", flüstert er. Unbeteiligt sehe ich mich im Raum um. Mein Blick schweift herum, bis er plötzlich an einem Pult mit Knöpfen hängen bleibt. Ich schlucke. Ein paar dieser Knöpfe gedrückt und das Anti-Karoson ist mein. In mir kribbelt sofort alles und ich beginne leicht zu zittern.
"Cash?", wiederholt Phil leise.
"Äh... geht schon mal vor. Ich... Ich komme gleich nach."
Phil sieht mich durchdringend an. Ich verdrehe die Augen.
"Mach schon!"
Ich höre selber, dass meine Stimme vor Nervosität gespannt ist, doch ich versuche, genervt zu klingen.
Phil dreht sich ab, doch unser Begleiter schüttelt den Kopf.
"Nein!"
Ich starre ihm wütend in die Augen. Schließlich zucke ich mit den Schultern. Der Weg zur Tür ist nicht lang, doch ich schaue gefühlt bei jedem zweiten Schritt zu dem Pult. Ich muss dahin. Aber wie?
Plötzlich höre ich ein Poltern und erstarre. Was ist los? Schnell schließe ich zu der Gruppe auf. Mein Vater hält sich die Stirn. Er blutet.
"Was ist passiert?", frage ich.
"Er ist mit dem Kopf gegen den niedrigen Türrahmen gestoßen. Wir sollten hier nur noch kleine iLeute hineinlassen", erklärt unser Begleiter ärgerlich. "Du"- Er zeigt auf Phil.- "Hilfst mir ihn nach idraußen zu führen. Und du folgst uns einfach", sagt er zu mir.
Von wegen! Das ist meine Chance. Ruhig warte ich, bis sie mit meinem Vater gegangen sind.
Der Arme! Pech für ihn, Glück für mich! Tja, danke, ihr Türrahmen!
Mit weichen Knien laufe ich zum Schaltpult.
Drei Sekunden tippe ich wild auf den Knöpfen herum, bis schließlich das Wort "Passwort" erscheint.
Ich halte die Luft an. Jetzt gilt's. Meine Finger zittern, doch plötzlich fliegen sie, ohne, dass ich es steuern kann, über die Tastatur.
C-H-I-C... Halt! Was tue ich da? Wieso bin ich mir so sicher? O-E-R... Ich habe nicht mal gemerkt, dass ich weiter geschrieben habe. E-T-R-O Meine Finger berühren die 'Enter'-Taste.
Ich muss mich an der Kante des Pults festhalten, um nicht umzufallen, denn im selben Moment geht der Alarm los.

Kapitel 13

Das Signal dröhnt in meinen Ohren, als Phil mich am Arm packt und aus dem Gebäude zieht. Ich schüttele den Kopf, um meine Gedanken zu klären.
"Lauf", stößt Phil hervor und endlich nehme ich die Beine in die Hand, renne, renne einfach nur weg. Schon nach wenigen Minuten merken wir beide, dass wir dieses überstürzte Tempo nicht mehr lange durchhalten können. Phil wird langsamer und dirigiert mich sanft nach links auf ein Gebüsch zu.
"Rein da!", keucht er und ich gehorche automatisch.
Mit fliegendem Atem sehe ich mich um. Werden wir verfolgt? Noch kann ich niemanden entdecken, doch ich halte es für ausgeschlossen, dass man uns einfach so gehen lässt. Nach dem, was wir... nein, was ich getan habe.
Dieses schreckliche Schuldgefühl trifft mich so hart und wirklichkeitsnah, dass ich einfach auf den Boden sinke und in Tränen ausbreche.
Phil reagiert nicht. Er steht da und starrt mich unverwandt an. Ich erwarte keinen Trost von ihm und erhalte auch keinen. Aber ich bin ihm dankbar, dass kein "Cash, was sollte das denn?" oder "Bist du von Sinnen?!" kommt. Ich bin ihm dankbar für sein Schweigen.
Lange knie ich da, völlig aufgelöst. Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, das Anti-Karoson zu stehlen? Und was war das doch für eine sinnlose, gerade zu erbsenhirnige Idee, dass das Passwort ausgerechnet 'Chico Eretro' sein könnte, obwohl das doch der dümmste aller Codes wäre.
Langsam sind meine Tränen versiegt, auch wenn meine Augen noch etwas brennen. Phil räuspert sich.
"Nie kann man dich alleine lassen", stöhnt er. "Ist aber auch wirklich blöd, dass der Alarm schon ibeim ersten Versuch losgeht. Was passiert denn dann, wenn einer der Wärter sich mal vertippt?", fragt er schließlich, vollkommen neutral. Als wäre nichts geschehen. Als wären wir nicht gerade mit halsbrecherischer Geschwindigkeit aus einem hochsicherheitsgefängnisähnlichen Gebäude geflohen. Wie schafft er das nur?
"Was..."
Doch bevor ich diese Frage zu ende stellen kann, legt Phil mir die Hand auf den Mund. Stumm starre ich in seine vor Schreck geweiteten Augen.
"Sie kommen!", zischt er.

Ich zittere am ganzen Körper, bin unfähig zu sprechen, obwohl Phil längst seine Hand von meinem Mund genommen hat.
"Wir teilen uns auf. Du gehst da lang." Er zeigt in eine vage Richtung. "In der Abenddämmerung iam Hafen?"
Die Frage lässt gar keinen Widerspruch zu. Was auch egal ist. Nicht mal bestätigend nicken, kann ich. Still harren wir eine Weile aus. Als niemand mehr zu sehen ist, stößt mich Phil an. Ich sehe ihm ein letztes Mal in die Augen und laufe los.
Am liebsten würde ich rennen, doch ich reiße versuche, mich zurückzuhalten. Ich darf nicht auffallen! Mit gemäßigtem, aber trotzdem eilendem Schritt gehe ich in die Richtung, die Phil mir gezeigt hat. Immer wieder sehe ich mich um. Nichts. Ich bin allein.
Mit schnellen Schritten schlage ich die Richtung ein, in die es, glaube ich jedenfalls, zum Strand geht. Wieder drehe ich mich um... und sehe die Männer. Blaue Hemden, graue Hosen. Das sind sie. Unsere Verfolger.
Ich weiß nicht mehr, was ich mache. Bodenlose Angst ergreift mich. Schlimmer, als je zuvor. Als ich los renne, kann ich mich nicht mehr kontrollieren. Ich rase die staubige Straße entlang.
"Halt, stehen bleiben!"
Ich höre nicht hin, renne weiter, weiter... höre Schritte, spüre wie grobe Hände mich packen, mich festhalten, jeden Gedanken an Flucht ersticken.
"Lasst mich los!" Nicht mal meine Stimme habe ich mehr unter Kontrolle. Ich kreische und weine.
Dann drückt mir einer der Männer ein Tuch ins Gesicht und alles wird schwarz.

Als ich die Augen wieder öffne, bin ich gefangen in einer Art Käfig. Ich sehe mich um. Die Männer sind immer noch da, sie ziehen mich durch lange Korridore. Ich muss nicht fragen, wo wir sind und was sie von mir wollen. Sie bringen mich zu Chico. Höchstwahrscheinlich wissen sie auch, was ich getan habe. Woher auch immer...
Voller Verzweiflung und Hilflosigkeit fließen mir die Tränen über die Wangen. Ich habe keine Chance. Phil hatte Recht. Kamirus ist mein Tod.
Jetzt ist auch alles egal. Mir ist egal, wie dumm ich vorhin war. Egal, was Phil gesagt hat, was ich gesagt habe...
Was mir wirklich zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass ich nie mehr nach Hause komme.
Wie gern wäre ich jetzt in Renizilas! Aber nicht um meiner Willen, sondern für meine Mutter. Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich weggegangen bin, und jetzt werde ich nicht einmal zurück kommen.
Doch dieser Gedanke hat etwas... Anstoßendes. Er macht mich wütend. Ich will nach Hause! Nicht für mich, sondern für meine Mutter!
Ich höre die Schritte der Wächter, doch jetzt werden sie immer leiser. Sie gehen weg! Ich sehe mich um, aber keiner ist bei mir zurück geblieben. Wie unvorsichtig! Doch das ist meine Chance!
Ich stemme mich mit aller Kraft gegen die Tür... und purzele ungeschickt auf den Teppichboden der Korridore. Ich fasse es nicht! Die Tür war offen! Sind diese Leute hier verrückt? Denken sie, alle würden ihnen folgen, bloß, weil hier Chico wohnt? Denken sie, dass niemand diese einfache Chance zur Flucht ergreifen würde?
Doch dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ist schließlich nicht mein Problem, sondern mein Glück, dass die Wachen die Tür nicht abschließen.
Ich nehme mich zusammen und haste die schmalen Korridore entlang. Wo ist hier bloß der Ausgang? Ich starre abwechselnd auf das tolle Muster auf dem roten Teppich und wieder in die Korridore hinein.
Vielleicht sind es drei, vielleicht auch fünf Sekunden zu lange, die ich auf das Teppichmuster schaue. Jedenfalls kommt eine Ecke, die ich relativ gut meistere, ich laufe weiter, drehe mich für einen kurzen Moment nach möglichen Verfolgern um und stoße plötzlich gegen eine andere Person.
"Kannst du nicht aufpassen?", flucht der junge Mann.
Ich sehe ihn kurz an. Er ist ungefähr 20 Jahre, hat sehr grüne Augen, schwarze Haare und unglaublich blasse Haut.
"Oh, entschuldige. Tut mir schrecklich leid. Können Sie mir zufällig sagen, wo es hier zum iAusgang geht?", flöte ich.
Der Mann hat sich anscheinend wieder gefangen und starrt mich fast belustigt an.
"Lass mich raten." Kurz schaut er auf ein Gerät an seinem Handgelenk. "Cashmere Goratsch, 21, ifast 22 Jahre alt, Medizinstudentin aus Renizilas, gesucht wegen versuchten Raubs einer sehr iwichtigen Substanz."
Ich lasse meine hochgezogenen Schultern sinken.
"Woher weißt du das?"
Der Mann lächelt.
"Kennst dich hier wohl nicht so gut aus?" Er hält mir das Gerät hin. "Von meinem Vater."
Ich nicke. War ja klar. Heute ist echt nicht mein Glückstag. Eigentlich genau das Gegenteil.
Vor mir steht Edward Eretro.
Chicos Sohn.


Kapitel 14

Hinter mir ertönen Schritte. Die Wachen.
Jetzt ist wirklich alles aus. Und dass ich weggerannt bin, beteuert nicht gerade meine Unschuld.
Weiter fliehen scheidet ebenfalls aus. Wohin sollte ich auch laufen? Ich sitze in der Falle, vor mir steht Chicos Sohn, hinter mir werden jeden Moment seine treuen Wächter auftauchen.
Trotz meiner Angst starre ich Edward einen kurzen Moment in die Augen. Sie sind wirklich unnatürlich grün und schimmern leicht. Für einen Moment verliere ich mich in seinem Blick, obwohl ich weiß, dass hinter mir gleich die Wächter um die Ecke biegen werden.
In Edwards Blick flackert kurz etwas auf, das ich nicht deuten kann. Doch noch bevor ich es schaffe mich zu regen, hebt Edward den Arm.
Mit einer schnellen, aber bestimmten Geste stößt er mich gegen die Wand. Ich höre ein lautes "Ratsch", doch noch bevor ich mir vorstellen kann, was in diesem Moment passiert, berührt etwas Weiches mein Gesicht. Ein Stück Stoff. Ein Vorhang.
Ich taste mich mit den Händen voran; sehen kann ich nichts, denn es ist stockduster. Ich bin anscheinend in einer kleinen Kammer neben dem Flur, offenbar durch einen dichten Vorhang von ihm getrennt.
Mein Gehirn läuft auf Hochtouren, doch ich begreife einfach nicht, wieso Edward das getan hat. Meine Finger bekommen den Vorhang zu fassen. Ich ziehe daran und erhalte im nächsten Moment einen Tritt. Wie elektrisiert zucke ich zurück.
"Nicht bewegen", zischt Edward und ich gehorche unwillkürlich.
Steif wie eine Statue stehe ich in der Kammer und lausche dem Gespräch vor der Tür.
"Nein, ich habe niemanden gesehen. Hier ist alles ruhig", antwortet Edward gerade den inzwischen angekommenen Wärtern. Die erwidern etwas, das so leise gemurmelt ist, dass ich es nicht verstehen kann.
"Ja, ja, ich werde achtgeben. Aber ich glaube nicht, dass sie sich hier blicken lässt, sie flüchtet isicher ins Ausland..." Edward klingt abweisend.
Wieder kommt ein Kommentar von den Wärtern, dann leiser werdende Schritte.
"Komm heraus, Cashmere", meint Edward schließlich, als die Schritte eine Weile verklungen sind. Ich schiebe vorsichtig den Vorhang zur Seite. Das grelle Licht des Flurs blendet mich nach den wenigen Minuten in der Finsternis der Kammer.
Ich sehe mich zögernd um.
"Danke hätte auch gereicht." Edwards Stimme klingt ebenso ironisch, wie ungemein kratzig. Ich beiße mir auf die Lippe.
"Danke", murmele ich. Ich bin frustriert, weil mich ausgerechnet Chicos Sohn rettet musste. Und er auch noch unglaublich gut aussieht.
Und jetzt? Ich bin unschlüssig, was ich machen soll. Natürlich muss ich zum Strand, um Phil zu treffen und... um zu fliehen. Aber das kann ich jetzt irgendwie nicht machen. Immerhin sollte ich vielleicht noch gewisse Dinge mit Edward klären.
Der blickt mich mittlerweile durchdringend an.
"Und jetzt? Du willst nach Renizilas zurück, oder? Hast du ein Schiff?"
Ich bin völlig geschockt, dass er mich wirklich so gehen lassen will.
"Äh... solltest du mich nicht eher aufhalten? Ich meine, du bist Chicos Sohn", ergänze ich unsicher. Es sieht aus, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen. Das verstehe ich nicht. Ist er enttäuscht? Aber... wieso?
"Du verstehst es nicht, oder?"
Stumm schüttele ich den Kopf.
"Denkst du, ich bin einverstanden mit dem, was mein Vater tut?", fährt Edward fort. "Er iunterdrückt Leute, er..."
Auf diesen Gedanken bin ich noch nie gekommen. Dass Chicos eigener Sohn gegen seinen Vater sein könnte. Mit halb offenem Mund starre ich ihn an.
"Nimmst du mich mit nach Renizilas?", fragt Edward vollkommen unvermittelt.
"Was?"
Ich kann es nicht glauben. Edward starrt mich nur wortlos an. Ich schlucke, einmal, zweimal...
"Ja, das tue ich!", flüstere ich schließlich. "Das tue ich!" Meine Stimme ist jetzt fest.
Edward lächelt unruhig und ich werde sofort wieder von Zweifeln geplagt. Wie soll es denn aussehen, wenn ich mit Chicos Sohn nach Renizilas fahre? Die Vorstellung ist einfach nur unwirklich!
"Wie stellst du dir das vor?", frage ich unsicher. "Ich meine, wir brauchen ein Schiff..."
"Na ja, ich... habe ein kleines Motorboot, für... äh... 2 Leute...", murmelt Edward. Ich schnaube.
"Schön... aber ich bin mit Phil hier..."
"Phil?" Edward klingt überrascht. "Wer ist Phil?"
"Mein Freund. Er... hat mich begleitet."
"Aha..."
An Edwards Stimme höre ich, dass er bei 'Freund' an etwas anderes denkt, als... das was ich für Phil empfinde. Ich schätze, er denkt, ich wäre mit Phil zusammen. Was ja nicht direkt aus der Luft herbei gezogen ist. Immerhin... Phil ist ja in mich verliebt. Ich bin nicht in ihn, aber...
Am liebsten würde ich trotzdem scharf protestieren, doch dann besinne ich mich. Was geht Edward das an? Obwohl er so klang, als ob... es ihm etwas ausmachen würde, wenn etwas zwischen mir und Phil... laufen würde.
Edwards Stimme holt mich abrupt in die Wirklichkeit zurück.
"Äh... lauf doch schon mal zum Hafen... ich komme gleich nach und organisiere da ein Boot, iokay?!"
Ich nicke etwas verdattert, aber stumm. Mit unsicheren Schritten und Edwards Blick im Nacken mache ich mich auf den Weg.

Phil sieht unendlich erleichtert aus, als ich am Strand ankomme.
"Wo warst du, Cash? Ich bin bald krank vor Sorge geworden."
Ich schlucke.
"Es war nur so... ach, ich erklär' es dir später..."
Ich spüre, dass Phil mit der Antwort nicht ganz zufrieden ist, doch ich muss es vorerst dabei belassen. Als Phil sich wieder fängt, will ich ihm möglichst schnell von Edward und dem Palast erzählen, doch er lässt mich kaum zu Wort kommen.
"Wir sollten uns jetzt mal ein Boot organisieren... Wir müssen bald los! Vielleicht werden wir iverfolgt! Das können wir nicht riskieren!"
Unwillkürlich nicke ich, wenn gleich mir im nächsten Moment einfällt, was Edward gesagt hat.
"Äh... Phil, da ist noch etwas, das ich dir sagen sollte...", beginne ich, breche aber je ab, als ich bemerke, wie sich Phils Augen auf etwas hinter mir fixieren. Wie unhöflich! Langsam drehe ich mich um. Edward!
"Verschwinde, Cash... schnell!", zischt Phil, aber ich bleibe, wo ich bin.
"Du musst Phil sein, richtig?", sagt Edward und ich merke, wie sich sein gehobener Sprachstil von dem Akzent eines einfachen Renizilasers grundlegend unterscheidet.
"Äh...", setzte ich an, doch Phil unterbricht mich ein zweites Mal.
"Und wenn es so wäre?", faucht er trocken.
"Du musst dich nicht aufregen", entgegnet Edward gelassen, was Phil unheimlich auf die Palme bringt.
Doch bevor er etwas erwidern kann, schneide ich ihm kühl das Wort ab.
"Sei kein Idiot und halt mal für eine Sekunde die Klappe!", murmele ich verärgert. "Edward will iuns helfen."
Phil schnaubt unwillig.
"Das hat ja auch alles Zeit, aber wir sollten dann mal los. Das Boot ist bereit", redet Edward dazwischen, woraufhin ich ihm einen feurigen Blick zuwerfe. Muss er sich ausgerechnet jetzt einmischen?
Doch ich kann mich beherrschen.
"Er hat recht, wir müssen los!" Meine Stimme hat einen hektischen Beiklang. "Wir müssen uns ibeeilen! Wo ist das Boot?"
Zweifellos ist die Frage an Edward gerichtet, umso erstaunter bin ich, als mir eine weibliche Stimme antwortet.
"Gut einhundert Meter nach Norden."

Kapitel 15

Ich fahre herum. Vor mir steht eine Frau mit langen, schwarzen Haaren und ebenjenen grünen Augen, welche Edward besitzt. Der wiederum starrte die Frau, die etwas älter als er ist, entgeistert an. Phil stöhnt. Ich schaue ihn an und ziehe die Augenbrauen hoch.
"Was?"
"Das... ist Layla!"
Ich verziehe das Gesicht.
"Aha..."
Layla sieht mich durchdringend an.
"Hast du ein Problem damit?"
Ihre Stimme ist ruhig, aber herausfordernd. Man hört, dass sie Edwards ältere Schwester ist.
"Wollt ihr dann los?", fragt sie. Ich hatte erwartet, dass die Frage spöttisch wäre, aber das ist sie nicht.
Inzwischen hat sich Edward anscheinend wieder gefangen.
"Layla, was willst du hier?"
Seine Stimme überschlägt sich fast, während die Antwort seiner Schwester wieder vollkommen ruhig entgegen kommt.
"Dasselbe sollte ich dich fragen!"
Edward lässt die Schultern sinken, doch das stört Layla nicht.
"Es wäre übrigens besser, wenn wir dann losfahren, bevor Vater merkt, dass wir weg sind..."
"Wir?!"
Im selben Moment, wie ich stellt Phil die Frage.
"Ja, klar, wir!", entgegnet Layla völlig ruhig.
"Ja, aber du...", beginnt Edward.
"Verzeih mir, Bruderherz, aber ich glaube, du hast in dieser Angelegenheit nicht viel zu sagen."
Edward reagiert mit einem ziemlich giftigen Blick zu seiner Schwester.
"Lasst uns fahren!", meint Layla. Anscheinend kann sie nichts, aber auch überhaupt nichts aus dem Konzept bringen.

Der Frachter tuckert in mäßigem Tempo voran. Diesmal ist die Kabine größer und wesentlich komfortabler.
Unruhig sehe ich mich um. Die Anwesenheit von Edward und Layla finde ich sehr... Ich kann es nicht beschreiben. Mir macht es eigentlich nichts aus, mehr Verbündete zu haben, nur... dass es ausgerechnet Chicos Kinder sein müssen. Edward soll immerhin nach Chicos Tod die Herrschaft übernehmen. Sich mit so jemanden zu verbünden, kann recht nützlich sein... oder einfach nur lebensmüde.
So langsam halte ich es in der Kabine nicht mehr aus. Sie ist zwar größer, aber genauso stickig wie die auf der Hinfahrt. Mit wenigen unsicheren Schritten gehe ich zur Tür. Ich höre ein dumpfes Geräusch, drehe mich um und sehe Phil und Edward. Anscheinend haben beide im gleichen Moment ebenfalls einen Schritt nach vorne gemacht und sind dabei leicht gegeneinander gestoßen.
Ich bemühe mich, ernst zu bleiben.
"Danke, ich brauche keine Begleitung", sage ich zuckersüß, aber leicht gekränkt. Denken sie etwa, ich wäre ein kleines Kind, das kaum alleine laufen kann? Dieser Gedanke verletzt mich erst recht.
Jetzt macht auch Layla einen Schritt nach vorne.
"Dürfte ich dich begleiten?"
Ich lasse die Schultern sinken, die ich unbewusst hochgezogen habe und ziehe die Augenbrauen zusammen. Ist sie schwerhörig, oder was? Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt?
"Tut mir leid", meint Layla, aber sie klingt mehr heiter als reuig. Ich erwidere nichts.
*Sprich weiter*, fordere ich sie nur stumm auf.
Layla neigt nur den Kopf, als hätte sie mich tatsächlich verstanden.
"Aber ich würde gerne mitkommen; es gibt ein paar Dinge, die ich mit dir bereden müsste."
Ich zucke mit den Schultern und öffne die Tür. Als wir draußen sind, macht Layla sie schnell hinter uns zu, damit die Jungs uns nicht folgen können.
"Wo willst du hin?", fragt sie schließlich.
"Nach oben!"
Stumm neigt sie den Kopf. Selten macht sie das ja nicht.

Ich atme die kühle, frische Luft ein, als wir endlich - der Weg kommt mir wie eine Ewigkeit vor - an der Reling des Bootes angekommen sind. Eine Weile stehen wir schweigend da, atmen die Freiheit ein.
"Weißt du, sie werden uns verfolgen. Sie lassen uns nicht einfach gehen", sagt Layla unvermittelt. Ich drehe ihr den Kopf zu, der Wind übertönt ihre Stimme fast, doch sie starrt weiterhin aufs Meer.
"Meinst du?" Meine Stimme bringt Zweifel mit.
"Ganz sicher. Vermutlich denken sie, du hättest uns entführt. Für meinen Vater muss es iunvorstellbar sein, dass die eigenen Kinder ihn verraten würden."
"Sicher." Ich zucke mit den Schultern. "Das muss es doch für jeden Vater sein, oder?"
Layla schweigt.
"Wieso wollt ihr denn mitkommen?", frage ich unverblümt.
"Wieso?" Layla klingt erstaunt.
"Ja, wieso?"
"Hm..." Layla sieht mich kurz an. "Wieso hast du das Anti-Karoson geklaut?"
"Hab ich gar nicht!", verteidige ich mich knapp.
"Aber du wolltest es!"
"Und? Das hat nichts mit meiner Frage zu tun!"
"Dann beantworte mir meine Frage und ich beantworte dir deine", meint Layla ruhig.
"Hm... warum ich da Anti-Karoson-Zeugs klauen wollte..." Ich stocke.
"Genau", murmelt Layla.
"Weil es die Welt retten würde?!" Meine Frage schäumt fast über vor Ironie und Sarkasmus.
"Und was willst du mit der geretteten Welt? Ruhm und Ehre? Ein besseres Leben für dich?" Laylas Frage ist meiner von Gefühlen her nicht unähnlich.
"Ich will, dass..." Moment, was will ich?
Plötzlich habe ich das Gefühl in die Vergangenheit zu reisen. Wieder auf einem Schiff, auf dem Weg nach Kamirus.
"Ich weiß, dass du nach Kamirus willst... Aber ich weiß nicht so richtig, wieso...", höre ich Phil in meinen Ohren. Damals wusste ich es nicht, aber jetzt... Jetzt weiß ich es!
"Ich will für alle eine normale Welt!", sage ich ruhig. In meinem Sinn von normal eben...
Layla neigt wieder den Kopf, billigt meine Antwort stumm.
"Und genau das... wollen wir auch!", murmelt sie.

Kapitel 16

Stumm schaue ich Layla in die Augen.
"Ja", flüstere ich bloß.
"Lass uns nach unten gehen, mir ist kalt", meint sie, als wäre nichts besonderes geschehen. Ist es für sie vielleicht auch nicht, aber für mich.
Irgendwie war das schon klar. So ähnlich hatte Edward mir das ja gesagt. Aber Layla ist halt seine große Schwester und sie übermittelt ihre Meinung eben überlegter... und erwachsener, obwohl sie nur ungefähr ein oder zwei Jahre älter ist als er.
Ich laufe hinter Layla die Treppe hinunter. Ein leises Geräusch lässt mich herum fahren.
"Hast du das gehört?", flüstere ich sorgenvoll.
"Was? Nein, ich hab nichts gehört", meint Layla.
Ich haste die Treppe wieder hoch. Nichts! Ich atme aus. Sicher nur Einbildung.
Als ich wieder runterkomme sieht mich Layla erwartungsvoll an.
"Nichts! Komisch, ich dachte, ich hätte etwas gehört..."
Layla neigt den Kopf, aber jetzt wirkt auch sie besorgt.

Edward und Phil sehen uns zweifelnd an, als wir wieder in die Kabine kommen.
"Und?", fragt Phil.
"Was soll sein?", entgegne ich in Gedanken woanders. Mich beschäftigen echt gerade andere Dinge. Das seltsame Geräusch beispielsweise.
Phil zuckt nur mit den Schultern und setzt den Blick auf, der bei ihm in den letzten Tagen anscheinend Standard ist. Er schaut immer so abwesend und sorgvoll.
"Kann ich mal mit dir reden, Cash?", fragt er nur.
"Sicher."
Phil weist auf die Tür, ich verdrehe die Augen, folge ihm aber trotzdem auf den Korridor.
"Was gibt's?", will ich wissen.
"Es ist nur... wegen den beiden..." Er zieht 'den beiden' in die Länge, als scheue er sich davor, die Namen auszusprechen. Das macht mich leicht empört. Immerhin ist Layla eine kluge, junge Frau und sehr nett. Und Edward... na ja, er ist halt ihr Bruder.
"Ja, und?" Ich reiße mich ruckartig in die Wirklichkeit.
"Na ja, sie sind Chicos Kinder", murmelt Phil.
"Und? Das ist das Problem?"
"Äh... ja, ich meine, wie sollen wir ihnen denn trauen können?"
Ich muss sehr viel Gegenwillen aufbringen, um ihn nicht anzuschreien.
"Schon klar. Und wie soll man, deiner Meinung nach, der 21jährigen Tochter eines Verräters itrauen?", entgegne ich sarkastisch.
Ich muss mich wirklich am Riemen reißen, um ruhig zu bleiben.
"Wieso rechnest du ihnen ihre Herkunft an und mir nicht?", fauche ich.
Phil kaut auf seiner Lippe.
"War ja klar", flüstert er und sieht ziemlich unglücklich aus.
"Was war klar?", zische ich mit funkelnden Augen.
"Dass du... in ihn bist!"
"Was soll ich in wen sein?"
"Verliebt, in Edward!"
Der Name kommt unglaublich abfällig über Phils Lippen.
"Ich? In Edward? Bist du verrückt?" Jetzt bin ich nicht mehr sauer, sondern einfach nur überrumpelt.
Ich? Verliebt? In... Edward? Nein, das... das...
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Wie kommt Phil darauf? Und wieso macht ihn der Gedanke so... Halt! Das weiß ich. Er... ist ja in mich verliebt... Kein Wunder, wenn er da sauer ist, außer... Ich bin ja nicht mal in Edward verliebt. Oder... doch?
Nein, ich bin nicht in diesen hochnäsigen... äh... Typen verliebt. Er ist so arrogant (Layla auch etwas, aber...), aber... irgendwie... auch süß?
Nein, ich bin nicht in ihn verliebt. Er ist nicht mal halb so toll, wie seine scharfsinnige Schwester.
Apropos Layla, ...
"Langsam sollten wir mal wieder reingehen", meine ich.
Phil schnaubt. Doch in dem Moment kommen die beiden Geschwister aus der Kabine.
"Fertig?", fragt Edward und lächelt mich so komisch an.
Mann, aber er sieht wirklich gut aus, das ist mir gar nicht soo aufgefallen... Aber... nein, er mag gut aussehen... aber ich bin nicht in ihn verliebt! Wobei...
Ich schüttele energisch den Kopf.
"Also nicht fertig?", hakt Layla besorgt nach.
Oh, Mist, Edward hatte ja etwas gefragt.
"Äh... doch, klar!", murmele ich.
Layla sieht mich an, mit einer Mischung aus Spott und Zweifel. Ich schnaube und erwidere ihren Blick verärgert. Dann sehe ich zu Phil. Der hat es ja fein hinbekommen, mich aus dem Konzept zu bringen! Danke!
"Wir kommen gleich in Renizilas an", bemerkt Edward.
Zu Hause! Endlich!

Kapitel 17

Unsicher stehen wir vier am Strand. Was nun?
"Und jetzt?", fragt Edward leise. "Wo sollen wir jetzt hin?"
"Also, einen Palast haben wir hier nicht, an Hotels mangelt es auch", erklärt Phil spöttisch, doch ich unterbreche ihn scharf: "Phil!"
Er zuckt bloß mit den Schultern. Ich kann einige schöne Schimpfwörter gerade noch zurückhalten.
Ist er wirklich so idiotisch? Denkt er ehrlich ich... sei in Edward verliebt? Hat er mich nicht noch vor wenigen Tagen 'egoistisch' genannt? Und er? Das ist so ungerecht!
Mir geht es nicht um Phils Verhalten Edward gegenüber, nein, das hier kränkt mich persönlich! Und ziemlich tief!
Ich werfe Phil einen feurigen Blick zu, er weicht zwar zurück, Reue zeigt er jedoch nicht wirklich.
"Ist doch wahr!" Echt, er klingt fast wie ein bockiges Kleinkind und es kostet mich viel Selbstbeherrschung und jede Art von Stolz, ihm das nicht an den Kopf zu werfen.
"Also wirklich! Beruhigt euch bitte!", unterbricht uns Laylas herrische Stimme. "Ihr werdet euch idoch nicht wie Kleinkinder benehmen! Ihr seid längst erwachsen!"
Ich nicke abwesend, muss mir aber eingestehen, dass Layla sehr... entschlossen und energisch ist. Dafür muss man sie echt bewundern. Sie kann reden und gleichzeitig andere Leute zur Vernunft bringen. Ein sehr eindrucksvolle Begabung!
"Geht es jetzt wieder?", faucht Layla schließlich genervt. Gut, sie ist begabt - sagt man... -, aber herrisch ist sie wirklich ein bisschen zu sehr.
"Ja ja", murmelt Phil und Edward nickt, obwohl er mit wütenden Blicken um sich zu werfen scheint.
"Und du?" Ich schrecke auf.
"Ja, klar, Layla. Tut mir leid", murmele ich.
Layla zuckt nur mit den Schultern.
"Einsicht ist der erste..." Weiter kommt sie nicht. Eine andere erregte und zugleich besorgte Stimme unterbricht sie.
"Cashmere!"
Ich blicke mich um. Eine Gestalt kommt zum Strand, wie in der Nacht, als ich nach Kamirus fahren wollte. Aber diesmal ist es natürlich nicht Phil, der da kommt. Klar, er steht ja neben mir.
Es ist...
"Stellanie?" Phil klingt fast ein wenig zurückhaltend, doch ich starre meine Mutter nur voll Zweifel an. Was will sie hier? Müsste sie nicht noch auf der Krankenstation sein? So lange ist das mit dem Brand ja nicht her. Oder doch? Ich habe allmählich jegliches Zeitgefühl verloren.
Also was macht meine Mutter hier?
"Äh... was ist denn los; was..." Ein eigentümliches Summen unterbricht mich. Eine Mischung aus Fiepsen und Brummen. Und ein Plätschern. Ich fahre herum. Noch sieht man nichts, doch ich habe dieses Geräusch nicht zum ersten Mal gehört... Ja, auf dem Boot, als ich mit Layla gesprochen habe. Aber was...
Plötzlich stößt mich jemand in die Seite. Ich stürze zu Boden und muss mich zusammenreißen, um nicht vor Schmerz loszuschreien. Der Boden ist steinig und mein Aufprall tut richtig weh.
"Was...?"
Ein Klappern, ein Rattern ertönt, fremd, aber so... grauenhaft. Ich muss mich nicht umdrehen, ich weiß, was dort ist, dort auf dem Meer.
Langsam blicke ich hier echt nicht mehr durch. Was ist denn los? Diese Geräusche... Plötzlich ertönt ein dumpfer Laut und ich fahre zusammen. Was ist passiert?
"Bleib unten", zischt Layla, doch ich kann nicht.
"Meine Mutter, Phil, was...?"
"Es wird ihnen nichts passieren." Laylas Stimme, die im ersten Moment fest und unerschütterlich gewirkt hat, klingt jedoch genauso wie ich mich fühle. Voller Angst und... ein Gefühl... in etwa wie Schuld.
Ich rühre mich nicht vom Fleck bis mich jemand anstößt und ich zusammen fahre.
"Ho", murmelt Phil. Denkt er, ich bin ein Pferd?
Ich sehe auf.
"Was...?"
"Kommt mit... wir müssen hier weg."
Phil zieht uns in ein Gebüsch, wo Edward auf dem Boden sitzt. Als wir drin sind, sieht er auf.
"Layla! Cashmere..." Er bricht ab. "Also, schön, dass es euch gut geht...", meint er kühl.
"Witzig", stöhne ich. "Uns geht es blendend, aber was ist denn da draußen los?"
Phil streift die Blätter des Gebüsches weg.
"Sieh selbst!"
Und ich sehe es: Boote auf dem Meer, U-Boote, Kugeln die fliegen... und noch etwas...
"Nein!", brülle ich. Phil hält mich fest.
"Du wirst da nicht hingehen!", flüstert er mir ins Ohr.
"Doch", rufe ich und Tränen der Verzweiflung laufen mir über die Wangen.
"Nein, Cashmere", redet nun auch Edward auf mich ein.
"Doch", wiederhole ich.
"Lasst sie! Ich komme mit!" Wieder greift Layla durch, doch ich habe keine Zeit dankbar zu sein. Ich stürze auf die Ebene... zu dem Körper meiner Mutter.
Weinend sinke ich zusammen. Wieso? Über uns fliegen immer noch Kugeln, vom Meer und auf das Meer zu.
Ich runzele die Stirn.
Plötzlich bin ich nicht mehr am Boden zerstört von Trauer. Oder ich bin einfach nur wahnsinnig geschockt und kann nicht mehr klar denken. Möglicherweise ist das wahrscheinlicher...
Natürlich; meine Mutter ist tot! Aber, ich bin eher wütend als voller Trauer. Nicht, dass ich nicht traurig wäre, aber...
Nach Rikes Tod dachte ich, dass ich... nicht mehr leben wollen würde, wenn auch noch meine Mutter sterben würde. Doch es ist wie bei einem Schiffsuntergang, da bin ich mir sicher. Es gibt eine Schreckensminute, da gibt man schon auf und dann sieht man doch noch etwas, das einen retten könnte. Und man steht vor einem Abzweig. Will man wirklich aufgeben oder nutzt man noch die letzte Chance?
Ich weiß, was ich tun werde, tue oder getan habe. Ich habe noch nicht aufgegeben. Denn jetzt weiß ich, wofür ich kämpfe, es ist kein verzweifeltes Handeln mehr, sondern Wut! Ich kämpfe um das Anti-Karoson, will kämpfen gegen Chico. Und ich habe etwas, für das sich zu leben und zu kämpfen lohnt. Meine Freunde: Phil und Layla und auch Edward.
Ich werde kämpfen.
"Komm, lass uns zurückgehen", meint Layla und ich nicke.
Ich werde kämpfen!

Kapitel 18

"Hm...", murmelt Phil.
"Na ja, soweit unsere Theorie...", schließt Edward den Bericht von dem, was sich vermutlich vorhin da draußen zugetragen hat.
"Entschuldigt, könnt ihr das bitte nochmal wiederholen? Ich... versteh' das nicht!", sage ich leise.
Wir sitzen in einem kleinen Zelt in der Nähe des Hafens.
"Also", beginnt Edward von vorn. "Wir denken, dass es sich bei den Booten um U-Boote unseres Vaters handelt. Das Wappen darauf war gerade noch zu sehen und ich bin sicher, dass es die Eretrosche Kugel war, die darauf abgebildet war."
Die Eretrosche Kugel ist das Geschoss Chicos und, wie wir nun wissen, auch sein Symbol. Das besondere an jener Kugel ist, dass darauf ein ganz kleines Gesicht eingeritzt ist, das Gesicht von Wender Eretro. Natürlich gibt es nicht nur eine dieser Kugel, aber sie sind allein Chico vorbehalten. Nur er darf sie benutzen.
"Und die anderen Kugeln?", hebe ich den Faden wieder auf.
"Na, ich denke, dass es die Kugeln der Renizilaser waren...", erklärt Layla.
"Die gereizt wurden, weil Chicos Mannen offenbar auf sie schossen", ergänzt Edward.
"Aber das stimmt doch gar nicht!", protestiere ich.
"Wohl wahr. Aber trotzdem: Wir... haben hier einen Krieg in Gange gebracht!", entgegnet Edward finster.
Ich schlucke.
"Hm..." Phil nickt und Layla wirkt unglaublich bedrückt.
"Aber..."
"Ich fürchte, 'aber' nützt hier nichts, Kleine", murmelt Edward.
Das ist ja wohl die Höhe!
"Gehts noch?", fauche ich. "Ich bin 21 und genauso alt wie du. Glaub bloß nicht, dass du das Recht ihast, mich 'Kleine' zu nennen, nur weil du Chicos Sohn bist! Weißt du eigentlich, was ich von iChico halte?!"
"Ho", murmelt Phil und ich platze gleich vor Wut. Ich merke genau, dass dieses Gefühl nicht allein von Edward oder Phil herrührt, aber ich kann jetzt einfach nicht anders.
*Ich bin kein Pferd!*, will ich schreien.
"Mir reichts! Tschau!", fauche ich nur.
"Cash...", beginnt Phil.
"Halt den Mund!", brülle ich und wende mich zum Ausgang des Zeltes.

Ich höre Schritte, als ich in die kühle Nachtluft hinaus stürze.
"Lass mich!", fauche ich in der Erwartung Edward oder vielleicht auch Phil zu sehen, wenn ich mich umdrehe, doch vor mir steht Layla.
"Hau ab!", murmele ich, aber Layla lässt sich dadurch nicht beeindrucken.
"Ganz ruhig", flüstert sie und es klingt ganz anders als Phils 'Ho'. Nicht so abwehrend.
"Was?", entgegne ich immer noch etwas gereizt, wenn auch nicht mehr vor Wut glühend.
"Nun, ich dachte mir, du hättest vielleicht gerne etwas Gesellschaft. Mit den Jungs da drin ist es iwirklich nicht auszuhalten."
Ich gehe nicht darauf ein.
"Hat Phil dich geschickt?"
Layla schüttelt den Kopf.
"Nein, ich... wollte nur mit dir reden... wegen Ed..."
"Edward?", unterbreche ich sie zurückhaltend.
"Jaah. Es ist... du weißt nicht, dass er dich... na ja, äh..."
"Dass er was?"
"Dich liebt..."
"Verliebt, in Edward!", schreit Phil mir plötzlich in die Ohren. Glaubt Layla das auch? Wie lange ist es eigentlich her, dass mir Phil das ins Gesicht geworfen hat? Und wieso denke ich ausgerechnet jetzt an etwas, das schon Vergangenheit ist?
"Das bin ich nicht!", meine ich fest.
"Was?"
"In Edward verliebt..."
"Hab ich auch nicht gesagt!", erwidert Layla ruhig. "Aber er ist in dich."
"Sagt Phil auch", murmele ich. "Bist du sicher?"
"Klar!" Layla lacht freudlos. "Hast du nicht gesehen, wie er dich anstarrt?"
"Edward? Um ehrlich zu sein: Nein."
"Hm... Und Phil mag dich auch, richtig?"
"Na klar, wir sind beste Freunde", meine ich gelassen.
"Mehr... als nur mögen...", bemerkt Layla.
"Hmhm...", mache ich bloß und werde sofort wieder traurig. "Ja..."
"Und du?"
"Was?"
"Bist du in einen von den beiden verliebt? Edward? Oder Phil?"
"Nein", murmele ich schnell. "Hab ich doch schon gesagt..."
"Du hast es nur bei Ed gesagt", fordert mich Layla heraus.
"Und?"
"Bist du in Phil?"
"Nein!!!"
Layla schaut mich eine Zeit lang an.
"Ja...", murmelt sie schließlich.
"Was?"
"Ach, nichts. Nicht so wichtig!"
"Hm...", mache ich und eine Weile tritt Schweigen ein. "Wollen wir wieder ins Zelt gehen?"
"Ich wollte dich noch etwas fragen..." Layla hält mich am Ärmel des schlichten Kleides fest, das ich schon seit jenem Tag in der Uni anhabe.
"Was?"
"Nun, ich... magst du mich?"
Die Frage trifft mich vollkommen unvermittelt.
"Jaah?!"
"Na ja, ich... äh... ich dachte nur, dass sollte man klarstellen, wenn wir hier bald an der gleichen iFront kämpfen."
"Hm... Falls wir das tun..."
Layla starrt mich an, als würde sie mit den Tränen kämpfen.
"Ich meinte kämpfen, nicht an der gleichen Front. Man muss ja nicht immer gleich Gewalt ianwenden. Falls du verstehst, was ich meine. Nicht kämpfen wie Krieg, sondern wie... na ja, du weißt schon. Eher arbeiten." Ich beiße mir auf die Lippe, um meinen plötzlichen Redeschwall zu stoppen. 'Man muss ja nicht immer gleich Gewalt anwenden.' Ich fahre mir durchs Haar und denke daran, dass ich noch vor wenigen Tagen, ja, noch vor ein paar Stunden, anderer Meinung war.
"Ja, ich mag dich", sage ich ruhig.
Layla blinzelt bloß.
"Ich...ich würde dir gern vertrauen", flüstere ich. "Wie einer Freundin..."

Kapitel 19

Ich sehe ein Lächeln auf Laylas Gesicht glitzern. Plötzlich habe ich mich kaum unter Kontrolle. Ich muss an Rike denken und gleich darauf an meine Mutter.
Ich habe sie in den letzten Stunden mehr oder weniger vergessen - vielleicht wäre es besser zu sagen, dass ich mir ihren Tod nicht mehr so vordergründig bewusst gemacht habe - und jetzt stehe ich hier bei Layla, wir klingen wie junge, verrückte Mädchen und alles lässt den Eindruck aufkommen, mir sei meine Mutter völlig egal.
Aber das stimmt nicht! Ich habe geweint; ich habe getrauert! Und das tue ich immer noch.
Aber ich habe... mich zusammengerissen oder es zumindest versucht...
Ich war traurig, klar... aber ich habe gemerkt, dass es noch etwas gibt für das sich zu leben lohnt.
Laylas prüfender Blick holt mich in die Wirklichkeit zurück.
"Ich bin froh, dass wir ähnlich denken", flüstert sie. Ich nicke.
Wir sind vielleicht noch nicht ganz Freundinnen - wir müssen uns erst noch genug vertrauen -, aber wir sind sicher auf gutem Wege dahin.
"Wollen wir wieder hinein gehen?", frage ich schließlich.
Layla grinst.
"Wieso denn? Lass uns ein wenig die Stadt anschauen!"
Ich schaue sie zweifelnd an.
"Okay, aber hab bitte keine falschen Vorstellungen. Wir... na ja, haben nicht so" - Ich ziehe das Wort in die Länge.- "viele Möglichkeiten... einzukaufen; falls du verstehst, was ich meine."
"Das mit dem Einkaufen meinte ich auch gar nicht. Ich wollte... schauen, ob unsere Theorie istimmt", entgegnet Layla.
"Theorie?"
"Dass was Ed dir vorhin erklärt hat."
Oh ja, Edward. Ich schnaube.
"Beruhige dich, Cashmere", meint Layla amüsiert.
Ich nicke und versuche zu lächeln.
"Lass uns gehen!"
Eine Weile laufen wir still Richtung Stadtzentrum. Oder das, was früher mal ein Stadtzentrum war. Eben zur Universität.
Plötzlich fällt mir etwas ein.
"Ach so, Layla..."
"Ja?"
"Du kannst mich auch Cash nennen. Das machen alle..."
Layla lacht und meint bloß: "Wieso nicht?"
Ich grinse.

"Sag mal, wie ist das eigentlich, wenn man Chico als Vater hat?", frage ich vorsichtig.
Layla runzelt die Stirn.
"Wie ist es, wenn man eine ganz normale Familie hat?", entgegnet sie.
"Erstens. Du kannst mir auch mal antworten, statt immer Gegenfragen zu stellen", beginne ich und mache dann eine Pause.
"Und zweitens?", meint Layla fast ein wenig gehässig. So viel zu Thema Freundin!
"Zweitens, bist du allen Ernstes der Meinung, meine Familie wäre normal?"
"Jaah..."
"Ganz sicher nicht! Wer soll denn in meiner Familie normal sein? Meine Mutter und meine iSchwester sind tot, mein Vater ist ein mieser Verräter und ich bin eine weltweit gesuchte iVerbrecherin. Ist das normal?", fauche ich.
Layla geht nicht auf meine Frage ein. "Du hast eine Schwester?", fragt sie.
"Hatte ich, ja...", murmele ich bedrückt.
"Wie..."
"Wie sie umgekommen ist, meinst du?", zische ich.
Layla schweigt.
"Na ja, fast wäre sie bei einem Kugelhagel umgekommen, der ganz sicher von Chicos Anhängern ikam", sage ich tonlos.
"Fast?", meint Layla erstaunt.
"Meine beste Freundin hat sie gerettet."
"Aber sie ist doch tot, oder?"
"Wer? Meine Freundin oder meine Schwester?", frage ich tieftraurig.
"Deine Schwester", murmelt Layla.
"Ja, das ist sie. Beide sind tot."
"Deine Freundin auch?"
"Ja, sie ist bei einem Brand umgekommen, der von Chico ausgelöst wurde", fauche ich, wieder mit dieser Anspielung auf Chico.
"Ist das lange her?", fragt Layla.
Ich rechne nach. "Weniger als eine Woche."
"Oh... und wie kam es zu dem Brand? Bist du dir sicher, dass Vater dafür verantwortlich war? iVielleicht war auch nur eine Leitung defekt..."
Ich verstehe kein Wort. "Leitung? Was meinst du?"
"Stromleitung, in ihrem Haus... kann doch sein, oder?"
"Leitung? Haus?"
"Jaah", meint Layla gedehnt.
Ich stöhne. "Komm mal mit!"
Ich ziehe sie zum nächstgelegenen Zeltplatz.
"Das"- Ich weiße darauf. - "sind unsere Häuser..."
"Oh", macht Layla bloß. "Was war denn dann los? Also, als deine Freundin gestorben ist."
Mit leichtem Zittern in den Knien zeige ich ihr die Universität.


Kapitel 20

Ich schaue zu Layla, während wir die zerstörte Straße entlanglaufen. Nachdem sie die Uni gesehen hatte, war sie sehr schweigsam. 'Tut mir leid', war das einzige, was sie seitdem gesagt hat. Es trifft sie anscheinend schwer, dass ihr Vater für all das Leid verantwortlich ist. Vielleicht fühlt sie sich auch selber verantwortlich.
Ich gehe einen Schritt auf sie zu. Sie ist stehen geblieben.
"Es ist doch nicht deine Schuld", murmele ich tröstend.
"Aber es ist die Schuld meines Vaters, ich hätte ihn aufhalten müssen!", entgegnet Layla traurig.
"Gib dir doch nicht die Schuld für etwas, wofür du überhaupt nichts kannst", meine ich.
Layla zuckt mit den Schultern.
"Lass uns lieber jemanden fragen, was vorhin hier los war und dann zu den Jungs zurück gehen", versuche ich sie auf andere Gedanken zu bringen.
"Meinetwegen", sagt sie bloß tonlos. Was soll ich nur tun? Ich kann sie doch nicht so lassen...

"Schön, dass ihr wieder da seid, wir haben uns schon Sorgen gemacht." Edward klingt ehrlich erleichtert, als wir das Zelt betreten. Ich schaue weg.
"Sag mal, Cashmere, kann ich kurz mit dir reden?", fragt Edward schließlich. Ich stöhne. Wieso wollen alle in letzter Zeit mit mir reden? Und dann immer noch geheim.
Denn auch Edward hält mir jetzt die Plane auf, die den Eingang des Zeltes darstellt, damit ich nach draußen gehen kann.
"Was ist?", frage ich ungeduldig.
"Ich... wollte nur sagen, dass mir das vorhin leid tut", flüstert Edward. "Das... ist mir einfach iherrausgerutscht."
Ich zucke mit den Schultern, doch Edward beschäftigt anscheinend schon wieder etwas anderes.
"Was ist denn mit Layla?", fragt er vorsichtig. Ich beiße mir auf die Lippe.
"Offensichtlich gibt sie sich die Schuld, für den Tod meiner Freundin."
"Was ist mit deiner Freundin?"
Nicht schon wieder! Trotzdem erzähle ich das mit der Uni. Edward sagt eine Zeit lang nichts. Dann sieht er mich an, fast habe ich das Gefühl, dass Tränen in seinen Augen schwimmen.
"Aber vielleicht sind wir doch daran Schuld!", flüstert er.
"Ach wo, wie kommst du da drauf?", meine ich freundlich und versuche die Stimme in meinem Kopf auszublenden, die mir sagt, dass er sehr wohl recht hat, dass sie daran Schuld sind .
Edward zuckt nur mit den Schultern.
"Aber... wie ist das jetzt eigentlich mit dem... Krieg?", frage ich schließlich.
"Was soll da sein?", entgegnet Edward abwesend.
"Na ja, kämpfen wir oder nicht? Und was ist mit den Bürger aus Renizilas?"
"Habt ihr das nicht herausgefunden?", erwidert Edward scheu.
Ich zucke mit den Schultern. Wirklich danach geschaut haben wir schließlich nicht.
"Dann können wir das ja jetzt machen, oder?", fügt Edward hinzu.
"Okay, meinetwegen." Mir ist ein wenig unwohl dabei, wenn gleich ich nicht weiß, wieso.
Edward geht noch schnell ins Zelt.
"Wir brechen jetzt auf", höre ich ihn bloß sagen.
Ich kann mir gut vorstellen, wie Phil in diesem Moment giftig auf den Boden starrt. Am liebsten würde ich ebenfalls ins Zelt laufen und ihm sagen, dass das, was er jetzt wahrscheinlich denkt, falsch ist. Doch ich bleibe stehen. Rühre mich nicht vom Fleck. Mich beschäftigen gerade andere Dinge, als Phils unbegründete Eifersucht.
Was passiert denn jetzt? Das frage ich mich wieder und wieder, auch als ich schon neben Edward Richtung Ortsmitte gehe. Was wird jetzt geschehen? Doch ich wage nicht, diese Fragen laut zu stellen.
Wieso auch? Könnte mir Edward denn antworten? Vermutlich nicht. Also, wieso sollte ich es dann erst versuchen?
Das Schlimmste finde ich an der jetzigen Situation, dass wir hier einen Krieg haben, den wir ausgelöst haben, während wir aber nicht mal Waffen haben und deshalb selber nicht kämpfen können.

Meine Augen schweifen über die Straße. Nichts! Noch vor wenigen Tagen waren die Straßen doch immer belebt. Ja, belebt... es war nie wirklich voll, aber ein, zwei Menschen traf man hier schon noch. Egal, wie schlecht der Zustand der Straße war. Aber, dass sie völlig ausgestorben ist... Befremdend! Irgendwie richtig absurd.
Was ist in den wenigen Tagen seit meiner Abfahrt passiert? Gab es einen Anschlag und die Menschen verstecken sich aus Angst? Die Sonne steht hoch am Himmel, auf sie kann man die leeren Straßen nicht zurückführen. In der Nacht, gut... Das würde ich verstehen. Aber am heller lichten Tag?
"Ist das immer so?", fragt Edward gelassen.
Ich schüttele den Kopf. "Nie!"
"Oh", erhalte ich bloß als Antwort.
Plötzlich höre ich ein leises Geräusch.
"Durch...ad...!", verstehe ich. Was? Durch...laden?
*Gewehre*, schießt es mir durch den Kopf. Aber wieso? Das müssen Chicos Leute sein. Aber was machen sie so weit auf dem Festland, in Renizilas?
Neben mir zittert Edward, offensichtlich weiß er, was hier gerade passiert.
"Feu...", beginnt jemand, doch ich rufe laut: "Moment!"
Ich warte auf ein Knattern, auf Kugeln, die fliegen, aber es bleibt still.
"Kommt raus, wer auch immer ihr seid!", schreie ich in dieses unheimliche Schweigen.
Ich höre Schritte, aus einer dunklen Gasse kommen Männer mit Gewehren, Uniformen und schweren Stiefeln.
Verwirrt runzele ich die Stirn. In der Masse sehe ich viele vertraute Gesichter. Alles renizilaser Bürger. Was machen sie hier?
Plötzlich bemerke ich eine Gestalt, die sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnt.
"Du bist eine unglaubliche Verräterin, Cashmere! Einfach abscheulich!", faucht die Gestalt und eine Vielzahl an Stimmen setzt hinter ihr ein wie ein gewaltiger Chor.

Kapitel 21

Ich starre die Gestalt an. Louis! Mein Freund, mein Kollege! Was meint er bloß?
"Wie konnte ich dir nur jemals vertrauen?! Wie konnte ich nur denken, dass du auf unserer Seite iwärst?! Und jetzt kommst du mit ihm an. Das hätte ich mir auch denken können", fährt er fort.
Ich blicke ihn ungläubig an.
"Was meinst du bloß, Louis?"
"Du bist eine Verräterin für unser ganzes Land! Unsere ganze Erde!" Louis Stimme ist eine Mischung aus verächtlichem Fauchen und Schreien. "Männer..."
"Nun hör mal", unterbreche ich ihn. "Du kannst mir wenigstens mal erklären, was ich gemacht ihaben soll!"
Louis stößt ein irres Lachen aus. "Als ob du das nicht wüsstest."
"Da ich es aber nicht weiß", entgegne ich und jetzt bin ich ziemlich ungeduldig.
"Sag mal, schämst du dich nicht ein wenig?", fragt Louis argwöhnisch.
"Nein, wofür?"
"Ich muss zugeben, du kannst schön schauspielern, Cashmere. Das hätte mir früher auffallen isollen!"
"Louis! Was meinst du nur?", flüstere ich ungläubig.
"Ich hätte dir nie trauen dürfen, aber ich wäre ja auch nicht im Traum auf die Idee gekommen, dass idir Rike vollkommen egal war!"
"Was erzählst du da? Rike war die beste Freundin, die ich je hatte!"
Als mir fast Tränen in die Augen treten, fällt mir auf, wie schnell sich meine Gefühle ändern. Von einfach nur verwirrt, über vollkommen verständnislos und sogar etwas oder eigentlich sehr ungeduldig, zu traurig aber auch wütend. Auch wenn das vermutlich menschlich ist.
Wie kann Louis es bloß wagen, zu behaupten, Rike hätte mir nichts bedeutet?
"Sicher? Das war doch bloß Teil eines abgekarteten Spieles, um uns abzuhören!", faucht Louis.
"Was? Das stimmt nie im Leben! Rike war alles für mich. Max war einer der besten meiner iFreunde. Und du meinst, ich hätte nicht gelitten? Bist du noch ganz bei Trost?", rufe ich.
"Sicher! Oder wie erklärst du dir sonst, dass du kurz danach einfach verschwindest, mit Eretros iSohn hier wieder aufkreuzt und im selben Moment U-Boote mit der Eretro'schen Kugel als iZeichen an der Seite uns in die Luft sprengen wollen?"
"Edward? Euer Problem liegt bei Edward?", frage ich resigniert.
"So mag er wohl heißen", sagt Louis gleichgültig.
Das wäre mir nie in den Sinn gekommen, obwohl es doch eigentlich das Naheliegenste ist. Vorsichtig schaue ich Edward an. Er erwidert meinen Blick, allerdings wirkt er nicht eingeschüchtert.
"Entschuldigt", beginnt er mit erhobenem Blick. "Es ist sicher anders, als ihr denkt!"
Louis sieht ihn verächtlich und mit gespielter Langeweile an, während die Menschenmasse hinter ihm neugierig, vielleicht aber auch nur einfach drohend schweigt.
"Und Cashmere hier" - Edward weißt auf mich.- "Ist niemals eine Verräterin."
Und er packt die ganze Geschichte mit dem Anti-Karoson und unserem Treffen aus. Angefangen mit der Bedeutung des Stoffes bis hin zu meinem versuchten Raub. Die Menge lauscht schweigend.
"Dein Vater bewacht eine geheime Substanz, mit der er die Welt retten könnte?", fragt eine Stimme aus der Menge, die auf mich mehr wie ein Publikum wirkt. Edward neigt den Kopf.
"Wie schon gesagt, wollte Cashmere diese Substanz stehlen, um der Welt zu helfen. Dies ist doch ikein Verrat!", meint Edward.
Ich höre, wie beeindruckt die Menge ist und insgeheim bin ich das auch, beeindruckt. Wie er reden kann! Das ist famos. Vielleicht kann uns das auch noch nützlich sein.
Doch eine einzige Stimme trübt die Aufregung und Zustimmung der Menschen. Louis.
"Na und? Mag sein, dass Cashmere die Welt retten wollte, aber wieso kommt sie dann mit dir an?"
Das geht so sehr auf Edwards Kosten, dass mir die Luft wegbleibt.
"Du...", beginne ich erbost, doch Edward legt mir die Hand auf die Schulter.
Wie ähnlich er Phil doch ist.
"Nun", fährt Edward fort. "Wer hat gesagt, dass ein Sohn mit seinem Vater einverstanden sein imuss?"
Ich nicke und werde wieder etwas ruhiger.
"Genau", sage ich. "Mein Vater ist auch ein Verräter und ich bin ganz sicher nicht mit ihm ieinverstanden! Er hat sich nur um sich gekümmert!"
Ich verschweige lieber, dass ich ein wenig besser von ihm denke, seit er uns auf Kamirus geholfen hat, auch wenn diese Hilfe nicht sehr erfolgbringend war.
"Und ich bin ebenfalls nicht überzeugt von den Taten meines Vaters. Er ist grausam und achtlos igegenüber dem Volk. Ich stehe nicht auf seiner Seite. Ich sympathisiere mit dem Volk, auch wenn iich damit gegen meinen Vater stehe!", ruft Edward in die Menge. "Für unser Land und unsere iErde!"
"Unsere Erde!", stimmt das Volk mit ein. Ich runzele die Stirn. Ist es das schon gewesen? Ist es wirklich so schnell und ohne große Mühen zu Ende?
"Einen Moment!" Louis. Verwunderlich ist es ja nicht. Es war viel zu schnell zu Ende.
"Jaah?", fragen Edward und ich wie aus einem Mund.
"Das sollen wir dir glauben?", fragt Louis höhnisch. Er wendet sich an die Menge. "Das glaubt iihr?"
Langsam gehe ich auf ihn zu.
"Louis", flüstere ich. "Wir helfen dir und ihnen. Wir! Ich und Edward. Er ist nicht der, den du vor idir zu sehen glaubst. Ich vertraue ihm. Er ist jetzt mein Freund!"


Kapitel 22

Wie leicht mir das von den Lippen geht!
"Tatsächlich?", fragt Edward und sieht mich überrascht an.
"Tatsächlich!", bestätige ich.
"Das ist schön!", flüsterte Edward und ich spüre, dass es es für ihn viel mehr bedeutet als für mich.
Ich lächele sanft.
"Und? Wer kann sich noch auf dein Urteil verlassen?", fragt Louis spöttisch dazwischen.
"Du meinst, ich könne nicht richtig entscheiden, was gut und was schlecht ist?", entgegne ich.
"Ja, das meine ich." Louis klingt gehässig.
"Sekunde, noch mal zum mitschreiben. Du bist der Meinung, ich hätte mein Urteilsvermögen iverloren? Könnte es nicht eher umgedreht sein?", meine ich sarkastisch.
"Das denke ich nicht! Auf jeden Fall kann mir dein toller Freund erzählen, was er will, ich glaube itrotzdem nicht, dass du so großherzig die Welt retten wolltest! Du hättest genauso gut auf Kamirus imit Chico Späße machen können und jetzt als Agentin für ihn zurückkommen."
Ich starre ihn an. Er scheint wütend zu sein und trotzdem schafft er es noch, seine Wörter mit Bedacht zu wählen.
Das könnte ich nicht. Ich würde schreien, was das Zeug hält.
Und andererseits bleibt mir die Luft weg, weil er entweder so gerissen lügt, oder wirklich vollauf von dem überzeugt ist, was er sagt.
"Du denkst, ich würde für Chico arbeiten? Wer hat dir denn eine Gehirnwäche verpasst?!", erwidere ich. Am liebsten würde ich den Kopf schütteln. Wie kann er das bloß denken?
"Ich hasse Chico, wie ihr alle. Welchen Grund hätte ich, für ihn zu arbeiten?", ergänze ich.
"Den Grund kannst du uns gerne nennen; den Beweis sehe ich bereits!", zischt Louis und wendet den Blick wieder zu Edward.
"Ich kann es euch auch gerne nochmals erklären, Edward ist vielleicht Chicos Sohn, aber er würde iuns nie verraten." Meine Stimme ist kaum mehr als ein eindringliches Flüstern, doch es scheint durch die ganze Gasse zu dringen, bis zum letzten Mann.
"Natürlich, und du als Verräterin musst es natürlich wissen. Was glaubst du eigentlich, was...", beginnt Louis, doch eine Stimme unterbricht ihn. Eine seltsam vertraute Stimme.
"Es reicht, Louis. Du nennst sie eine Verräterin, hast du vergessen, dass du ohne sie vielleicht iumgekommen wärst?"
Das ist Leevy, die Frau, die mit mir in der Uni war.
Leevy. Also ist sie auch hier? Sie kämpft auch? So viele kämpfen, warum wundert es mich da noch, dass Leevy kämpft?
Wobei, ist 'kämpfen' der richtige Ausdruck? Vielleicht wäre 'bereit zu kämpfen' passender.
Bereit zu Kämpfen? Das...
"Du meinst, du würdest kämpfen! Du? Du würdest kämpfen für den Frieden? Bist du irre? Kampf ifür Frieden?!" , ruft Phil mir in meiner Einbildung ins Ohr. Wieder ist es wie ein Rückblick. Eine Erinnerung, wieder aufgefrischt.
Aber bin ich verrückt? Alle Menschen, die hier vor mir stehen würden kämpfen! Da müssen sie doch auch verrückt sein, irre sein. Oder?
Niemand hier scheint Phils Vorstellung von einer ruhigen, gewaltlosen Welt zu teilen. Niemand teilt seine Ansicht, dass auch ohne Krieg alles besser werden könne.

Leevy schaut mich an.
"Du siehst gut aus, Cashmere."
Ich zucke mit den Schultern, fühle mich unwohl. Ich spüre, wie mich Louis' wütender, misstrauischer Blick durchbohrt. Wieso versteht er nicht? Es ist nicht wie mit Phil, der nicht versteht, wieso ich kämpfen will. Wieso denkt Louis, dass ich ihn verraten würde? Wieso versteht er nicht, weshalb ich Edward mitgenommen habe?
Ich muss es ihm erklären. Er muss es verstehen!
"Louis... Ich...", beginne ich, doch ein Klappern unterbricht mich. Ich fahre zusammen.
Kommen die U-Boote wieder?
Aber keiner bewegt sich. Nur Louis schaut zufrieden in den Himmel. Etwas Kleines segelt hinunter, direkt auf mich zu. Ich springe zurück.
Louis muss sich ein Grinsen verkneifen.
Ist das witzig? Es könnte ja eine Bombe sein, was da gerade auf mich zugeflogen ist.
"Was...", hebe ich fragend an.
"Unser Nachrichtendienst", erklärt Louis und ist wieder eiskalt. Jede Spur des Humors ist aus seinem Gesicht verschwunden.
Er hebt das kleine Etwas, das sich bei näherem Betrachten als eine Kapsel herausstellt, auf.
"Wir bekommen Nachrichten aus anderen Städten mit Hilfe von kleinen Flugzeugen."
Ich lasse die unwillkürlich hochgezogenen Schultern sinken. Wie viel Tage sind seit meiner Fahrt nach Kamirus denn vergangen? Wie konnte sich ein so ausgefeiltes System in nur wenigen Tagen errichten? Ich sehe Edward an.
"Respekt", murmelt er.
Louis überfliegt indes die Zettel aus der Kapsel. Es ist einfaches, graues Papier und unsere landestypische Schrift.
"Hm... Also", er wendet sich an die wartende Menge, "viel ist nicht passiert. In Deblira, Lankas und iNeher ist nichts geschehen."
Jene Städte liegen, der Reihenfolge nach, einmal am Rande der Alpen, des südlichsten Gebirge Paloniens; die zweite dort, wo früher einmal das 'Ruhrfeld' oder 'Ruhrgebiet' oder so lag, und die letzte im Osten von Palonien, nahe der Grenze.
"Aber...hier", fährt Louis fort, "sehr gut. In Lindam ist es den Bürgern gelungen, ein kleines iFlugzeug zu bauen. 6 Personen können darin fliegen."
Die Menge jubelt.
"Darauf haben wir lange gewartet", erklärt Leevy uns.
"Ja", bestätigt Louis. "Jetzt...können wir endlich nach Kamirus fliegen."

Kapitel 23

Auch wenn ich in letzter Zeit sowohl mit dem Gedanken gespielt, als auch ihn verwirklicht habe, nach Kamirus zu fahren, verblüfft und schockiert mich Louis' Bemerkung jetzt. Wieso wollen hier alle nach Kamirus? Ich widerstehe dem Drang, mich zu ohrfeigen, um meine Gedanken wieder in Schwung zu bringen. Außerdem müsste ich mir solche Fragen doch nicht stellen.
"Nun, und was wollt ihr dort?", frage ich stattdessen.
"Das, was du auch wolltest", entgegnet Louis kühl.
"Das Anti-Karonson...aber, bevor wir kamen, wusstet ihr doch gar nicht, dass ein solcher Stoff iexistiert", sage ich verwirrt.
Louis zuckt mit den Schultern. "Jetzt wissen wir es."
"Und was wolltet ihr vorher?", fragt Edward. Ich hatte ganz vergessen, dass er noch neben mir steht; er war die ganze Zeit so still.
Auf seine Frage hin antwortet Louis nicht. Stattdessen starrt er durch eine schmale Lücke, durch die langsam dunkel werdenden Gassen auf den Strand, als ob er da etwas sehen könnte, das allen anderen verborgen bleibt.
"Da", flüstert er.
Ich runzele die Stirn.
"Was denn?"
Und plötzlich ertönt wieder ein eigentümliches Summen, eine Mischung aus Fiepen und Brummen. Nein! Wie ist das möglich? Das kann doch nur ein Albtraum sein, oder?
Doch als ich mit aufeinander gepressten Lippen in Richtung Strand schaue, sehe ich, dass das, was ich hoffte, dass es nur ein Albtraum wäre, Wirklichkeit ist. Wirklichkeit!
Denn wieder tauchen am Strand U-Boote auf, die Eretro'sche Kugel an ihrer Flanke schimmert im Licht der untergehenden Sonne. Als ob sie etwas Glückbringendes wäre.
Neben mir regt sich Edward.
"Mein Vater", flüstert er.
"Seine Leute", entgegne ich ebenso leise.
"Nein. Sieh nur."
Edward deutet auf eine Gestalt, die jetzt langsam aus einem der U-Boote steigt und sich vorsichtig umsieht.
"Das...ist dein Vater? Chico Eretro? Der, vor dem alle Angst haben", frage ich entgeistert. Der Mann der dort am Ufer steht, ist klein... und einfach nur fett. Das soll Chico Eretro sein?Auf den Bildern in den Zeitungen, die sich fast keiner leisten kann, sah Chico energisch aus, schlank.
"Fotoverzerrung", meint Louis, als er meinen erstaunten Blick sieht. Ah ja...
Ich höre ein Klacken und drehe mich um. Wieder haben die Leute hinter uns ihre Gewehre geladen. Doch diesmal zielen sie nicht auf mich oder Edward, sondern auf dessen Vater.
"Moment", zischt Edward und hebt die Hand.
Louis zuckt mit den Schultern. Er scheint nicht mehr der Meinung zu sein, dass wir ihn verraten würden. Immerhin mal ein Fortschritt.
Alle starren wie gebannt auf Chico, der sich nochmals umsieht und dann zu sprechen beginnt. Ich bin erstaunt, dass ich ihn so gut verstehe, bis ich merke, dass seine Stimme mit einem kleinen Gerät verstärkt wird und durch alle Straßen Renizilas dringt.
"Hiermit fordere ich die Herausgabe meiner Kinder, Layla und Edward Eretro. Ihr habt sie entführt, ium mich zu brechen. Ich bin nicht gebrochen und doch, oder viel mehr, deshalb verlange ich, dass iihr mir auf der Stelle meine Kinder zurückgebt." Die Stimme schalt nach und man erkennt einen fremden Akzent in ihr.
Interessiert wende ich mich an Edward.
"Er kommt nicht aus Palonien, oder?"
"Aus Rulabe", entgegnet er abwesend. Rulabe liegt auf dem Gebiet des ehemaligen Frankreichs hat Louis mir mal erzählt.
Doch natürlich beschäftigen Edward andere Dinge als die Herkunft seines Vaters. Er starrt jenen an und scheint fieberhaft nachzudenken. Auch ich hole mich in die Wirklichkeit zurück.
"Und jetzt?", frage ich angespannt.
Edward antwortet nicht. Wieder erfüllt Chicos Stimme die Gasse.
"Ich bin sicher, dass sie von einer gewissen Cashmere Goratsch entführt wurden, nachdem es ihr imisslang, eine Substanz von äußerster Wichtigkeit zu stehlen!", fährt er fort.
Edward schüttelt den Kopf und ich bin etwas geschockt, woher Chico so gut Bescheid weiß. Natürlich bis auf, dass ich Edward entführt hätte.
Mit leicht bittendem Blick dreht sich Edward zu Louis.
"Was denn?", fragt jener.
"Habt ihr auch so ein Mikrophon?", fragt Edward leise.
Mikrophon? Interessanter Begriff.
Jemand aus der Menge reicht ein Gerät durch, ähnlich wie das in Chicos Hand.
"Okay", flüstert Edward, holt Luft und öffnet den Mund.
"Vater", sagt er ruhig in das Mikrophon. "Du täuschst dich. Niemand hat uns entführt!"
"Was?", ertönt Chicos Stimme, doch jetzt wesentlich leiser. Und nicht mehr überzeugt.
"Denkst du wirklich, wir würden dir beistehen, deine Taten bestätigen und zusehen wie Menschen ileiden, ohne auch nur einen Finger zu rühren? Hast du das geglaubt? Nachdem unsere Mutter iverschwand? Nachdem wir erkannten, dass es noch andere Leben als die unseren gibt? Hast du das iwirklich geglaubt?" Edward holt kurz Luft.
"Wir sind freiwillig mitgegangen!", ruft Edward und die Menge hinter uns fängt erst leise und unsicher, dann aber laut und entschlossen, an zu jubeln.

Kapitel 24

Immer noch pocht mein Herz und Edward nimmt ganz leicht meine Hand. Ich lasse das alles zu, ohne mich zu rühren.
Es ist schon einige Zeit vergangen seit Chico wieder, anscheinend völlig geschockt, in eines der U-Boote gestiegen ist und den Befehl zum Rückzug gegeben hat. Einfach so. Ich hätte gedacht, er würde Renizilas angreifen, aber nein... er ist einfach abgefahren.
Obwohl, einfach...
"Du hast ihn verändert, du hast sein Gehirn verändert. Das zahle ich dir heim, Cashmere Goratsch", hat Chico noch gekreischt.
Ich bin mir dessen sicher. Er wird es mir heimzahlen, nur wie?

"Das ist völlig verrückt!"
Layla schüttelt den Kopf. Ich versuche mich zu erinnern, was in den letzten Stunden geschehen ist. Falls es Stunden waren...
Nach Chicos Rede am Strand von Renizilas, kamen irgendwann Layla und Phil. Beide waren total geschockt. Während Layla nur zitterte, hat Phil mich ganz fest umarmt und dafür einen wütenden Blick von Edward kassiert. Wenn Blicke töten könnten, wäre Phil jetzt nur noch ein Häufchen Asche. Wieso können sich Jungs eigentlich nie auf das Wesentliche konzentrieren, sondern immer nur zeigen, wie bockig und unhöflich sie sein können?
Jedenfalls ging danach alles ganz schnell. Louis hat von dem Flugzeug aus Lindam erzählt und jetzt sitzen wir in diesem Flugzeug. Louis, Edward, Phil, Layla und ich.
Leevy kommt nicht mit, denn auch wenn Louis vorhin von einem Flugzeug für 6 Leute gesprochen hat, ist es hier unglaublich eng.
Louis, der das Flugzeug steuert, sitzt in einer winzigen Kabine und wir anderen 4 drängen uns in einen Raum, der ungefähr ein Viertel der Größe entspricht, die mein Zimmer in unserer alten Wohnung einmal hatte. Und selbst das war nicht gerade groß. Wie ewig es her ist, dass ich in jenem Zimmer stand.
Ich finde es immer noch etwas verwunderlich, dass Louis ausgerechnet Edward und Layla auf diese Tour mitnimmt. Klar, beide kennen das Passwort mit dem man sich Zugang zu dem Anti-Karoson beschaffen kann (und dieses Passwort war natürlich nicht 'Chico Eretro', das hat Edward mir gesagt. Das richtige Passwort hat er mir allerdings nicht verraten...), aber da hätte doch eines der beiden Geschwister gereicht. Genauso gut, hätte er sie foltern können, hätte sie fesseln können, bis sie ihm das Passwort gesagt hätten.
Na ja, mich stört es auch nicht, dass jetzt beide mit nach Kamirus kommen. Layla ist uns sicher eine große Hilfe. Sie denkt taktisch, klug und ist auch nicht sehr ängstlich. Und Edward... Es ist einfach verrückt. Ich habe überhaupt nichts mehr gegen ihn. Nein, im Gegenteil. Er ist... na ja, mein Freund? Ich weiß nicht so recht... Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mehr für ihn empfinde, als ich es für einen 'normalen' Freund empfinde. Mehr, als ich für Phil empfinde. Dieser Gedanke versetzt mir jedes Mal einen Stich. Sicher, ich habe Phil nicht gesagt, dass ich ihn (also Phil) liebe, da dürfte er sich keine falschen Hoffnungen machen. Aber ich fühle mich trotzdem, als hätte ich ihn verraten, zumal ich dieses komische Gefühl habe, dass ich mich in Edward verliebt habe.
Allein die Weise, wie ich mich fühle, wenn er mich ansieht, dieses Prickeln vorhin, als er neben mir lief, dieses Aufglühen zarter Gefühle, als er meine Hand nahm...
"Findest du?", fragt Phil jetzt und reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich sehe auf.
"Äh... was genau soll verrückt sein, oder auch nicht?"
"Das mein, besser gesagt, unser Vater nach uns sucht", erklärt Layla als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
"Wieso soll das verrückt sein?"
Ich verstehe nicht, was sie hat. Mein Vater würde vermutlich auch nach mir suchen, wäre ich einfach verschwunden. Oder doch nicht?
"Er... na ja, ich denke auch, dass er der Meinung ist, dass du uns entführt hättest", entgegnet Layla unsicher. Ich muss fast erleichtert aufatmen. Ich habe bis vor Kurzem ehrlich gedacht, dass Layla niemals unsicher sein könnte.
"Wieso sollte er das nicht denken?", erwidert Phil.
"Er muss doch gemerkt haben, dass wir nicht seiner Meinung sind", stimmt Edward Laylas Meinung zu und sieht mich kurz an. Ich schaue zu Boden und merke, dass ich rot werde.
"Merkt Chico überhaupt irgendwas?"
Das ist Louis. Ich drehe mich um.
"Steuerst du nicht?"
"Doch, klar. Aber im Moment macht das die Maschine alleine. Sie ist wirklich ein Wunderwerk", entgegnet Louis.
Er spricht so stolz, wie ein Vater von seinem Sohn, doch ich bleibe misstrauisch.
"Ganz sicher?", fragt nun auch Phil, doch es ist Edward der antwortet.
"Ja, wieso denn nicht? Die U-Boote meines Vaters steuern sich auch selber", meint er und auch er klingt stolz. So stolz, dass mir übel wird. Wie kann er auch diese Tötungsmaschinen seines Vaters stolz sein?
"Alles in Ordnung?", fragt Layla mit einem Blick auf mich besorgt.
"Nein", sage ich laut. Das kommt so unerwartet, dass ich selbst darüber stutze. Ich verleugne so etwas sonst immer, sage 'Ja, ja, alles okay.', oder so ähnlich.
Edward erstarrt.
"Liegt das an mir?", flüstert er.
"Ja."


Kapitel 25

Es rutscht mir einfach so raus, aber es reicht, dass Edward aussieht wie ein begossener Pudel - eigentlich kein guter Vergleich - und Phil aus dem Fenster in den langsam dunkel werdenden Himmel schaut. Ich kann sein Gesicht nicht genau erkennen, aber ich glaube und befürchte, dass ein höhnisches Lächeln seine Lippen umspielt. Eigentlich müsste ich mich Edward widmen, müsste ihm sagen, dass es mir Leid tut, dass es nicht so gemeint war; trotzdem starre ich Phil an. Mein Kopf ist leer. Wie kann er bloß so gemein zu Edward sein. Wieso freut er sich, wenn ich auf Edward sauer bin?
"Philippus Malwin Hilosatas", fauche ich leise.
Er sieht unschuldig auf.
"Ja? Was ist, Cashmere Amelie Goratsch?" Bääh, ich hasse diesen Namen.
"Wie kannst du bloß?", schreie ich und wende mich zur Tür.
Edward schnappt nach Luft und hält mich am Ärmel fest.
"Bist du verrückt?!"
Da komme ich wieder zur Besinnung. Ich bin in einem Flugzeug!
In diesem Moment neigt sich das Flugzeug zu Boden und einige Herzschläge später sind wir gelandet. Ich sehe mich um. Louis ist schon wieder in seine Kabine zurück gegangen und kommt jetzt gerade heraus.
"Was ist los?", fragt er verwundert.
"Ach nichts, nur eine kleine Meinungsverschiedenheit..." Layla rettet uns geistesgegenwärtig.
"Genau", murmele ich und stürze aus dem Flugzeug. Aber, was im Vergleich zu vorhin ein gewaltiger Vorteil ist, steht das Gefährt jetzt auf dem Boden.
*Edward hat mir vorhin das Leben gerettet!*, schießt es mir durch den Kopf. Na ja, vielleicht hätte ich es ja noch gemerkt...

"Ihr beide bleibt hier", entscheidet Louis kühl und ich schüttele den Kopf. Natürlich gibt es tausend Dinge, die ich mit Edward bereden muss, aber trotzdem möchte ich mitkommen, wenn wir das Anti-Karonson holen. Wobei, wir stimmt ja nicht ganz. Louis nimmt nun Layla und Phil mit, um das Zeug zu holen und ich darf mit Edward hier bleiben und mich verstecken!
" Ich kann nicht noch mehr Leute mitnehmen, das wird zu auffällig", meint Louis nachdrücklich.
"Aber Phil ist weniger auffällig als ich, nicht wahr?", knurre ich, doch da ist die kleine Gruppe schon weg.

"Du, Cashmere", hebt Edward schließlich an, als wir uns in ein Gebüsch nahe dem Strand gesetzt haben.
"Was gibt's?", sage ich abwesend. Es ist komisch, dass er mich immer noch so förmlich 'Cashmere' nennt, während seine große Schwester schon lange auf 'Cash' umgestiegen ist.
"Ich wollte dich etwas fragen."
"Dann tu es doch einfach", seufze ich.
"Du... liebst du Phil?"
Entnervt lasse ich die Schultern sinken und stöhne.
"Nein, Edward, das tue ich nicht."
Wieso interessiert ihn das?
Ich verschlucke mich fast und werde urplötzlich rot. Heißt das... heißt das...?
"Ich liebe dich, Cashmere!"
Mein Herz schlägt Purzelbäume, macht Handstand, Spagat und hüpft unregelmäßig auf und ab.
"Ich... auch", stottere ich. "Also, ich liebe... dich!"
Edward rutscht näher zu mir und ich lächele. Doch dann muss ich schlucken.
"Edward, aber du musst wissen, dass Phil mich liebt", flüstere ich.
Er zuckt zusammen.
"Also hatte ich doch Recht", murmelt er traurig.
"Nein! Er liebt mich, aber ich liebe ihn nicht! Also nicht so, wie ich dich liebe..."
Wieder werde ich rot.
"Aber du liebst ihn trotzdem?", fragt Edward verwirrt.
"Ja... jein. Er ist neben Rike mein bester Freund. War... meine ich..." Ich schüttele den Kopf.
"War? Wieso war?",erwidert Edward stirnrunzelnd.
"Weil Rike tot ist, verdammt noch mal!", brülle ich und Tränen steigen mir in die Augen. Na toll, jetzt fange ich vor Edward auch noch an zu weinen.
Ich schüttele wieder den Kopf und versuche energisch mir die Tränen mit dem Handrücken wegzuwischen. Edward steht neben mir und schaut mich an, als wüsste er nicht, was er tun sollte. Weiß er wahrscheinlich auch nicht.
Ich seufze.
" 'tschuldigung", meine ich. Meine Stimme klingt fremd, irgendwie nicht nach mir. Edward legt mir vorsichtig den Arm auf die Schulter. Ich zucke zusammen und sehe peinlich berührt zu Boden.
"Ich...", setzt Edward an, doch da höre ich ein Rascheln im Gebüsch und halte den Atem an.
Doch es sind bloß Phil, Louis und Layla, die wieder zurückkommen. Ich wische mir über die Augen, als Phil mich verwirrt ansieht.
"Hatte was im Auge... nicht so wichtig", murmele ich schnell und sehe verstohlen zu Edward. Er grinst und legt unauffällig einen Zeigefinger an die Lippen.
Ich muss mir ein Lachen verkneifen.

Kapitel 26

Ich sitze im kalten, feuchten Sand und versuche meine Gedanken zu ordnen. Da ist nicht nur die Sache mit Edward. Da sind auch Phil, Louis und Layla, die das Anti-Karoson gar nicht geklaut haben, sondern "nur mal kurz die Lage checken" wollten. Und ein supergenialer Plan, der nicht mal annähernd genial ist, weil es ihn noch gar nicht gibt.
Das ist jetzt etwas zu viel auf einmal. Nun, zuerst sollte ich mich dem leichtesten und doch zugleich verzwicktesten Thema widmen. Edward. Eigentlich ist das ja schon... versprochene Sache. Er liebt mich, ich liebe ihn. Alles doch eigentlich ganz einfach. Eigentlich. Wenn da nicht Phil wäre. Nein, ich liebe ihn nicht. Aber auch wenn ich das mir jetzt schon zum gefühlt hundertsten Mal sage, fühle ich mich trotzdem irgendwie... schuldig.
Ich seufze. Layla steht einige Meter von mir entfernt und blickt aufs Meer.
"Alles okay?", fragt sie ohne ihren Blick von den endlosen Fluten abzuwenden. Ich antworte nicht, sondern versinke wieder in meinen Gedanken. Das Anti-Karoson. Ich war davon ausgegangen, dass Louis, Phil und Layla versuchen würden das Anti-Karoson zu stehlen. Weit gefehlt. Anscheinend wollten sie nur mal gucken, wie das bewacht ist und so. Obwohl Edward und Layla das doch wissen müssten. Und... Phil und ich auch.
Langsam kapiere ich das. Chico hat ganz bestimmt die Sicherheitsmaßnahmen für das Anti-Karoson verschärfen lassen. Und da kann man - wenn man ein strategisches Genie ist, wie Louis -, nicht einfach so losstürmen. Nicht wie Phil und ich.
Gut, damit wäre eine Frage beantwortet. Eine von drei.
Nächstes Thema. Der Plan. Der Plan besteht darin, dass wir das Anti-Karoson klauen wollen. Soviel weiß ich. Da stellt sich jetzt nur noch die Frage, wie.
Louis hat nur gesagt: "Um das Anti-Karoson zu stehlen, brauchen wir einen guten Plan."
Das ist meiner Meinung nach zweifellos richtig, aber nicht sehr nützlich, wenn man nicht mal annähernd eine Idee hat, wie dieser 'Plan' aussehen soll. Ziel des Plans ist natürlich, dass Anti-Karoson zu stehlen, keine Frage. Vermutlich auch, Chico zu stürzen. Aber wie... keine Ahnung...
Gut, das klärt sich sicher im Laufe der Zeit. Womit wir wieder bei Edward wären. Ich warte also einfach, bis sich das im Laufe der Zeit klärt. Okay, alle Probleme gelöst. Na ja, zumindest habe ich Lösungsansätze gefunden...
"Cashmere!"
Ich sehe Layla an; sie schaut immer noch aufs Meer.
"Bist du schwerhörig?", fragt sie ruhig.
"Was?"
"Ich habe dich vorhin gefragt, ob alles in Ordnung ist und du..."
Ich stöhne.
"Ist ja okay. Ich hab nur nachgedacht."
Layla schnaubt geringschätzig. Wenn sie mich doch nur anschauen würde, dann könnte ich ihr einen verärgerten Blick zu werfen, aber nein, Madame schaut lieber aufs Meer.
"Was machen wir jetzt?" Ich funkle Laylas Rücken an.
"Was wohl?!", meint Layla tonlos.
"Ja, was denn?", fauche ich. "Mit mir spricht ja keiner. Also was denn?"
Layla prustet los. Ich starre sie an und weiß nicht direkt, was ich denken soll.
"Was ist denn so witzig?", frage ich stirnrunzelnd.
"Dass auch ich keine Ahnung habe." Ich habe das Gefühl, dass Layla grinst, obwohl ihr Blick weiterhin in die Ferne des Meeres gerichtet ist.
Ich seufze.
"Wahnsinnig witzig, Layla."
"Gut, gut. Wieder im Ernst: Nun, ich denke, wir arbeiten jetzt an einem Plan."
Ich stütze nachdenklich den Kopf in beide Hände.
"Worin besteht denn der Plan eigentlich?"
Layla dreht sich um. Ihr Blick ist ernst und irgendwie recht merkwürdig.
"Was weiß ich schon. Ich glaube, wir versuchen, an das Anti-Karoson heran zu kommen."
Ich runzele die Stirn. Das war klar und trotzdem unlogisch.
"Ich dachte, dass hättet ihr schon gemacht?", meine ich. Meine Finger sind schon ganz steif und ich grabe sie im Sand ein, damit sie wieder etwas wärmer werden. Obwohl der Sand natürlich nicht nur feucht, sondern auch recht kühl ist.
"Habe ich am Anfang auch gedacht." Layla macht eine kleine Pause. "Aber nein, Louis hat sich nur das Sicherheitssystem angeschaut. Er scheint wirklich begabt zu sein. Zumindest was Technik betrifft." Sie seufzt leise.
Ich starre sie amüsiert an. Endlich kann ich mich auch mal auf Kosten anderer lustig machen. Aber trotzdem will ich auf keinen Fall Laylas Gefühle verletzen. Sie sieht aus, als hätte sie sich in Louis verliebt. Vielleicht sollte ich ihr doch schonend beibringen, dass er gar nicht so ein toller Typ ist. Nicht, dass er nicht gut aussieht oder dass er völlig... dumm ist. Nein, das ist er wirklich nicht. Aber so viel Ahnung von Technik hat er, meines Wissens, nicht.
"Findest du?", frage ich Layla ruhig.
"Was?", murmelt sie abwesend. Ich muss mir die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszuprusten.
"Dass Louis gut mit Technik umgehen kann", erkläre ich und schaffe es nicht, das Lächeln, das meine Mundwinkel umspielt, zu unterdrücken. Layla hebt die Augenbrauen an.
"Weshalb nicht?" Also, wenn sie wirklich ernsthaft verliebt ist, dann kann sie das unglaublich gut überspielen. Nicht, wie ich, wenn ich an Edward denke.
Apropos, wo ist der denn? Ich sehe mich am Strand um, bis ich ihn auf einem Felsbrocken entdecke. Als er mich bemerkt, winkt er mir vorsichtig zu. Dann sehen wir beide verlegen auf den Boden. Ich reiße mich zusammen und blicke wieder Layla an. Mist, wovon hatte sie nochmal gesprochen? Ach ja, Louis.
"Er... na ja, er studiert Staatsgeschichte...", sage ich und bin mir nicht sicher, ob das einen Zusammenhang zu dem besitzt, was Layla gerade eben gesagt hat.
"Und?", fragt sie erwartungsvoll.
"Was 'und'?", erwidere ich.
"Was studiert er denn noch?"
"Äh... das versteh' ich jetzt nicht...", meine ich verwirrt.
"Na, er studiert doch nicht nur Staatsgeschichte, nicht wahr?"
"Doch, schon", sage ich verständnislos.
"Aber man studiert doch immer zwei Fächer!", erwidert Layla selbstsicher.
"Auf Kamirus vielleicht. Aber bei uns in Renizilas haben wir kaum genug Lehrer, damit jeder ein iFach belegen kann, ganz zu schweigen davon, dass die meisten gar kein Geld dazu haben", erkläre ich.
"Oh." Layla schweigt und ich schaue verlegen zu Boden.
"Ja... na ja...", stottere ich.
"Ich wünschte, ich könnte euch helfen", meint Layla leise.
"Helfen, wie denn?"
"Das ist ja das Problem." Layla seufzt. "Ich weiß es nicht!"
Was soll ich denn darauf antworten? Dass ich es auch nicht weiß? Dass ich es toll fände, wenn sie uns helfen würde?
"Aber schau mal", beginne ich vorsichtig und Layla schaut mich an. "Das mit den Professoren ist ja inicht so schlimm..."
"Ach nein?", murmelt sie leise.
"Na ja, eigentlich schon. Aber trotzdem..." Ich stoppe, wortlos.
"Trotzdem was?"
"Das Schlimmste sind die Bedingungen, unter denen wir in Renizilas leben", erkläre ich.
"Welche Bedingungen?"
"Dreck, Hunger, Atemnot."
"Atemnot? Wieso?"
Ich reiße die Augen auf.
"Na wieso wohl brauchen wir das Anti-Karoson?", frage ich sie. Layla schweigt.
"Weil es nicht überall auf der Welt so toll ist wie auf Kamirus, weil wir beinahe an den Einflüssen des Karosons sterben!", flüstere ich eindringlich.
"Aber das lässt sich ja ändern", meint Louis, der plötzlich neben uns steht.
Ich sehe ihn verwundert an.
"Ja?"
"Ja. Wir haben jetzt ein Plan!"

Kapitel 27

Layla schaut Louis bewundernd an, doch jetzt habe ich keine Zeit, um zu darüber zu schmunzeln, geschweige denn, zu lachen.
"Und der wäre?", frage ich aufgeregt.
"Es ist zur Zeit nur ein Rohbau, den Phil und ich - mit Hilfe von Edwards Kenntnissen über iverschiedene Sicherheitssysteme hier - entwickelt haben", erklärt Louis wissenschaftlich.
Langsam kommt mir der Gedanke, dass ich Louis vielleicht doch unterschätzt habe, dass er doch mehr von Technik versteht, als ich dachte. Aber das kann doch eigentlich nicht sein! Ich kenne Louis schon so lange, da müsste ich so etwas doch wissen. Das hier wird immer merkwürdiger.
"Du hättest aber auch mich fragen können. Ich weiß ebenfalls viel über die Technik hier - genauso iviel wie Edward", bemerkt Layla jetzt gerade ernst, aber mit einem undefinierbaren Unterton in der Stimme. Ich frage mich, ob sie wohl gekränkt ist.
"Du... wirktest beschäftig. Entschuldige bitte, falls es dich verletzt, gekränkt haben sollte", sagt Louis ruhig. Überraschend wie ähnlich unsere Wort- bzw. Gedankenwahl doch ist.
"Ach nein, geht schon", meint Layla ruhig ohne jegliche Gefühlsregung in der Stimme. Louis schaut angestrengt auf seine grauen Schuhe.
"Äh... ja, gut... kommt ihr dann mit?", fragt er und man merkt wie nervös er ist.
"Klar", lächle ich freundlich, um ihm aus der Klemme zu helfen. "Ich bin sehr gespannt auf diesen iPlan."

Vor uns liegt eine Karte, ein spitzer Stift. Um das Blatt herum sieht man fünf ernste Gesichter.
"Und", hebe ich nach langem Schweigen an. "Was ist jetzt der Plan?"
"Also", meint Phil nachdenklich. "Einen Plan kann man das noch nicht nennen. Was hast du ihnen idenn da erzählt, Louis?"
Phil klingt beinahe spöttisch, was ich ziemlich fies finde, aber vielleicht ist meine Empfindungs-fähigkeit ja auch einfach etwas getrübt.
"Dass wir einen Plan haben. Mehr nicht", entgegnet Louis ruhig. "Das stimmt ja auch."
"Wie schon gesagt: ein Plan ist etwas anderes", behauptet Phil standhaft. Ich sehe ihn bewundernd an. Louis ist vielleicht nicht viel älter als wir, aber ich hätte einfach zu viel Respekt vor ihm, um ihn hier einfach so herauszufordern.
"Okay, euren Plan, eure Idee - egal was es jetzt ist -; erklärt es doch einfach mal", mischt sich Layla ein.
"Ja..., also", beginnt Louis unsicher mit einem Blick auf Layla und offenbart seinen Plan, Idee, Lösung - weiß der Himmel, was es jetzt eigentlich ist.
Leider sagen mir hochwissenschaftliche Formeln nicht besonders viel, genauso wenig wie bestimmte Maschinen. Im Groben sah der Plan, falls ich ihn richtig verstanden habe, in etwa so aus:
Schritt eins: Wir bilden zwei Gruppen. In der ersten Gruppe befinden sich Layla und ich. Damit habe ich eigentlich kein Problem. Sorgen mache ich mir hingegen um Gruppe Nummer 2: Edward, Louis und Phil. Natürlich ist Louis sehr durchsetzungsstark, aber ich wage zu behaupten, dass er, wenn sich Phil und Edward wegen irgendetwas (hoffentlich nicht mir!) in die Haare bekommen, nicht viel ausrichten kann. In sofern war das vielleicht nicht Louis' beste Idee.
Aber ich wollte seine Rede nicht unterbrechen. Manchmal ist Schweigen eben die beste Antwort.
Unsere Gruppe nimmt sich Chico zum Ziel, die andere das Anti-Karoson. Das wir uns Chico vornehmen, heißt allerdings nichts weiter, als dass wir ihn ablenken, während die anderen das Anti-Karoson stehlen - nein, eigentlich ist "freilassen" das passendere Wort. Wie eigenartig, dass ich immer an stehlen dachte, wenn es um das Anti-Karoson ging, obwohl freilassen doch viel unaufwändiger und wirkungsvoller ist.
Was allerdings das Ablenken angeht, bin ich nicht wirklich einverstanden.
Denn es besteht darin, dass Layla mich in den Palast führt und behauptet, sie hätte mich gefangen. Das alles natürlich umgeben von einer dicken, fetten Lüge, die daraus besteht, dass ich sie und Edward gefangen habe und so weiter und so fort. Da Layla an dieser Stelle nicht protestiert hat, nehme ich an, dass sie hervorragend lügen kann. Das ist wahrscheinlich ihr großes Talent: Die Wahrheit so zu verdrehen, dass es für sie gerade passt!
Für mich wäre das allerdings der perfekte Zeitpunkt für Protest gewesen. Wieso ich das nicht getan habe, weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil Edward mich in diesem Moment so komisch angesehen hat und ich erst zu spät erkannt habe, was das heißt, und mich dann wieder auf Louis konzentrieren musste - allerdings war er da schon wieder weiter im Text. Da konnte ich dann nicht mehr protestieren.
Als ich dann wieder zugehört habe, hieß es, dass Layla darauf bestehen soll, dass alle Wachleute von der gesamten Insel in den Palast kommen. Keine Ahnung, wie sie das anstellen will; ist ja auch nicht mein Problem. Ich muss nur ganz gedemütigt schauen und fertig!
Wenn alle Wachen dann im Palast sind, können Edward, Phil und Louis in den Hochsicherheitstrakt und das Anti-Karoson stehlen, freilassen, was auch immer.

An diesem Punkt unterbricht Louis.
"Und dann?", frage ich, nachdem ich alles verdaut habe.
"Tja", meint Louis nur und sieht Phil an.
"Dann kommen wir in den Palast", ergänzt dieser.
"Und danach?" Ich sehe Phil unsicher an.
"Keine Ahnung."
"Toller Plan!", fauche ich. "Dann lasse ich mich einfach ins Gefängnis stecken, oder was?"
"Beruhige dich, Cash", verteidigt Layla die Jungs ruhig. "Der Rest ihres Planes war doch ziemlich iprofessionell, oder? Und ziemlich gut."
Klar war er gut. Aber das kann ich doch nicht sagen, wenn ich eigentlich vor Wut koche.
"Es ist nur ein Rohbau!", entgegne ich forsch.
"Aber es wird einmal sehr professionell", beteuert Layla.
Ja...eigentlich schon. Aber es gefällt mir trotzdem nicht.
"Wieso muss ich den Köder spielen?", murmele ich kühl.
Stille.
"Toll! Toller Plan!", knurre ich sarkastisch.
Phil seufzt.
"Komm schon, Cash. Wieso sollten wir dich alleine lassen?", fragt er rhetorisch.
Gute Frage, eigentlich. Seine Worte beruhigen mich, aber weniger, weil man aus ihnen erkennen kann, dass er mich nicht hängen lässt, sondern weil er mich endlich mal wieder Cash genannt hat. Ich bin unglaublich erleichtert - wir sind wieder Freunde! Hoffe ich mal...
Louis schaut wieder auf den Zettel vor ihm und kritzelt etwas darauf.
"Dann kommen wir auf dem schnellsten Weg zu euch und helfen euch", meint er ruhig.
Ich nicke, beruhige mich langsam wieder, erkenne still die Genialität des Planes an. Das hat Louis wirklich verdient.
"Und wie?", fragt Edward.
Wow, ich hatte fast vergessen, dass er noch da ist. Bisher hat er sich sehr zurückgehalten und immer nach unten geschaut.
"Äh..." Louis scheint ratlos.
"Ihr könntet die Wachen ablenken", wirft Layla spontan ein.
"Ja", ergänzt Phil. "Wir könnten Lärm machen, zum Beispiel eine Explosion, dann könntet ihr iabhauen - und wir auch."
Ich nicke und bin froh, dass Phil nur eifrig ist, etwas beizutragen und nicht sarkastisch, wie so oft in letzter Zeit.
"Gute Idee!", beurteilt Louis. "Jetzt geht es an die Details."

Kapitel 28

Ich bin allein im Zelt. Die anderen sind draußen, gehen durch die Stadt, denken über den Plan nach. Louis ist bei seinen Leuten, um sie zu informieren, wie wir vorgehen werden. Wo die anderen genau sind, weiß ich nicht.
Das Zelt wirkt leer und kalt, ohne fünf Leute, die hier drin beratschlagen oder nachdenken. Phil hat mir angeboten, dass ich mitkommen soll, doch ich brauche erst mal etwas Zeit für mich, muss nachdenken über all das, was in den letzten Tagen Schlag auf Schlag und Fall auf Fall auf mich eingestürzt ist. Eigenartig, dass die Zeit scheinbar schneller verrinnt, wenn man abgelenkt ist. Seit dem Feuer in der Uni ist kaum mehr als eine Woche vergangen und es kommt mir vor, als wäre es schon Jahre her. Zu viel ist dazwischen passiert. Der Schmerz nach Rikes und Max' Tod ist nun dumpf und auch die Erinnerung an meine Mutter gibt mir jetzt kaum einen Stich mehr. Es gibt Leute, die behaupten, dass man durch manche Verluste aufrechter, entschlossener und stärker wird. Hätte mir das einer erzählt, nachdem Rike gestorben war, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Aber vielleicht ist es ja wirklich so. Vielleicht bin ich ja wirklich... anders geworden. Alles ist verloren, doch ich bin stärker denn je.
Mein Blick streift über den Boden und bleibt an einem Blatt Papier hängen. Es ist weiß und sauber. Eins ist sicher: Es gehört weder Louis noch Phil. In ganz Palonien hat keiner so weißes Papier. Wir schreiben auf alter Kleidung, die durch eine besondere Substanz in eine Art Papier verwandelt werden. Dieses 'Papier'- manche sagen dazu Pergament - ist grau und sieht dreckig aus.
Daraus lässt sich schließen, dass dieses Papier, was hier vor mir liegt, entweder von Layla oder von Edward stammt.
"Ich weiß, dass es mich nichts angeht", flüstere ich mir selber zu... und hebe es trotzdem auf.
Sorgfältig zusammen gefaltet ist es und als ich es aufklappe, fällt ein Zettel hinaus. Ich blicke auf das Blatt und kann die Worte kaum lesen. Auf Kamirus gibt es eine andere Schriftart, fein säuberlich, ganz anders als die schräge, verwischte Schrift, die ich von Renizilas kenne. Ich habe Edward und Layla selten beim Schreiben beobachtet, aber ich glaube trotzdem, dass dieses Papier mit Edwards Schrift gekennzeichnet ist. Es kostet mich einige Mühe, die Schrift zu entziffern.
'Ich schreibe Euch in einer Stunde höchster Eile. Es mag anders sein, als ich Euch gesagt habe, iaber bitte glaubet mir. In dem beiliegenden Schreiben werdet ihr alles finden, was ihr brauchen iwerdet, um die Operation 'nosorak-tina' zu verstehen.'
Ich stoppe. Was für eine gehobene Sprache. Eindeutig, dass es von Leuten aus Kamirus stammt. Aber an wenn ist das gerichtet? Und was ist nosorak-tina?
Ich bücke mich, um den anderen Zettel vom Boden aufzuheben. Er ist in der gleichen Schrift verfasst, wie der kurze Brief, allerdings länger und, falls das überhaupt möglich ist, noch akkurater und sauber, als der vorherige Text. Obendrüber steht:
'Als wissender Maulwurf schreibe ich Euch:'
Maulwurf? Was soll das denn jetzt heißen?
Ich habe keine Zeit, um darüber nachzudenken, denn in diesem Moment nehme ich Schritte wahr. So schnell ich kann, knicke ich beide Zettel und lasse zu sie zu Boden sinken. Sie schweben noch in den Luft, als Edward das Zelt betritt. Mein Atem stockt, doch ich weiß nicht, ob wegen Edwards Anwesenheit oder meiner Angst, dass er entdecken könnte, dass ich den Brief gelesen habe.
"Hey", sagt er.
Ganz kurz schnellt sein Blick zu Boden. Oder habe ich mir das nur eingebildet?
"Hallo", flüstere ich und plötzlich gibt es nichts mehr außer mich und ihn. Keinen Krieg, nichts.
"Was machst du gerade?", fragt er lächelnd und ich habe das Gefühl, als würde seine Blick glitzern.
"Nichts besonderes", entgegne ich schüchtern und fange fast ein wenig an zu zittern.
"Setz' dich doch", meint Edward sanft und ich folge seiner Aufforderung.
"Was... hast du so gemacht?" Ich sehe zu Boden.
"Nichts besonderes", erwidert er amüsiert.
Mir wird ganz warm. Wie süß er ist! Seine grünen Augen, sein schwarzes Haar... er sieht unheimlich gut aus. Und er ist so nett! Hilfsbereit... Und so... toll!
"Nun... ich muss dann wieder gehen", erklärt Edward nach einer Weile.
Ich sehe hoch.
"Klar!"
Er lächelt mich an und beugt sich ganz leicht vor.
In Zeitlupe sehe ich, wie er die Lippen öffnet und - der Zeltvorhang fällt zu.
Ich runzele die Stirn. Was war das jetzt? Obwohl keiner in der Nähe ist, werde ich vor Scham rot. Das hab ich mir nur ausgedacht!!!
Mann, wie peinlich! Wieso ist er überhaupt so plötzlich gegangen? Will er nicht mit mir reden?
Ich stehe auf und versuche meine Enttäuschung zu überspielen.
'Ich hab Wichtigeres zu tun, als vor mich hin zu träumen', sage ich mir in Gedanken.
Zum Beispiel der Brief! Was soll 'Maulwurf' heißen und... wo ist der Brief überhaupt?
Meine Augen suchen den Boden ab. Nichts! Wo ist er hin? Hat Edward ihn weggenommen? Nein, das kann nicht sein! Das würde Edward nie tun. Oder doch? Er war ziemlich nervös und wenn ich es mir recht überlege, hat er ziemlich oft auf den Boden geschaut.
Aber... kann das sein?
Ich versuche mir noch einmal vorzustellen, wie der Brief aussah und was darauf stand.Vor meinem inneren Auge sehe ich die Schrift, übersetze sie... Der Plan! Das stand darauf.
Und jetzt fällt es mir auch wieder ein: Maulwurf ist ein überholter Begriff für Spion. Jemand hat vor diesen Brief abzuschicken, voll mit Informationen über unseren Plan! Und ich habe leider auch schon einen Verdacht, wer dieser Jemand ist. Und auch an wen er den Brief schickt.
Edward oder Layla haben einen Brief geschrieben und damit höchstwahrscheinlich Chico alles über unseren Plan verraten!

Kapitel 29

'Nein, das ist Unsinn!', sage ich mir in Gedanken. 'Wieso sollten sie das tun?'
Ich schüttele den Kopf. Es könnte auch ein alter Brief gewesen sein, vielleicht habe ich mir das mit dem Plan auch nur eingebildet. Wäre doch eine logische Idee, oder?
Doch entgegen aller Logik: Ich habe das Gefühl, dass ich mich vorhin nicht getäuscht habe. Keine Ahnung, woher ich die Überzeugung plötzlich genommen habe, aber ich bin mir sicher von dem, was ich gesehen habe.
Und da der Brief verschwand nachdem Edward ins Zelt gekommen ist, liegt die Vermutung nahe..., dass Edward dieses Schreiben verfasst hat.
Aber... das würde er doch nie tun, oder? Ich meine, er ist doch kein Verräter! Und ich vertraue ihm!Aber woher nehme ich dieses Vertrauen? Vielleicht ist das völlig unbegründet.
Plötzlich steht mein ganzes Leben Kopf - noch mehr als vorher. Wem kann ich noch vertrauen und wem nicht?
"Hey Cash."
Ich blicke auf, in der Erwartung, Edward zu sehen.
"Oh, hey Phil", lautet stattdessen die korrekte Antwort.
"Was ist los? Du wirkst so komisch..."
Soll ich es ihm sagen? Soll ich ihm an meinem Verdacht teilhaben lassen? Es wäre erleichternd, endlich wieder mit meinem besten Freund über alles zu reden. Andererseits riskiere ich damit einen ziemlichen Streit. Und was ist, wenn sich am Ende herausstellt, dass ich im Unrecht war? Dann wäre eh alles vorbei.
"Nichts", antworte ich und senke den Blick.
Ich kann fast spüren, wie Phils Augen mich besorgt mustern.
"Denkst du, der Plan ist sicher?", frage ich unruhig. Ich bin vielleicht zu feige, ihm meinen Verdacht direkt mitzuteilen, aber ein paar Andeutungen können nicht schaden.
"Ja. Immerhin ist es jetzt ein richtiger Plan."
Als ich den Kopf hebe, sehe ich ihn grinsen. Wie in alten Zeiten. Endlich.
Irgendwie witzig, dass 'Wie in alten Zeiten' erst eine Woche her ist.
"Wir fliegen morgen los", ergänzt Phil.
"So bald schon?", entgegne ich und als er nickt, werde ich ruhiger. Möglicherweise hat der Brief, falls er wirklich das enthält, was ich befürchte, ja gar keine Chance, an den Empfänger zu kommen, bevor wir unseren Plan ausgeführt haben.
Ich lächele. Endlich fühle ich mich wieder etwas freier.
"Du, Phil?", hebe ich an.
"Ja, Cash?"
"Es tut mir Leid...", flüstere ich; er zieht bloß die Augenbrauen hoch.
"Dass wir uns gestritten haben und so... Dass ich so fies zu dir war", sage ich leise.
"Schon vergessen. Echte Freunde streiten sich halt auch mal", bemerkt Phil sanft und mir fällt ein Stein vom Herzen. Von dem Herzen, das noch vor wenigen Minuten vor Freude gesprungen ist, als ich Edward gesehen habe und es vielleicht immer noch tut. Verrückt.
"Das zeichnet wahre Freundschaft doch aus, oder nicht?", ergänzt Phil.
"Ja, du hast Recht."
"Und ich habe auch viele Fehler gemacht. Ich hätte Edward nicht so provozieren sollen", meint er.
Oh ja, Edward...
"Sag mal, Phil. Was würdest du sagen, wenn Edward ein Verräter wäre?", frage ich vorsichtig.
"Vor zwei Tagen hätte ich gesagt: 'Ich wusste es von Anfang an.'", meint Phil nachdenklich.
"Und jetzt?"
"Jetzt würde ich sagen: schade.'"
Ich schweige kurz.
"Wieso?", hakt Phil nach.
"Keine Ahnung. Nur so", versuche ich möglichst gleichgültig zu sagen.
"Er ist sehr schlau und auch nett", sagt Phil, doch er wirkt ein wenig distanziert.
"Findest du?"
"Ja, finde ich."
Ich sehe zu Boden. Weiß er, dass wir mehr oder weniger ein Paar sind? Würde er anders reagieren, wenn er es wüsste? Falls wir überhaupt noch ein Paar sind... Wenn er wirklich den Brief...
Nein! Nichts da! Kein Brief und nichts! Ich bilde mir doch nur Dinge ein, die gar nicht stimmen!
"Cash?", fragt Phil leise.
"Ja?" Ich sehe auf.
"Wieso hast du das gefragt? Weißt du etwas derartiges?" An seiner Stimme merke ich, dass er nicht glaubt, dass Edward ein Verräter ist, doch die Verbundenheit, die wir schon so lange teilen, höre ich auch darin. Wenn ich etwas in der Art wüsste, würde er es mir glauben.
"Nein... Ich denke nicht", flüstere ich.
"Du denkst, nicht?"
"Ja."
Phil nickt bloß, fragt nicht weiter und das rechne ich ihm hoch an.
"Die Sonne geht unter", sagt er nach einer Weile.
"Und?"
"In der Morgendämmerung brechen wir auf. Geh jetzt lieber schlafen."
"Aber ich weiß doch noch gar nichts über den Plan!", protestiere ich. "Nichts genaues!"
"Ich erkläre es dir morgen im Flugzeug."
"Und wenn ich etwas dagegen habe? Gegen das, was du sagst?", wende ich abermals ein.
"Tja", meint Phil lächelnd.
"Das ist nicht witzig, Phil."
"Nein, Cash, das ist es nicht. Aber das ist mir egal. Du... du bist witzig."
Wieso bitte schön?
"Schlaf jetzt, Cash."
Und er verlässt das Zelt, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Kapitel 30

Die Morgenluft ist kühl, als ich am nächsten Morgen aus dem Zelt trete. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, nur der Himmel färbt sich langsam orange. Ich weiß, das ich noch Zeit habe, aber mir ist bewusst, dass ich nicht mehr schlafen kann.
In den wenigen alten Büchern meiner Mutter, die ich vor ihrem Tod so gern gelesen habe, obwohl sie teilweise für Kinder waren, wäre das jetzt der richtige Augenblick für die Hauptperson, um alle Gedanken zu klären. Ein Sonnenaufgang, völlige Stille. Eine sehr idyllische Szene. Doch komischerweise ist mein Kopf vollkommen leer. Da sind keine Gedanken, die man klären müsste, keine Fragen, die sich mir stellen. Das heißt..., eigentlich sind hier schon Gedanken, Millionen von Fragen, die ich habe, doch angesichts dieses atemberaubenden Blickes und der bevorstehenden Dinge, wirken sie nicht markant. Nicht wichtig und nicht ausschlaggebend. In meinem Kopf passiert nichts, oder wenn etwas passiert, dann nur im Hintergrund. Nicht vorn und nicht bedeutend.
Ich laufe ein Stück und setze mich in den morgenfeuchten Sand. Er ist kühl, was nicht gerade angenehm ist, doch ich bleibe sitzen.
Die Wellen schwappen sanft auf den Strand, das ruhige Plätschern schläfert ein. Um wach zu bleiben, erhebe ich mich wieder, ziehe die Schuhe aus und laufe langsam zum Meer.
Barfuß ist der feuchte Sand kaum zu ertragen, aber wenigsten werde ich langsam wach. Die Wellen schwappen schon über meine Zehen, als ich stehen bleibe. Ich zittere. Mann, ist das kalt! Ich laufe weiter bis mir das Wasser über die Schienbeine geht und halte erneut an. Ein plötzlicher Schwall Wasser berührt meine Knie und ich zucke zusammen. Ich schüttele mich, doch als ich wieder zurück gehen will, trete ich auf einen Stein und prompt liege ich, ohne zu wissen wie mir geschieht, mitten im Meer. Beziehungsweise werde ich von Wellen verschluckt; keine Ahnung, ob ich schon mitten im Meer bin. Eine weitere salzige Welle rollt über mich hinweg.
Igitt! Ich schlucke Wasser und schaffe es kaum mich oben zu halten. Genauer gesagt weiß ich plötzlich nicht mal mehr, wo oben und unten ist. Dabei ist das Wasser doch nur kniehoch!
Ich paddele mit den Armen, sehe kurz etwas blaues, kann aber nicht unterscheiden, ob das der Himmel oder ein Fisch ist. Plötzlich spüre ich wie mich etwas nach oben zieht. Oder es zieht mich nach unten, das weiß ich nicht genau. Doch als ich plötzlich den Himmel sehe - und dieses Mal ist es wirklich der Himmel -, merke ich, dass mich das etwas nach oben gezogen hat.
"Ziemlich früh für ein Bad."
Dieses etwas ist Layla. Ich spucke aus und muss mich bemühen mein gestriges Abendessen bei mir zu behalten.
"Ich wusste gar nicht, dass die Ostsee so salzig ist", bemerke ich leicht schwankend, als ich mich aufrichte.
"Sagt ihr noch Ostsee? Bei uns heißt das Meer hier Rügen", erklärt Layla in einem Ton, als ob sie mit mir plaudern würde.
"Rügen?", frage ich erstaunt. Es ist wahnsinnig schwer, nachzudenken, wenn man gerade fast ertrunken ist. "Ist das nicht... eine Insel?"
"Ja, so hieß Kamirus früher", meint Layla.
"Ach so, ja. Übrigens, danke, dass du mich gerettet hast." Ehrlich, das ist mir gerade erst aufgefallen.
"Keine Ursache. Obwohl es nicht gerade schwer war. Kannst du denn nicht schwimmen?", schnaubt Layla.
"Doch, klar. Wieso?"
"Weil ich nicht verstehe, wie man es schafft, sich in knietiefem Wasser zu ertrinken!"
"Knietief?! Das war... tiefer..."
Layla unterbricht mich lachend.
"Das sah echt unheimlich komisch aus."
Ich starre sie wütend an.
"Nein, im Ernst. Wie du gepaddelt hast", prustet Layla.
Ich schaue beschämt zu Boden.
"Es war halt..."
"Was hast du eigentlich hier gemacht?" Layla scheint zu merken, dass ich nicht weiter über diesen missglückten Schwimmversuch reden möchte.
"Weiß nicht. Ich war halt wach und wollte mal ein bisschen allein sein."
Es wundert mich selber, dass ich keine genaue Antwort weiß.
"Anscheinend kann man dich nicht allein lassen, sonst bringst du dich noch um." Layla kichert.
"Witzig", fauche ich und merke plötzlich wie kalt mir ist. Unbewusst klappere ich mit den Zähnen. Das bringt Layla endlich zur Besinnung.
"Ach du meine Güte, du musst bis auf die Knochen frieren", stellt sie erschrocken fest.
Ich zucke mit den Schultern, versuche unbeteiligt zu wirken, doch ich kann das Zittern nicht unterdrücken.
"Los, komm mit zurück. Ich helfe dir."
Sie nimmt mich leicht kopfschüttelnd mit ins Zelt. Die anderen sind schon wach.
"Himmel, Cash, was ist den mit dir passiert?", fragt Louis entsetzt, als wir hineinkommen.
"Sie wollte schwimmen gehen." Layla antwortet nur knapp, doch ich sehe, wie sie Louis zulächelt.
Phil kommt zu mir.
"Du musst dich unbedingt aufwärmen. Ich mach mal ein Feuer", meint er aufgebracht.
"Aber dafür haben wir doch keine Zeit", bibbere ich.
"Ich hab was", sagt Layla.
Ich schaue sie verwirrt an. Was meint sie bloß?

Kapitel 31

Als ich kurz darauf wieder vor den anderen stehe, geht es mir schon viel besser. Layla hat mir ein paar ihrer Sachen geliehen. Offenbar hat sie ganz schön viel mitgenommen, als wir von Kamirus weggefahren sind. Sie hatte eine kleine Tasche dabei und darin, ja darin... das war der reinste Wahnsinn! Sie hatte doppelt so viele Klamotten dabei, wie ich überhaupt besitze. Daraus konnte sie mir natürlich schnell etwas leihen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich mir einfach das nächstbeste geschnappt und angezogen. Doch für jemanden wie Layla geht das natürlich gar nicht. Es ist fast witzig, wenn ich daran denken, wie sie übergeschnappt hat, als ich versucht habe, mir eine rote Hose und eine magentafarbene Bluse zu nehmen. So etwas ist für sie - wie nennt sie das so schön? - ein absolutes "no-go". Mal am Rande bemerkt, ich liebe diesen Ausdruck! Jedenfalls trage ich nun eine mitternachtsblaue Bluse und eine silbergraue Hose. Das sieht unheimlich gut aus und ist selbst für Layla okay. Um das ganze noch perfekt zu machen, hat mir Layla auch noch einen Zopf in meine sonst offenen Haare geflochten. Darüber trage ich eine dünne Jacke, die in wunderschön dunklem Grün leuchtet.
"Wow", sagen Phil und Edward wie aus einem Mund, als ich vor ihnen stehe.
"Ist das nicht etwas übertrieben?", wende ich mich an Layla. "Soll ich nicht die Verbrecherin idarstellen?"
Layla zuckt nur mit den Schultern.
"Es sieht auf jeden Fall wahnsinnig gut aus", meint Edward und ich sehe sofort zu Boden. In meinem Kopf dreht sich plötzlich alles. Wer ist Edward wirklich? Was hat er getan oder was denke ich völlig falsch von ihm?
Layla stupst mich mit dem Ellenbogen an. Ich schaue auf. Mit einer bedeutungsvollen Kopfbewegung weist sie auf ihren Bruder. Mein Blick folgt ihrem.
"Danke", hauche ich.

"Wie kommen wir überhaupt nach Kamirus?", frage ich nach einer Weile Louis.
"Flugzeug. Das hast du übrigens schon mal gefragt", erwidert er knapp.
Upps... Ich nicke nur verlegen.
"Was ist, wenn das jemand findet?", hake ich schließlich nach.
"Wir verstecken es", meint Phil ruhig. "Sag mal, was ist überhaupt vorhin mit dir passiert?"
Verwirrt schaue ich ihn an.
"Du warst klitschnass!", sagt Phil eindringlich.
"Ich hab doch gesagt, sie wollte schwimmen gehen", unterbricht uns Layla.
"Wahnsinnig witzig." Phils Stimme klingt kalt.
"Ich bin gestolpert", versuche ich ihn zu beruhigen.
"Wenn du meinst." Phil zuckt mit den Schultern.
Was soll das denn jetzt heißen?

Einige Zeit später sind wir wieder im Flugzeug.
"Alles in Ordnung?", fragt Edward und sieht mich prüfend an.
"Klar!", lüge ich schnell. Dabei dreht sich mir fast der Magen um.
"Dann ist ja gut..."
Es wird unerträglich still. Mein Blick schweift in der kleinen Kabine umher. Layla, Phil und Louis unterhalten sich angespannt. Ich nehme an, das Flugzeug fliegt wieder von selbst.
"Ich habe Angst", sage ich plötzlich leise zu Edward.
Er rückt näher zu mir.
"Das ist natürlich", flüstert er und legt seinen Arm um mich. "Aber dir wird nichts passieren."
Ich schlucke bloß, nicke schnell und schaue wieder durch den Raum. Mein Blick triff den von Phil. Ich erstarre, als ich ihn wütend funkeln sehe.
"Phil?", hauche ich.
"Was? Hast du was gesagt?", murmelt Edward.
"Nee", meine ich nur und blicke wieder zu Phil. Er sieht wirklich wütend aus. Verräter! Er hat gesagt, er hat nichts gegen Edward! Das ist gemein.
Ich versuche mich abzulenken. Ich will echt nicht darüber nachdenken, ob mein bester Freund mich angelogen hat. Stattdessen sehe ich zu Layla. Sie schreibt irgendwas auf ein Stück Papier.
Papier, Schreiben,... Na klar! Wer sagt denn, das Edward den Brief, den ich gefunden habe, geschrieben hat? Layla schreibt auch mit der selben Schrift!
Ich stehe auf und gehe zu den anderen. Das sind ja nur zwei, drei Schritte, aber der Weg kommt mir trotzdem lang vor.
"Hey, Leute."
Irgedwie wirkt das bei dem kurzen Weg komisch...
"Hey, Cash", antworten alle.
"Was macht ihr gerade?", frage ich und werfe einen kurzen Blick auf Laylas Blatt.
"Nichts besonderes", meinen alle freundlich. Es klingt nicht gerade verdächtig.
"Was ist das?"
Ich weise auf Laylas Blatt.
"Ein Gedicht", meint diese leise.
Mein Blick wandert über die Zeilen. Die Schrift ist typisch für Kamirus, recht ordentlich, trotzdem kann ich kein Wort lesen.
"Der Mond scheint hell", übersetzt Louis, "Man sieht ein Haus am Meer. Der Wind weht schnell, idarüber her. Wo man schaut, wo man sucht; gefunden wird kein Mensch. Kleine Spuren führen..."
"Lass das!", unterbricht ihn Layla und zieht das Blatt weg.
Doch ich betrachte Louis aufmerksam.
"Du kannst diese Schrift?", frage ich überrascht. Louis nickt.
"Lesen und Schreiben?"
"Ja, wieso?"
Ich zucke mit den Schultern und schaue blitzschnell zu ihm. Auch er hat ein Blatt vor sich.
Plötzlich sehe ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung; das Blatt segelt langsam zu Boden. Louis fängt es schnell auf und sieht hoch. Ganz kurz begegnen sich unsere Blicke. Er erschrickt. Schnell und bemüht unauffällig knüllt er das Blatt zusammen und steckt es weg. Ich sehe ihn nachdenklich an.
Louis kann die Schrift von Kamirus und er will offenbar nicht, dass ich lese, was er geschrieben hat. Und was ist... wenn er den Brief an Chico geschrieben hat?
Ich denke zurück an den Tag, als ich mit Edward, Layla und Phil von Kamirus wiederkam und Louis und seinen Leuten am Strand begegnete.
"Du bist eine unglaubliche Verräterin, Cashmere! Einfach abscheulich!", hat er damals gesagt. Und jetzt? Vielleicht ist er der Verräter?
Langsam wird das immer verwirrender. Es gibt einen Verräter hier, glaube ich jedenfalls... auch wenn ich das Gegenteil hoffe. Und dann gibt es da drei potenzielle Kandidaten für diesen 'Job'. Dass es alle drei sind, halte ich für ausgeschlossen, wieso auch immer...
Plötzlich fällt mir etwas ein.
"Phil", meine ich, "Du wolltest mir doch den Plan nochmal genau erklären!"
Er nickt und legt den Stift aus der Hand. Moment! Er schreibt etwas? Ich schließe die Augen und mache mir nicht mal die Mühe, auf sein Blatt zu schauen. Potenzieller Täter Nummer vier. Na super!
"Also, die Sache ist die; das einzige, was wir verändert haben, ist, dass wir einen kleinen Plan B ihaben, für den Fall, dass Layla nicht alle Wachen in den Palast locken kann."
Ich runzele die Stirn.
"Ja, das war tatsächlich recht unrealistisch, dass sie das schafft", bemerke ich knapp.
"Verurteile sie nicht zu schnell, Cash. Sie ist seine Tochter." - Er braucht nicht zu sagen, dass er Chico meint.- "Sie hat sicher eine besondere... Ausstrahlung auf ihn."
"Ausstrahlung?" Im selben Augenblick verstehe ich. "Ah ja, geht klar. Na ja, Plan B ist immer gut."
In den Büchern meiner Mutter gab es immer einen Plan B. Irgendwas an diesen Büchern muss doch stimmen!
Plötzlich wird mir bewusst, dass Phil nicht weiter redet.
"Äh...Phil?"
"Ja?"
"Dein Plan B...?", meine ich auffordernd.
"Ach so, ja, Edward hat ein Schlafmittel, ein Spray, das könnten wir eventuell für die Wachen inehmen."
"Okay", sage ich langsam. Nicht gerade kreativ, aber sicher wirksam.
"Wie lange hält so eine Dosis davon?", frage ich weiter.
"Von dem Schlafmittel, meinst du? Vier, fünf Stunden. Das sollten wir schaffen."
Ich nicke ruhig.
Phil ist ein guter Freund; schlau, nett, immer hilfsbereit...Ich fühle mich total schuldig, dass ich ihm misstraue.
Ist Vertrauen nicht genau das, was Freundschaft ausmacht?

Kapitel 32

Ich beiße mir auf die Lippen. Phil umarmt mich kurz, Louis schlägt mir leicht auf die Schulter.
"Nur Mut, Cash", flüstert er sanft.
Er hat leicht reden. Ich würde alles in der Welt dafür geben, das Anti-Karoson zu stehlen, anstatt mit Layla in Chicos Palast zu gehen.
"Du schaffst das schon." Phil Stimme soll wohl aufmunternd klingen, ist aber eher tonlos und etwas erstickt.
"Ja", meine ich, als könnte ich damit meine eigenen Zweifel bezwingen.
Edward tritt vor mich. Ich versuche ihm in die Augen zu sehen, doch er wendet seinen Blick demonstrativ zu Boden. Seine Lippen berühren kurz meine Wange und ich schlucke, während er bloß schweigt. Müsste jetzt von ihm nicht so was kommen wie 'Viel Glück!' oder 'Pass auf dich auf.'? Wieso ist Edward so komisch? Hat er Angst?
Dann mach' ich es eben.
"Viel Glück, Edward", flüstere ich.
Er blinzelt bloß, den Blick immer noch starr auf den Boden gesenkt.
"Auf Wiedersehen, Cashmere", meint er schließlich.
'Auf Wiedersehen'? Das klingt so... distanziert.
Ich schlucke erneut. Meine Kehle ist trocken.
"Bis dann", sagt schließlich Layla, die bis jetzt sehr still war. "Hoffen wir, dass alles klappt..."
Sie legt ihren Arm auf meine Schulter, ich spüre wie sich meine Füße bewegen und unterdrücke den Impuls, zu weinen und zu jammern wie ein kleines Kind. Dass ich hier bleiben möchte. Dass ich Angst habe. Dass alles schief gehen wird. Dass einer von diesen Vieren, meinen Freunden, ein Verräter ist.
Ist denn einer ein Verräter? Ist denn alles so labil, dass der ganze Plan, Plan B eingeschlossen, in sich zusammenbrechen kann?
Was ist, wenn alles schief geht???
Layla läuft neben mir. Ich zittere und fühle mich richtig mies. Plötzlich fährt mir Layla durch die Haare.
"Lass das", fauche ich nervös.
Sie hebt die Augenbrauen.
"Du - Verbrecherin, kapiert?!", meint sie leicht spöttisch, doch mir wird übel.
Ich nicke verbissen, als sie mir meine 1A-Flechtfrisur völlig zerstört und schließlich noch die Hände mit einem Seil auf den Rücken bindet. Das tut ziemlich weh, doch ich habe Angst, dass ich mich übergeben muss, sobald ich auch nur den Mund aufmache. Also schweige ich.
"Ich führe dich dann zu Chico, ja?", fragt Layla prüfend.
Ich würde am liebsten fauchen, dass ich das alles weiß und es jetzt auf keinen Fall hören möchte, doch mein Mund ist wie zugeklebt. Statt zu antworten, zucke ich mit den Schultern.
"Du tust einfach nichts, bis ich dir ein Zeichen gebe. Wir dürfen erst handeln, wenn die Jungs fast ibeim Palast sind."
Jetzt muss ich doch den Mund aufmachen.
"Und woher willst du wissen, wann das ist?!", fauche ich gereizt.
Layla zieht etwas aus ihrer Hosentasche. Es ist ein kleines Gerät. Sie steckt es sich ins Ohr.
"Was ist das?", frage ich nervös.
"Ein Walkie-Talkie."
Ach so... es sieht völlig anders aus als die, die es in Renizilas gibt.
Plötzlich muss ich wieder an den schrecklichen Morgen in der Uni denken. Der Brand. Rike. Da haben uns Walkie-Talkies überhaupt nichts geholfen. Wieso also sollten sie uns jetzt helfen?
Na gut, wenn ich schon mal rede, dann aber richtig.
"Und überhaupt, was genau soll ich machen, wenn wir im Palast sind? Nichts?!", fauche ich.
"Ja, habe ich doch gesagt", sagt Layla mit einer Ruhe, die mich noch aggressiver macht.
"Und du denkst allen Ernstes, damit kommen wir durch?!"
Layla geht überhaupt nicht auf meinen Sarkasmus ein.
"Cash, ich verstehe, dass du Angst hast und nervös bist", beginnt sie.
Nervös? Ich bin... ich bin... einfach nur am Ende.
"Aber dir wird nichts passieren. Vertrau mir!", flüstert Layla und umarmt mich sanft. Wie eine echte Freundin...
Doch es beruhigt mich nicht. Ich habe alles verloren. Meine Freunde, meine Familie. Ich war am Boden zerstört, aber wenigstens konnte ich kaum jemanden mehr verlieren. Dann habe ich neue Freunde gefunden. Und wenn ich die jetzt auch noch verliere?
Es geht nicht mehr nur um mein Leben! Jetzt bin ich irgendwie auch verantwortlich für meine Freunde.
Ich kann die Tränen kaum zurückhalten.
"Cash", flüstert Layla. "Dir passiert nichts. Du wirst sehen, im Handumdrehen haben die Jungs das iAnti-Karoson geholt und kommen zu uns."
"Und dann? Wie genau willst du Chico besiegen?"
"Er wird sich freiwillig ergeben." Layla klingt unheimlich sicher.
"Nein", flüstere ich, "Wird er nicht!"
"O doch, ich habe eine kleine... Geheimwaffe."
"Was?"
"Verrat ich nicht!"
"Layla, ich...", meine ich leise.
Sie unterbricht mich.
"Wir kommen jetzt in den Palast. Sei still", murmelt sie.
"Aber..."
Layla schüttelte nur den Kopf, rückt ihren schwarzen Zopf gerade, schnürt meine Fesseln enger und gibt mir irgendeine Anweisung, die nach 'Kopf runter!' klingt.
Mein Herz pocht so laut, dass ich das Gefühl habe, selbst Leevy im fernen Renzilas kann es hören.
Layla sieht mich an.
"It's showtime!", flüstert sie, doch auch sie zittert nun.

Kapitel 33

Ich halte den Kopf gesenkt, schaue nach unten und zittere. Layla stupst mich leicht an und ich hebe ganz kurz meinen Blick. Wir sind vor dem Palast. Zwei Wachen kommen auf uns zu, ich senke den Kopf wieder.
"Fräulein Eretro. Ihr seid zurück?", ruft einer der Wachen erstaunt.
Ich beiße mir auf die Lippen, den Blick starr auf den Boden gerichtet, während Layla antwortet.
"Ja, es ist eine lange Geschichte. Jorek, ich muss sofort mit meinen Vater reden. Es ist extrem iwichtig."
"Ich eile, ich eile, Fräulein Eretro. Kieran, bring das Fräulein und... die andere in den Audienzsaal."
Kieran, der andere Wachposten nickt und führt uns in den Palast. Mein Herz dröhnt und ich schlucke.
"Du musst in einen Audienzsaal, bevor du deinen Vater sehen kannst?", frage ich Layla so leise wie möglich, damit mich der Wachmann nicht hört.
"Ja und jetzt sei still!", knurrt Layla angespannt.
Ich schweige und versuche nicht daran zu denken, dass ich gleich Chico gegenüberstehen muss, der mir doch geschworen hat, dass er sich an mir rächen wird. Wieso musste ich eigentlich den Lockvogel für diesen dummen Plan spielen?
Meine Hände beginnen zu zittern und mir treten die Tränen in die Augen.
Kurz bevor ich anfange zu schniefen, dreht sich Kieran unvermittelt um und ich schließe die Augen, um die Tränen zu verdrängen.
"Hier hinein", meint er höflich, allerdings nur zu Layla. Mich hingegen starrt er mit unverhohlenem Abscheu an. Zwar hat Layla noch nicht mal erwähnt, dass ich eine Verbrecherin bin, aber an meinem Auftreten lässt sich das wohl unschwer erkennen.

Die Tür zum Audienzsaal geht auf. Wir haben uns für ein paar Augenblicke hingesetzt, da kommt auch schon wieder eine Wache rein. Ich glaube, es ist der Typ namens Jorek.
"Folgt mir", meint er und hält Layla die Tür auf. Mir natürlich nicht. Blödmann! Ich hätte vermutlich nichts anders erwarten sollen.
In mir spannt sich alles an, als wir den Saal betreten, in dem Chico uns, also Layla, erwartet.
"Layla!", höre ich eine Schrei.
Dann folgen Schritte. Schwerfällige Schritte. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass das Chico ist. Es sieht unheimlich komisch aus, wie er rennt, aber ich fühle mich, als könnte ich nie wieder im Leben über etwas Komisches lachen. Mir ist übel. Was passiert jetzt?
"Vater", erklingt Laylas Stimme, während ich stocksteif dastehe. Allerdings klingt Layla nicht mal annähernd so überschäumend vor Freude wie Chico.
"Wo ist Edward?", fragt Chico nach einer Weile, in der wer weiß, was, passiert sein könnte; ich habe ja nicht hingesehen.
"Gleich", beschwichtigt Layla ihn.
"Und was macht dieses Mädchen hier?"
Also ehrlich! Ich bin 21, du aufgeblasener Affe!
"Vater, ich erzähle dir alles bald. Jetzt habe ich erstmal eine Bitte. Es ist extrem, extrem wichtig, idass du alle Wachen und Soldaten der ganzen Insel hierher kommen lässt, ja?", meint Layla eindringlich.
Chico zögert.
"Na gut, ich werde die Wachen holen."
Vielleicht ist es nur eine Täuschung, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass er mit Absicht nur 'die Wachen' gesagt hat und nicht 'alle Wachen'.
"Sie kommen gleich; erzähle mal, Layla. Wer ist dieses Mädchen und wo ist Edward?", fragt Chico schließlich.
"Edward ist noch auf dem Schiff", meint Layla vorsichtig, um die Zeit zu dehnen.
"Auf welchem Schiff?"
"Auf dem, mit dem wir hierhergekommen sind."
"Wo ward ihr den überhaupt?"
"In Renizilas", meint Layla trocken.
"Also wurdet ihr doch entführt!", ruft Chico aufgebracht.
"Ja..."
"Wie seid ihr entkommen?"
Das Gespräch ist ja bis hier ganz schön eintönig, aber ich kann mir vorstellen, dass sich das jetzt ändert. Nicht unbedingt positiv für mich...
"Wir haben sie gefangen genommen...", erklärt Layla und ich spüre ihre Unruhe.
"Cashmere Goratsch?"
"Ja."
"Dann ist sie", er deutet auf mich,"Cashmere Goratsch?!"
Layla antwortet etwas, doch ihre Stimme geht in schnellen Schritten unter, als ich brutal zu Boden gestoßen werde.
Als ich nach oben sehe, steht Chico direkt über mir.
"Cashmere Goratsch!"
Ich kann mich nicht rühren.
"Du hast meine Kinder entführt!"
Wieso musste ich dieser verdammte Lockvogel sein?
"Das wirst du bitter bereuen!"
Dieser Plan ist doch echt das Letzte.
"Dafür bringe ich dich um! Hier und jetzt!"

Kapitel 34

Mir stockt der Atem und mein Gehirn ist wie leergefegt.
"Vater", ruft Layla, die ihre Sprache offenbar schneller wieder gefunden hat als ich, doch Chico würdigt sie keines Blickes.
Mit Grauen sehe ich, wie sie erstarrt. Wenn nicht mal mehr sie weiter weiß...
"Jungs", murmelt sie schließlich nur eindringlich.
Sie hat mir vorhin erzählt, dass sie mit den anderen über Walkie-Talkies in Verbindung bleibt, nur für alle Fälle.
Ganz kurz wendet sich Chico seiner Tochter zu.
"Oh, deine 'Jungs' werden dir jetzt nicht mehr helfen können!", meint er spöttisch. "Packt sie!"
Sofort werden Layla und mir die Hände auf den Rücken gedreht; eine Wache stößt mich an und zwingt mich aufzustehen. Wortlos führen uns zwei Männer in einen Nebenraum. Nein, es ist eigentlich kein Nebenraum. Es ist ein Gefängnis.

"Die Jungs haben es immer noch besser als wir. Sie haben einen Plan B", meine ich leise, schaue Layla kurz an und beginne wieder in der engen Zelle auf und ab zu laufen.
"Aber wir müssen es ihnen sagen", beschließt Layla.
"Was sagen?"
"Was hier passiert ist. Wenn sie hier herkommen, laufen sie geradewegs in die Arme meines iVaters", erklärt Layla knapp.
"Und wie sollen wir ihnen das sagen? Wie stellst du dir das bitte schön vor?!", fauche ich nervös.
"Hiermit!" Ein kleiner Gegenstand landet auf dem Boden vor uns. Layla spring auf.
"Jorek?", flüstert sie ungläubig.
"Mehr kann ich nicht für Sie tun", meint er leise. "Reden Sie mit ihren Freunden und geben Sie es imir dann wieder, damit Euer Vater keinen Verdacht schöpft."
Layla blinzelt langsam.
"Wieso hilfst du uns, Jorek?", fragt sie ungläubig, doch dieser wendet sich ab, als hätte er die Frage nicht gehört.
Ich runzele bloß die Stirn, greife nach dem Walkie-Talkie, halte es an mein Ohr und schalte es an.
"Jungs, es..." Weiter komme ich nicht, denn ich werde von komischen Geräuschen unterbrochen, die ich nicht einordnen kann.
"Jungs?", meine ich panisch. "Was ist los?"
Ich höre Phils Stimme, verzerrt und aufgeregt.
"Cash, wir-", dann bricht die Verbindung ab.
Ängstlich drücke ich irgendwelche Knöpfe auf dem kleinen Gerät.
"Phil, Edward, Louis. Antwortet! Was ist los?", rufe ich in die winzige Sprechanlage des Walkie-Talkies.
Schließlich höre ich ein Rauschen, leicht abgehackt, dazwischen immer wieder Bruchteile von Phils Stimme.
"Wir...Ka-...schief gelaufen...Was...euch...nicht...komme-", verstehe ich nur.
"Phil!", rufe ich erneut, diesmal etwas leiser. "Kommt nicht zu uns. Es ist... furchtbar schief igegangen!"
"Cash, was-" Dann bricht die Verbindung erneut und ich schaffe es nicht, sie wieder herzustellen.
Jorek erscheint vor der Tür, nimmt mir stillschweigend das Walkie-Talkie ab. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck lässt mich glauben, dass er mitgehört hat. Er meidet meinen Blick, doch als ich mich zu Layla wende, die kaum etwas von dem verstanden hat, was Phil gesagt hat, glaube ich aus den Augenwinkeln zu sehen, wie der Wächter nickt.
Und erst dieses vermeintliche Nicken lässt mich es endlich verstehen: Irgendetwas ist total schief gelaufen! Der Verräter hat gewonnen!
Und das heißt, dass wir verloren haben!

Layla sagt nichts, während ich ihr berichte, was ich herausgefunden habe, oder eher, was nicht. Die ganze Zeit sitzt sie nur da, den Kopf in die Hände gestützt und schweigt.
"Was sollen wir jetzt tun?", frage ich schließlich leise, als das Schweigen sich lang und unendlich still in dem kleinen Raum ausbreitet.
"Nichts!", flüstert Layla bloß.
"Was?"
"Nichts; es gibt nichts, was wir tun können. Wir können nicht fliehen und... Es ist vorbei; alles ist ischief gegangen!"
Allein dieser Umstand, dass die Person, die in den letzten Tagen so unglaublich kraftvoll, mutig und dynamisch wirkte, die mir immer wieder neue Hoffnung gab, die stark genug war, sich gegen ihren Vater zu stellen - allein dieser Umstand scheint alle Hoffnung aus mir herauszulassen, falls da jemals wirklich welche war. Mir war schon längst klar, dass wir verloren haben; ich hatte mich damit abgefunden. Aber dass auch sie glaubt, dass wir alles verspielt haben; das ist dann doch zu viel! Und vielleicht ist es ja genau das, was mich jetzt wieder stark macht. Dass wir nichts mehr zu verlieren haben, dass wir nicht mehr fallen können. Wir können nur noch steigen.
Wenn wir nichts tun, sind wir so gut wie tot. Diese Möglichkeit besteht natürlich auch, wenn wir einen Ausweg finden. Aber da ist trotzdem immer noch die Chance, dass wir es schaffen. Dass wir überleben.
"Wir dürfen jetzt einfach nicht aufgeben, Layla!"

Kapitel 35

"Was ist mit Jorek?", frage ich.
"Er kann uns nicht helfen!", meint Layla knapp.
"Wieso nicht?"
"Ist so."
Sie stellt meine Geduld wirklich auf die Probe.
"Layla, wir dürfen jetzt nicht aufgeben! Noch haben wir nicht verloren!" Ich versuche alle Überzeugung in meine Stimme zu legen, die ich aufbringen kann.
"Irgendjemand hat uns verraten", widerspricht sie leise.
"Edward. Vielleicht...", entfährt es mir.
"Was? Das kann nicht sein! Niemals!"
Eben, woher nehme ich diese Sicherheit? Habe ich nicht festgestellt, dass es alle der drei Jungs sein könnten. Sogar Layla könnte es sein. Okay, gut, Layla eher nicht. Außer sie ist eine verdammt gute Schauspielerin...
"Nimm das zurück! Mein Bruder ist kein Verräter!", faucht sie.
"Doch", flüstere ich und erzähle ihr von dem Brief.
"Und du bist dir da ganz sicher?", flüstert Layla in das Schweigen, das nach meinem Bericht entsteht.
Bin ich das? Ich weiß es nicht. Oder doch? Wie soll ich mir sicher sein, dass Edward uns verraten hat, wenn es in mir immer noch einen Teil gibt, der ihn liebt?
"Ja", murmele ich beinahe ungewollt und muss meine Tränen zurückhalten, um es Layla nicht noch schwerer zu machen.
"Nein", entgegnet sie laut; ich schaue sie verwundert an.
"Das kann nicht sein", ruft Layla und springt auf.
Ich erhebe mich vorsichtig. Fast sofort wird mir schwindlig vor Hunger und Schmerzen von meinem Sturz vorhin. Wie lange sind wir wohl schon eingesperrt?
"Layla, ich... ich wünschte doch auch, es wäre anders", flüstere ich bedrückt.
"Ach ja, das tust du?", faucht Layla, vor Aufregung und Wut immer lauter werdend.
"Layla, bitte. Ich... ich..." Mir fehlen die Worte und jetzt fange ich doch an, zu weinen.
"Ja?", ruft sie verächtlich.
"Ich... ich liebe Edward. Natürlich will ich nicht, dass er uns verrät... verraten hat, wie auch immer. iLayla, ich liebe ihn!", schluchze ich, lehne mich an die kalte Wand und sinke langsam zu Boden.

Stunden vergehen in einem eigenartigen Zustand zwischen Starre und Mutlosigkeit. Keiner von uns spricht ein Wort. Niemand kommt zu uns. Niemand sagt uns, was jetzt passiert. Eigentlich ist es ja klar. Ich werde vermutlich hingerichtet werden. Wenn Layla ein bisschen Glück hat, lässt ihr Vater sie vielleicht am Leben. Merkwürdigerweise schreckt mich der erste Teil wenig bis gar nicht; der zweite allerdings weitaus mehr. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass es irgendwann so enden wird, oder? Vielleicht ist der Tod ja sogar besser, als für etwas zu kämpfen, was man nie erreichen kann und einen Menschen zu lieben, der höchstwahrscheinlich diesen Tod verursacht. Aber Layla tut mir wirklich leid. Ich würde lieber sterben, als von einem Menschen, der den Tod meiner Freunde herbeigeführt hat, mein Leben geschenkt zu bekommen. Ich weiß nicht, wie Layla das sieht, und ich werde es wahrscheinlich nie erfahren.
Die Stille ist geradezu angenehm, doch die Gedanken, die sie mit sich bringt, werden immer schlimmer. Um ihr zu entkommen, will ich gerade aufstehen und mit Layla reden, als ich Stimmen höre. Und Schritte. Viele Schritte, die immer näherkommen. Und plötzlich packt mich die Angst doch. Ich beginne zu zittern, doch dann erkenne ich die Stimmen. Phil!
Ich höre, wie er etwas schreit, obwohl ich nicht nicht verstehe, was. Es klingt eigenartig rau und kraftlos, doch ich höre Wut und diese eigentümlich Leidenschaft, die immer in seiner Stimme liegt, wenn er außer sich ist.
"Phil!", flüstere ich leise und Layla schaut auf. Ihre schönen, grünen Augen werden dunkel und da erkenne ich auch eine weitere Stimme, die offenbar diejenige ist, die Phil anschreit.
"Edward", stößt Layla hervor und ich erschrecke angesichts dieses grenzenlosen Hasses in Stimme und Augen seiner Schwester.
Die Schritte werden langsamer und kommen näher, ich höre wie eine Wache, vermutlich Jorek, zur Ruhe mahnt und es still wird. Nur noch das Echo des Streits hallt durch das kleine Gefängnis, bis schließlich nur noch Phils Stimme übrigbleibt. Selbst das Echo klingt noch nach ihm. Und dann verstehe ich seine Worte. Klar und deutlich.
"Verräter...räter...räter", flüstern die Wände.
Dann hatte ich also recht: Edward hat uns verraten!
Wieso bloß?
Eine Tür knallt ins Schloss und ich fahre zusammen. Nichts passiert. Dann öffnet sich unsere Tür und ehe ich mich versehe, falle ich Phil in die Arme und fange an zu weinen.

Kapitel 36

Phil nimmt mich in den Arm, ohne etwas zu sagen. Er fährt mir sanft durch die Haare, wischt mir die Tränen weg und deutet lange auf den Boden, ehe ich begreife, dass er möchte, dass ich mich setze. Ich sinke erneut zu Boden und beginne wieder zu weinen. Soviel zum Thema stark sein.
Louis setzt sich neben Layla und redet leise und beruhigend auf sie ein. Auch sie sieht völlig fertig aus, erkenne ich durch einen Schleier aus Tränen. Kein Wunder.
Edward ist nicht da. Auch das ist kaum verwunderlich.
"Was ist passiert?", frage ich nach einer Weile, als meine Tränen langsam versiegen.
"Was ist denn bei euch passiert?", erwidert Louis, doch Phils strafender Blick, den ich bloß aus den Augenwinkeln wahrnehme, lässt ihn verstummen.
"Es... es ist einfach schrecklich schiefgelaufen", beginnt Phil vorsichtig und streicht mir weiter sanft über die Haare.
"Was denn?", fragt Layla erschöpft und weinerlich, ohne jede Spur von Hoffnung oder Lebenswillen.
"Ich weiß es nicht. Wir sind völlig problemlos angekommen. Es waren noch Wachen da, also hat iEdward dieses Spray genommen. Wir sind in das Gebäude gegangen, aber Edward hatte nicht mal Zeit, das Passwort einzugeben, da kamen schon die Wachen", berichtet Phil stockend.
Ich sauge angespannt die Luft ein. Mein Gesicht kribbelt und ich beobachte Phil bedrückt. Er sitzt leicht geknickt da, auch er wirkt angespannt - und leider auch hoffnungslos, obwohl er offenbar versucht, seine Gefühle zu verbergen.
"Und dann?", fragt Layla erstickt.
"Na ja, dann gab es einen Kampf. Wir hatten von Anfang an nicht gerade gute Chancen", meint Phil tonlos, beinahe stur. "Also habe ich versucht euch irgendwie zu erreichen. Genau in dem iMoment hast du" - er sieht mich an - "mich 'angerufen'."
"Was wolltest du mir denn sagen?", frage ich leise.
"Dass wir etwas später kommen", scherzt Phil matt, aber ich habe Mühe, nicht wieder in Tränen auszubrechen.
"Dann haben sie uns gefangen und hierher gebracht", beendet Louis den Bericht und Schweigen breitet sich aus.
"Aber was um alles in der Welt ist schiefgelaufen? Phil, du hast gesagt, das Spray reicht für imehrere Stunden!", murmele ich, schaffe es nicht mal vorwurfsvoll zu klingen.
"Ich weiß es nicht, Cash. Ich weiß es einfach nicht", bemerkt Phil bedrückt.
"Aber du hast doch Edward einen Verräter genannt!"
"Ja, weil... ich weiß nicht, wieso. Ich dachte, er wäre der einzige, der uns verraten haben könnte."
"Das hat er vermutlich auch." Diesmal erzählt Layla die Sache mit dem Brief.
Phil und Louis halten den Atem an. Schließlich nicken beide langsam. Ich traue mich nicht, hinzuzufügen, dass ich die beiden ebenfalls verdächtigt habe.
"Aber... wie hat er das geschafft?", wendet Phil nach einer Weile ein. "Ich meine, Chico in unsere iPläne einzuweihen ist die eine scheußliche Sache; aber das andere ist doch, wie er es geschafft hat, idass die Wachen statt einige Stunden kaum fünf Minuten schlafen."
"Fünf Minuten, sagst du?", entfährt es Layla, lauter als vermutlich beabsichtigt. Wir sehen sie an, ihre Augen leuchten groß im Halbdunkel des Raumes.
Phil nickt langsam.
"Ungefähr."
Layla sieht zu Boden.
"Zeig mir mal die Dose des Sprays!"
Schweigend gibt er sie ihr. Den Blick auf die Dose geheftet, flucht Layla leise.
"Sie ist leer", bemerkt Phil. "Ich habe versucht, die Wachen zu betäuben, nachdem sie uns gefangen ihaben, aber es hat nichts genützt."
"Es hätte eh nichts geholfen", meint Layla tonlos.
"Wie meinst du das?"
"Dieses Spray" - sie macht eine kurze Pause - "betäubt niemanden länger als fünf Minuten. Darauf iist es ausgelegt." Wieder eine Pause. Ein Schlucken.
"Und Edward wusste das!"

Damit ist es also klar. Edward hat uns wirklich verraten. Keine Vermutungen mehr, keine Ausreden. Es ist so und ich kann daran nichts ändern.
Aber das hindert mich nicht, weinend gegen die Wand zu fallen.
Phil nimmt mich lange in den Arm und sagt nichts. Die Stille ist ohrenbetäubend. Aber jetzt ist sowieso alles egal. Edward hat uns verraten. Das ist die kalte, nackte Wahrheit. Und ich habe ihn geliebt! Er hat gesagt, er würde mich lieben! Wie konnte er mich bloß so verraten? Bedeutet ihm so etwas gar nicht? Hat er überhaupt ein Herz?
Ich weiß nicht mal, ob ich wirklich wütend bin. Wenn dann nur, weil er gelogen hat.
"Ich liebe dich, Cashmere!", hat er gesagt. So ernst, dass ich ihm das geglaubt habe.
Und jetzt hat er uns verraten, mich verraten. Das macht mich nicht wütend, dass enttäuscht mich bloß. Ich hätte mehr von ihm gedacht. Aber dass er so mit meinen Gefühlen spielt, das ist... ekelhaft. Und das macht mich wütend.
Das weiß ich plötzlich, doch es macht es nicht leichter.
"Und jetzt?", frage ich erstickt, aber niemand antwortet.
Phil umarmt mich weiterhin, lässt mich nicht los, als könnte er mich damit vor allem beschützen, was auf uns zu kommt.
Trotz allem fühle ich mich seltsam leer, geradezu stumpf. Ich müsste wütend sein, außer mir oder total zerstört. Aber ich bin nichts davon. Nur erschöpft und völlig ausgelaugt. Nicht mal Angst habe ich.
Aber ich hasse Edward nicht. Das ist eine Tatsache! Ich bin nur... enttäuscht... erschrocken? Wütend? Nein, wütend nicht, denke ich. Nicht auf diesen Verrat. Es ist... anders. Ich bin persönlich verletzt... irgendwie.
"Wie konnte er so etwas bloß tun?", beginne ich erneut, unsicher, ängstlich.
"Ich weiß es nicht", meint Layla nach kurzer Zeit. "Er..." Sie stoppt und beißt die Zähne zusammen.
"'Er' möchte jetzt, dass ihr aufsteht und geht", sagt plötzlich eine tiefe Stimme und wir fahren herum.
"Jorek?", fragt Layla verblüfft, doch da taucht hinter ihm schon Edwards schlanke Gestalt auf und ehe ich weiß, wie mir geschieht, stehe ich vor ihm und meine flache Hand landet hart in seinem Gesicht.

Kapitel 37

Layla zieht mich einfach mit, Widerstand ist zwecklos. Plötzlich ist sie wieder die junge, dynamische Frau, die voller Hoffnung ist. Die immer einen Ausweg sieht. Obwohl sie das mehrere Stunden lang so überhaupt nicht war. Jetzt ist sie plötzlich wieder ganz normal. Voller Elan.
Ich ganz und gar nicht.
"Wieso folgst du ihm?", frage ich wieder, laut genug, dass Edward die unverhohlene Abscheu in meiner Stimme hören kann, und tatsächlich sehe ich, wie er einige Meter vor uns zusammenzuckt.
"Sie hat Recht", meint Phil ruhig und bleibt vor Layla stehen.
"Sie oder ich?", entgegne ich wütend.
"Du."
"Na dann..."
"Und wieso bitte schön? Wären wir geblieben, wären wir gestorben. Wenn wir ihm folgen und isterben, ist es letzten Endes egal. Wenn wir aber hierdurch überleben, dann...", wirft Layla aufgebracht ein, doch Edward dreht sich um und unterbricht sie.
"Leute, seid leise und hört auf zu streiten, zumindest bis wir aus dem Palast raus sind", mahnt er uns, doch das schürt meinen Zorn bloß.
"Lieber" - Ich sehe Edward mit funkelnden Augen an. - "lieber sterbe ich ehrenhaft, als durch die iHand eines Verräters!"
Meine Wut über seine Lügen wird doch langsam zur Wut über diesen Verrat, der mich vorhin nur enttäuscht hat.
Und Edward zuckt erneut erschrocken zusammen. Hat er sich aber selbst zuzuschreiben.
"Cashmere...", beginnt er vorsichtig, doch auch er wird unterbrochen.
"Leute!" Zum ersten Mal seit wir geflohen sind, bringt sich Louis in die hitzige Diskussion ein.
"Cash, wenn du hier gerne einen ehrenhaften Tod durch Chicos Hand möchtest, bitte sehr. Dann ibleib doch. Ich würde lieber leben. Lass dich aber von uns nicht aufhalten", faucht er spöttisch. i"Ich stimme Layla zu." Damit schließt er.
"War ja klar", entgegne ich zynisch und schaue bedeutsam von ihm zu Layla.
Sofort wird er rot.
"Wir gehen!", mischt sich Edward nun lauter als unbedingt nötig ein und wir halten sofort alle unwillkürlich den Atem an. Entdeckt werden möchte selbst ich nicht.
Sterben möchte ich natürlich auch nicht; nur das das klar ist. Aber ich bin so wütend auf Edward, auf seinen Verrat, seine Lügen, dass ich prinzipiell gegen alles bin, was er vorschlägt.
Trotzdem setzte ich mich mit den anderen in Gang. Während uns Edward auf kompliziertem, aber seiner Meinung nach sichererem Wege durch den Palast führt, denke ich über mein Verhalten nach. Es ist Krieg, der Waffenstillstand scheint aufgelöst und ich mache mir das, glaube ich, viel zu selten bewusst. Ich sollte nicht überreagieren. Aber nichtsdestotrotz hat Edward mich und uns verraten und mir fiele nicht mal im Traum ein, mich für mein Verhalten zu entschuldigen.
Langsam wird es in den dämmrigen Gängen heller, schließlich strömt frische Luft zu uns und - gleißendes Mondlicht.
"Es ist Nacht", bemerke ich tonlos.
Die anderen schweigen und ich sehe Layla aus dem Augenwinkel schlucken.
"Wir waren lange eingesperrt", entgegnet sie, doch auch in ihre Stimme ist keine Regung zu hören.
Eingesperrt. Wie das klingt. Als wären wir Tiere, kurz vor dem Schlachten. Vermutlich war es auch so.
Plötzlich merke ich, dass wir alle unbewusst stehen geblieben sind. Auch Edward scheint das aufgefallen zu sein, denn in genau diesem Augenblick treibt er uns zur Eile an.
"Los jetzt, wir müssen unbemerkt den Hafen erreichen."
"Und dann?" Er hat uns vielleicht aus dem Palast geführt, aber wenn er jetzt nicht weiter weiß, ist das keinen Deut besser, als gefangen zu sein.
"Dann fahren wir nach Renizilas."
Okay, er weiß doch weiter. Respekt...
Allerdings wäre da noch eine Frage. Doch noch bevor ich es aussprechen kann, hat es Louis schon erbost gesagt.
"Was ist mit dem Plan? Dem Anti-Karoson?"
"Eben!", werfe ich ein und auch Phil nickt.
"Er hat nicht funktioniert; das habt ihr doch gesehen. Erstmal sind wir alle in Gefahr, wir müssen ians Festland, um..."
"Einen Moment mal" - Phils Stimme klingt bedrohlich ruhig. - "Der Plan hat nicht funktioniert, iweil du uns verraten hat. Wir sind in Gefahr, weil du uns verraten hast."
So ähnlich hätte ich das auch gesagt, aber bei Phil klingt das wesentlich besser. Ich hötte vermutlich irgendwo noch erwähnt, dass er gelogen hat, im Bezug auf gewisse Gefühle... Aber es trifft auch so. Edward presst die Lippen aufeinander und schweigt kleinlaut.
Aber Phil ist noch nicht fertig.
"Und du erwartest jetzt von uns, dass wir dir... folgen?! Geht's dir noch gut?!"
Ich nicke bloß. Nicht gerade passend, aber es gibt nichts, was ich noch in Worten hinzusetzen könnte.
"Auf jeden Fall müssen wir hier weg", versucht Layla den Streit irgendwie zu schlichten.
Und plötzlich merke ich es wieder. Dieses Ziehen im Magen, als mir klar wird, wie unheimlich... dumm das hier gerade ist. Wir setzen unser Leben wegen einem Streit aufs Spiel, dabei...
"Es ist Krieg", meine ich langsam. "Hört auf zu streiten und lasst uns gehen."
"Du vertraust ihm?", fragt Phil mich direkt ins Gesicht, mehr verblüfft als wütend.
Ich seufze.
"Nein, Phil. Aber wir müssen hier weg, da hat Layla Recht. Und ihr vertraue ich", füge ich bestimmt hinzu. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Edward die Lippen zusammenkneift. Das hat gesessen. Na ja, mich stört es herzlich wenig.
Phil zuckt mit den Schultern, macht aber keine Anstalten, zu widersprechen.
"Und wohin?", bringt sich Louis in die Diskussion ein. Er ist wirklich der Produktivste von uns. Aber das ist auch gar nicht so schwer.
"Na, zum...", setzt Edward an, doch mein funkelnder Blick unterbricht ihn.
"Zurück", meint Phil.
"In den Palast? Nein, das geht nicht!" Louis klingt eindringlich und ich muss ihm Recht geben.
"Mehr Möglichkeiten haben wir aber nicht!" Da hat auch Layla Recht.
"Na ja, dann...", beginne ich, doch erneut werden ich unterbrochen.
"Stehen bleiben! Sofort!"
Wie ein einziger Mensch drehen wir uns gleichzeitig um. Die Ebene vor dem Palast, auf der wir gerade stehen, ist in kaltes, weißes Licht gehüllt. Und das stammt nicht vom Mond.
"Lauft!", ruft Edward und wir gehorchen unbewusst.
Kapitel 38

Edward rennt neben mir, doch das stört mich nicht mehr. Was wesentlich schlimmer ist, ist, dass ich schon nach wenigen Metern außer Atem bin. Die Gefangenschaft hatte es in sich.
"Weiter", keucht Edward neben mir.
Ich beiße die Zähne zusammen, als vor meinen Augen alles verschwimmt und konzentriere mich auf meine Schritte.
Weiter... immer weiter... Schritt für Schritt... Bis wir irgendwann an den Rand der Ebene kommen. Edward zieht mich in ein Gebüsch. Keuchend sehe ich auf das weite Feld.
"Phil", schreie ich entsetzt, bevor mir Edward die Hand vor den Mund halten kann.
Er steht in der Mitte der Ebene, gefangen von Chicos Leuten. Chico sagt irgendetwas, dass ich nicht verstehen kann und ein Mann hebt sein Gewehr.
"Nein!", rufe ich erstickt und stürme auf die Ebene.
In genau diesem Augenblick sinkt der Mann mit dem Gewehr zu Boden. Leise, als wäre nichts passiert. Als wäre er eingeschlafen. Ich sehe, wie sich ein roter Fleck auf seiner Uniform ausbreitet.
Er ist tot. Ich beiße mir auf die Lippe. Tot. Das... das kann doch nicht richtig sein, oder? Dass er... tot ist? Ist das die Lösung, die ich mir vorstelle?
Edward tippt mir auf die Schulter und ich fahre herum.
"Edward", meine ich verblüfft und zeige auf den Mann.
"Das war ich nicht. Ich habe nicht geschossen. Sieh selbst!" Er deutet auf die Fläche vor uns. Uniformierte stürmen auf Chico und seine Männer zu.
"Wer sind diese Leute?"
"Sie sind eine Art Untergrundbewegung bei den Wachen des Palastes", erklärt Edward.
"Woher weißt du das?" Edward setzt schon zu einer Antwort an, da schüttele ich den Kopf.
"Ist ja auch egal. Ich muss zu Phil..."
"Warte, Cashmere!" Doch ich stürme schon auf die Ebene.
Phil sieht mich, das weiß ich. An seinem Blick, wie sich die Augen erschrocken weiten. An seinen feinen Lippen, die er zusammenpresst. Und an seiner Art, wie er herumfährt und mir mit einer harschen, bemüht unauffälligen Geste bedeutet, wegzulaufen. Doch das kann ich nicht.
Ich komme ihm immer näher. Inzwischen hat er sich etwas von den Kämpfenden entfernt. Immer noch sieht er mich direkt an und schüttelt den Kopf. Als ich ihn erreiche, sehe ich noch etwas in seinen Augen: das schier unendliche Grauen.
"Cash, du musst hier weg. Sofort!", ruft er.
"Auf keinen Fall!"
"Cash, bitte!" Er klingt so flehend, dass ich geneigt bin, nachzugeben.
"Und du?"
"Ich kann hier nicht weg", flüstert er gepresst.
"Aber du musst!"
"Nein... Cash, es ist Krieg. Bring dich nicht noch mehr in Gefahr!"
"Das werde ich nicht...wenn du es auch nicht tust. Phil!" - ich beginne zu schluchzen - "Was hält idich hier? Bitte Phil! Was?"
"Ich muss kämpfen!"
"Nein, du hast gesagt, das ist keine Lösung!"
"Ich habe mich geirrt! Geh jetzt, Cash!"
"Das kann ich nicht! Du wärst gerade beinah gestorben! Phil! Warum siehst du es nicht ein?! Du ihast noch nicht mal eine Waffe!"
"Doch. Hier!" Er hält eine kleine Pistole hoch.
"Woher...?", meine Stimme klingt erstickt. Will ich überhaupt eine Antwort?
"Er ist tot..."
"Wer?" Ich schlucke.
"Ich weiß es nicht!"
Ich schüttele den Kopf und schaue zu den Kämpfenden. Meine Kehle wird trocken, als ich sehe, wie einige Gestalten blutend am Boden liegen, leblos. Wie andere taumeln, stolpern, nicht wieder aufstehen.
"Phil, was passiert hier?", weine ich.
Er zieht mich in ein Gebüsch und nimmt mich kurz in den Arm.
"Cash, bitte, geh weg. Fahr' nach Renzilas...irgendwohin, wo du sicher bist."
"Dann komm mit! Bitte!"
Die Blätter rascheln und Phil drückt mich fester an sich, als könnte er mich damit beschützen. Dabei sind wir völlig hilflos.
"Ist alles in Ordnung?" Layla, Louis und Edward treten ins Gebüsch. Phil steht auf und beäugt sie misstrauisch.
"Den Umständen entsprechend", murmelt er.
"Es geht euch gut", flüstere ich erleichtert.
Layla zuckt mit den Schultern.
"Und jetzt?"
"Ich gehe da raus", meinen Phil und Louis gleichzeitig.
"Ich ebenfalls", fügt Layla hinzu.
"Nein." Edward schüttelt entschieden den Kopf.
"Wieso nicht?"
"Jemand muss Cashmere von hier fortbringen. Und ich bleibe hier!", ergänzt Edward bestimmt.
"Ich ebenfalls!", erwidert Layla erneut, allerdings mit recht besorgten Blick auf mich.
"Moment! Wenn ihr alle hierbleibt..." - ich stehe auf - "...dann bleibe ich auch!"
"Cash, das ist zu gefährlich!" Layla schüttelt entschlossen den Kopf.
"Und für euch nicht?! Gehen wir!"
"Cash, das geht nicht!" Phil hält mich fest. "Du hast nicht einmal eine Waffe!"
"Dann gib mir deine. Du würdest doch niemals auf einen Menschen schießen. Wofür brauchst du isie dann?!"
Noch während ich spreche, merke ich, dass ich ungerecht werde.
"Cashmere..." Edward legt mir eine Hand auf die Schulter.
"Lass das! Hättest du uns nicht verraten, wären wir jetzt gar nicht hier!", fauche ich.
Edward presst die Lippen aufeinander.
"Ich..."
Ein Schweigen breitet sich aus. Lange...
Und dann wird es plötzlich gebrochen. Nein; nicht von Edward, Layla, von Phil oder Louis, nicht von mir; nicht von einem Menschen... - von einer Wand aus Feuer!

Kapitel 39

Der Busch. Ich springe unwillkürlich auf und ein leiser Schrei entfährt mir, als mein Blick auf den brennenden Blättern hängen bleibt.
"Weg hier!", ruft Phil und will uns schon in ein naheliegendes kleines Hain ziehen, doch Layla schüttelt den Kopf.
"Wir dürfen uns nicht immer verstecken. Jetzt müssen wir kämpfen. Es ist Zeit zu handeln, nicht iwegzulaufen."
Ich nicke entschlossen. Es ist Krieg!
Das klingt so unwirklich, so unecht... nicht real. Ist es wirklich so schlimm? Schlimmer noch als vorher? Ich beiße mir auf die Lippen, drehe mich in Richtung der großen Ebene, die im Mondlicht funkelt und von allen Seiten von Wald umgeben ist, welcher den Strand hinter seinen Bäumen verschwinden lässt. Und ich erstarre. Ist es wirklich so schlimm? Was für eine dumme Frage? Ich hätte es doch wissen müssen.
Plötzlich wird alles um mich herum still. Beinah sehe ich in Zeitlupe das, was ich eigentlich schon hätte ahnen müssen. Blut, Tote, Verletzte. Blut... So viel Blut. Es mag nur ein oder zwei Wochen her sein, dass ich so viel Blut gesehen habe. In Renizilas, in dieser Arztpraxis. Was habe ich da noch gedacht? Helfen, wollte ich. Helfen! Aber wofür? Damit die Leute bei nächsten Anschlag getötet werden. Niemals! Das ist vorbei. Die Zeit ist vorbei, in der ich helfen wollte, für den einmaligen Augenblick. Jetzt, ist es anders. Jetzt geht es um ein Danach! Es geht um die Zukunft der Menschen.
Das habe ich damals gesagt. Und was war meine Lösung? "Wir würden alles tun. Auch... kämpfen...", habe ich zu Phil gemeint. Ich weiß noch genau, was er gesagt hat. Und plötzlich verstehe ich ihn. "Du meinst, du würdest kämpfen! Du? Du würdest kämpfen für den Frieden? Bist du irre? Kampf für Frieden?!"
"Nein", flüstere ich. "Es ist keine Lösung und das glaube ich auch nicht mehr."
Und die Zeit läuft wieder normal.
Layla stellt sich neben mich.
"Cash... w-was meinst du? Was ist keine Lösung? Handeln?"
"Krieg."
Damals war ich der Meinung, ich hätte so etwas wie eine Erleuchtung gehabt. Nun ja, nicht gerade... leuchtend, aber... Und nun? Gibt es das auch in die andere Richtung? Wenn ja, dann erlebe ich das jetzt. Und jetzt ist es mir auch klar. Krieg mag eine Gesellschaft verändern, umstürzen. Aber ich bin Ärztin. Ich kämpfe anders. Durch Hilfe.
"Ich werde kämpfen. Für den Frieden." Ich schaue zu Phil. "Auf meine Art."
"Was meinst du?"
"Du erinnerst dich nicht mehr, oder?", frage ich ihn sanft. Er schüttelt nur den Kopf.
"Das ist auch nicht wichtig", fahre ich fort. "Ich erinnere mich, und allein das zählt."
Ich wende mich zu den anderen.
"Geht, wenn ihr müsst. Aber ich bleibe hier."
"Aber...", beginnt Layla verwirrt.
"Kämpft ihr wie ihr wollt und ich wie ich will. Jedem das Seine. Auf seine Art", entgegne ich laut.
Und erst jetzt merke ich, dass ich anders bin. Das war ich damals auch, aber in die falsche Richtung.
"Cashmere..." Edward tritt einen Schritt auf mich zu.
"Geh, wenn du denkst, das ist das Beste", meine ich leise. "Ich traue dir nicht, aber du kannst mich igern eines Besseren belehren."
Eine andere Wahl habe ich ja nicht. Ich muss ihm vertrauen, ob ich will oder nicht.
Jedem das Seine. Ich weiß, wozu ich berufen bin im Krieg. Ich hoffe, dass die anderen es auch wissen...
"Aber was machst du dann?" Ich hatte schon beinah vergessen, dass Louis noch da ist.
"Ich helfe."
"Wo?"
"Hier. Nein, warte. Ich komme mit euch."
"Aber...", wirft Phil ein.
"Nein, Phil. Bitte! Bringt alle Verletzten zu mir. Ich werde ihnen helfen, so wie ich kann."
"Und wenn die anderen dich angreifen?"
Ist das einen ernst gemeinte Frage? Gut, vermutlich ist sie berechtigt, aber...
"Nun, ich möchte den sehen, der es wagt, jene anzugreifen, die zwischen den Fronten stehen. Die, idie Leben retten."
"Ich fürchte, das wirst du schneller, als dir lieb ist", meint Layla besorgt.
"Nein, das kann mir gar nicht schnell genug sein. Jeder, der mich umbringen will, solange ich mich inur um Verletzte kümmere; der soll mir in die Augen sehen - und dann schießen!"

Die anderen nehmen ihre Waffen und gehen auf die Kämpfenden zu. Es hat nicht lange gedauert, sie zu überreden, nachdem sie gemerkt haben, dass die Wachen unter Jorek nun deutlich in der Unterzahl sind. Am schwierigsten war es mit Phil. Ich merke, wie groß seine Sorge um mich ist. Aber er muss es verstehen. So wie ich es versuche, zu verstehen, dass er kämpfen will.
Damit ich die erkenne, die zu mir kommen, weil sie wirklich verletzt sind (als ob ich das nicht selbst bemerken würde), haben wir ein Zeichen ausgemacht. Überall auf der Ebene wachsen kleine Blumen. Weiße, kleine Blütenblätter. Ich habe keine Ahnung, wie sie heißen, aber das ist auch unwichtig. Phil, Layla, Edward und Louis werden alle zu mir schicken, die schwer verletzt sind. Sie werden ihnen eine dieser weißen Blüten geben, oder sie anweisen, sich selbst eine zu holen. Jeder der mir diese Blüte zeigt, kommt in Frieden, hat Phil gesagt. Ich soll all jene behandeln.
Unsicher sehe ich auf die Ebene. Viele der Blumen liegen geknickt am Boden. Niemand kümmert sich um sie. Und doch sind sie ein Zeichen. Ein Zeichen des Friedens. Weiß, unschuldig, rein. So sollte ich auch sein.
Ich streiche mir die vermutlich völlig verdreckten Haare nach hinten und starre auf eine dieser Blumen. Woanders will ich nicht hinsehen. Die anderen haben jetzt sicher die Gruppe erreicht, kämpfen womöglich schon. Aber daran darf ich nicht denken. Ich bin Ärztin. Mehr oder weniger...
Wieder wandert mein Blick auf die kleine Blume. Ich sehe, wie sie unter dem Stiefel eines Mannes verschwindet. Als dieser seinen Fuß wieder hebt, sind die Blütenblätter blutrot.

Kapitel 40

Ich springe auf.
"Jorek!", rufe ich überrascht. "W-was ist los?"
Statt einer Antwort gibt er mir eine weiße Blüte. Ich blinzele erschrocken und schaue Jorek an. Er hat eine große Wunde im Gesicht, doch als ich diese untersuche, ist sie nicht tief. Offensichtlich liegen seine Verletzungen woanders. So bleich ist er jedenfalls nicht einfach so geworden.
Die grüne Jacke, die Layla mir gestern - war es gestern? - gegeben hat, habe ich bereits in Streifen zerrissen, um sie als Verband zu nutzen. In dem Hain in der Nähe habe ich eine kleine, klare Quelle gefunden und einige der Streifen mit Wasser getränkt. Mit einem dieser Streifen wische ich Jorek jetzt über das Gesicht.
"Wo bist du noch verletzt?", frage ich wie nebenbei, obwohl dem natürlich nicht so ist.
"Am Arm." Ich runzele die Stirn, als ich merke, wie schwach seine Stimme klingt.
"Zeig mal." Jorek tut wie geheißen. "Nicht gut." Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Es sieht überhaupt nicht gut aus. Der Arm ist geschwollen und die Wunde beinah schwarz vor Dreck. Das sieht schlimm aus, ist aber vermutlich noch gar nichts im Vergleich zu dem, was ich später noch behandeln werde. Fürchte ich... Also darf ich jetzt nicht überstürzen. Die Zahl meiner Möglichkeiten ist begrenzt und so gerne ich würde, ich muss die Wunde so tiefgründig, aber auch so kurz wie möglich säubern. Wenn ich für diese Wunde alles aufbrauche, was ich an... Material zur Verfügung habe, werde ich mit der Versorgung der Verletzten nicht weit kommen.
Aber jetzt heißt es handeln.
"Das ist aber schon etwas her", meine ich tonlos, während ich die Wunde säubere.
"Wie?", fragt Jorek verständnislos und ich habe das Gefühl, dass er... wegdriftet.
"Die Wunde. Die hast du schon länger."
"Eine Stunde... vielleicht zwei." Das klingt ein bisschen zu gleichgültig.
"Ich tippe eher auf drei."
Jorek zuckt mit den Schultern.
"Du hast ja keine Ahnung, wie es dort ist..."
"Wenn ich die Wunde sehe, dann kann ich mir eine Vorstellung machen", meine ich kühl. Er ist nicht ganz bei sich, das weiß ich. Aber ich nehme es ihm trotzdem übel, dass sein Tonfall beinah vorwurfsvoll ist. Er scheint der Meinung zu sein, ich sollte jetzt auch da stehen und kämpfen. Das hab ich vor einer halben Stunde ja auch noch gedacht.
"Wie geht es den anderen?", frage ich, um meine Verärgerung zu überspielen.
"Es zeichnet sich noch kein Ausgang ab. Das Gefecht könnte noch einige Zeit dauern", erklärt er neutral. "Deswegen muss ich da wieder hin!"
"Jorek! Benimm dich!" Ich kenne ihn kaum; dafür ist dieser Befehlston ganz schön gewagt...
"Du bleibst hier!" Damit ist das Thema beendet. Hoffentlich wehrt er sich nicht weiter. "Was ich ieigentlich wissen wollte, war, wie es Layla geht. Und Phil, Louis... ja und Edward."
"Sie kämpfen."
"Ach wirklich?", murmele ich sarkastisch, aber kaum hörbar.
"Ich denke, es geht ihnen gut. Den Umständen entsprechend...", flüstert Jorek kraftlos und dann ist er still. Zu still.

Die Stunden vergehen auf beängstigende Weise sehr schnell. Immer mehr Leute kommen, zeigen mir eine Blume und ich behandele sie mit den Mittel, die mir zur Verfügung stehen. Keiner stirbt, aber ich weiß, dass dort hinter mir, auf der Ebene vor dem Wald, jede Minute Menschen sterben... dass dort Leichen liegen. Unbeachtet. Jorek hat sich weitestgehend erholt und ich habe ihn losgeschickt, alle zu holen, die meine Hilfe brauchen und es nicht bis zu mir schaffen. Er ist noch nicht zurück gekommen. Hoffentlich ist er vernünftig und tut, was ich ihm gesagt habe.
Doch Zeit nachzudenken habe ich nicht. Immerzu hechte ich von Mann zu Mann (es ist offenbar außer Layla keine Frau unter den Kämpfenden) und versuche sie so gut wie möglich zu behandeln. Einer der Wachen, der weniger verletzt ist, holt mir Wasser und wäscht die Binden aus. Doch ich habe kaum genug Material, um auch nur der Hälfte der Verletzten zu helfen. Genau das macht mir Sorgen. Ich habe keine Angst, dass uns jemand angreift. Wir sind wie ein Lazarett, nur schlechter ausgestattet und notdürftiger versorgt; so herzlos sind nicht mal die Menschen, die jetzt in diesem Moment gegen Phil und die anderen, die auf seiner Seite stehen, kämpfen. Und auch sie haben Verluste, auch sie sind verletzt.
Es mag nur eine halbe, vielleicht auch eine ganze Stunde her sein, als ein Mann zu mir kam, der... irgendwie anders war. Er hatte ein andere Uniform an und ein winziges Bild darauf. Die Eretro'sche Kugel. Und er hatte keine Blume.
Er hat nicht versucht, mich oder die Verletzten anzugreifen. Er war selber verletzt. Lange Zeit stand er bloß da und hat mich angeschaut. "Bitte", hat er irgendwann geflüstert und ich habe seine Wunde gesehen. So groß mein Hass auf Chico und seine Leute ist, so groß mag in diesem Moment auch mein Herz gewesen sein.
Ich stehe zwischen den Fronten. Ich kann niemanden abweisen, der Hilfe meine braucht. Natürlich war ich mehr als nur unsicher, aber ich habe entschlossen genickt, mich gebückt - und ihm eine weiße Blüte gegeben.

Die Zeit verläuft und langsam entwickelt sich Routine daraus. Immer wieder kommen Menschen, aber alle von... meiner Seite. Also von Chicos Gegnern, denn eigentlich habe ich ja keine Seite. Der Mann mit diesem Bild auf der Uniform - ich möchte jetzt nicht an das Bild denken -, war also ein Einzelfall. Er ist weg, aber ich habe gesehen, wie er Richtung Strand gelaufen ist. Er wird nicht mehr kämpfen, da bin ich mir sicher.
Immer begieriger warte ich nun auf Nachrichten von der Schlacht. Viele sind gestorben, aber ein Ausgang zeichnet sich noch nicht ab...
Ich blicke auf. Gestalten rennen auf unser notdürftiges Lazarett zu. Mein Herz fängt an zu rasen, als ich merke, dass sie auf mich zuhalten. Sie sehen mich an. Ich erstarre, als sie immer näher kommen. Sie haben keine Blume. Aber das brauchen sie auch nicht.
"Layla!", rufe ich entsetzt und starre auf die Gestalt in ihren Armen.
Louis.

Kapitel 41

"Louis, konzentrier' dich, bitte!"
Mein ganzer Körper zittert, während ich seine Wunden reinige.
"Nicht bewegen!"
Layla steht neben ihm und fährt ihm sanft durchs Haar. Immer wieder murmelt sie einige Worte, spricht ihm Mut zu, doch auch sie hat die Wunden gesehen und man braucht kein Medizinstudium, um zu erkennen, was schlimm ist.
Ich schüttele leicht den Kopf. Louis blinzelt und ich beiße mir auf die Lippen.
"Nein, Louis. Lass die Augen offen", sage ich sanft und bemühe mich, alle Angst aus meiner Stimme zu verbannen, was gar nicht so einfach ist.
"Ich kann nicht. Sie sind so schwer", flüstert er.
"Du musst!" Meine Tonlage wird panischer.
Wenn er seine Augen jetzt schließt, wird er sie nie wieder öffnen.
Layla kniet sich neben ihn, redet beruhigend auf ihn ein, doch Louis schüttelt den Kopf.
"Es ist vorbei...", flüstert er, so leise, dass ich es kaum verstehen kann.
"Das darfst du nicht sagen, Louis. Bitte, es wird alles wieder gut. Wir..." Ich spüre, dass er meinen Redeschwall nicht mehr wahrnimmt.
Layla beugt sich vor.
"Louis..."
Ich beiße mir auf die Lippen, während sie ihn ganz sanft küsst und Louis seine Augen schließt. Als Layla sich wieder aufrichtet, sind ihre Augen rot und ihre Wangen tränennass.
"Er ist tot", flüstert sie und bricht in sich zusammen.
"Nein. Nein", murmelt sie immer wieder vor sich hin.

Ich sitze neben Layla und lege ihr den Arm um die Schulter.
"Das kann doch alles gar nicht sein. Das geht nicht. Er kann nicht tot sein. Er...", flüstert sie wieder und wieder und ich fühle mich genauso.
Das kann nicht sein. Das ist doch nicht fair. Wieso musste das so enden?
Langsam stehe ich auf. Ich fühle mich wie betäubt. Eine kleine Stimme in meinen Hinterkopf sagt mir, dass ich mich um die anderen Verletzten kümmern muss. Ihnen kann ich noch helfen. Meine Bewegungen sind langsam, schwerfällig, beinah harsch.
Schließlich gehe ich wieder zu Layla zurück.
"Ich muss zu Phil", meine ich leise. "Es geht ihm doch gut, oder?"
Layla sieht mich mit leeren Augen an. Ich habe das Gefühl, dass sie mich nicht wahrnimmt. Ich fühle, wie zerschlagen sie ist, schlimmer als ich; natürlich. Sie muss Louis wirklich geliebt haben. Das erinnert mich an Rike und Max. Ich beiße mir auf die Lippen. Es ist lange her, so habe ich das Gefühl; in Wirklichkeit sind es wenige Wochen. Ich war einfach viel zu abgelenkt, um daran zu denken. Und das, obwohl Rike meine beste Freundin war. Ich drehe mich leicht nach links und sehe Layla an. Ich habe immer noch eine beste Freundin. Ich kann nicht riskieren, diese zu verlieren. Rike habe ich an den Tod verloren, Layla darf ich jetzt einfach nicht an die bodenlose, hilflose Trauer verlieren.
Ich rücke näher an Layla heran und lege ihr den Arm um die Schulter. Ich würde so gerne etwas beruhigendes sagen, doch es gibt einfach keine Worte für das, was geschehen ist. Als Rike gestorben ist, als meine Mutter starb, da wollte ich keine netten, tröstenden Worte. Ich wollte Vergeltung. Ich knete nervös meine Lippen zwischen den Zähnen. Um Himmels Willen, Layla kann nicht auch 'Vergeltung' wollen. Das, was passiert ist, ist schrecklich, ich weiß. Schrecklicher noch für Layla als für mich, obwohl selbst ich am Boden bin und es einfach nicht wahrhaben will.
Er ist tot. Das schießt mir durch den Kopf, bevor meine anderen Gedanken ein Ende finden können, und meine Kehle wird trocken. Plötzlich muss ich an Renizilas denken. Louis war dort der 'Anführer' der... - wie sagt man das? - Rebellen. Was wird aus denen nun? Sie haben keinen Anführer mehr. Louis hat sie allein gelassen, um mitzukommen. Jetzt ist er tot... Was wird aus den Leuten, die er 'befehligt' hat? Leevy und all die anderen? Was wird mit ihnen?
Meine Gedanken zerfließen, formen sich neu, zersplittern in winzige Bruchstücke, während ich neben Layla sitze, sie im Arm halte. Immerfort murmelt sie Unverständliches. Manchmal meine ich "Nein!" und "Das kann nicht sein." herauszuhören. Ich drücke sie an mich, will sie nie wieder loslassen. Sie braucht mich, das weiß ich.
Doch meine Gedanken sind nicht hier, nicht auf Kamirus. In der Nähe des Hains, am Rande der Ebene. Meine Gedanken sind in der Heimat. Renizilas, am Strand, wo ich immer so gerne saß, wenn ich nachdenken musste. Wo ich weinte und lachte. Wo der Sand meine Tränen trocknete, mich tröstete; oder meine Freude bestätigte und die Wellen mein Lachen weit aufs Meer hinaus trugen. Dort war ich zuhause. Werde ich das je wiedersehen? Den Strand, das Meer. Will ich das überhaupt wiedersehen? So viel Schlechtes hängt daran. Die Trauer, Blut. Und doch ist es die Heimat. Meine Heimat, mein Zuhause.
Ich frage mich, wo Layla zuhause ist...

Kapitel 42

Ich stehe auf.
"Layla, ich muss dort hin. Zu Phil - und zu Edward."
Sie sieht mich an, dann nickt sie, trocknet ihre Tränen und erhebt sich ebenfalls.
"Du musst nicht mitkommen", wende ich besorgt ein.
"Oh doch." Sie klingt wieder etwas besser, Gott sei Dank. "Ich muss mitkommen."
"Wieso?"
"Oh, ich habe noch etwas für meinen geschätzten Herrn Vater."
Sie holt etwas aus ihrer Tasche hervor. Ein Brief. Den habe ich schon mal gesehen. Bevor wir in den Palast kamen. Bevor wir gefangen worden...
"Was steht darin?", frage ich unsicher.
"Später", meint sie und beginnt zu laufen.
Im Gehen nimmt sie ihre Waffe, eine kleine Pistole. Ich sehe sie besorgt an.
"Bist du sicher?", flüstere ich mit einem Blick auf diese... Todesmaschine.
"Ich schieße nur, wenn sich mir jemand in den Weg stellt."

Je näher wir der Gruppe Kämpfender kommen, desto klarer wird, wie wenige davon noch übrig sind. Nur noch einige von Chicos Männern (vielleicht ungefähr 20) kämpfen gegen etwas weniger als 25 Leute ihrer Gegner, unter ihnen auch Phil und Edward, die ich beinahe sofort ausmachen kann. Es geht ihnen gut, dem Himmel sei Dank. Sie sind offenbar nur leicht verletzt. Als Edward uns sieht, setzt er seinen Gegner mit einem Schuss so außer Gefecht, dass dieser ihm nicht folgen kann, taucht in der Menge unter und steht kurze Zeit später bei uns. Mir ist eben erst aufgefallen, dass er auf unserer Seite kämpft. War mein Misstrauen etwas doch unbegründet?
"Layla, Cashmere", keucht Edward, als er uns erreicht hat. "Was ist los? Alles in Ordnung? Wo iist..." Er bricht ab, als er mein energisches Kopfschütteln wahrnimmt und die Tränen in Laylas Augen bemerkt.
"Oh", macht er bloß.
Er wendet sich an Layla, will ihr über den Arm streichen, doch die scheint ihn gar nicht zu bemerken. Ihre Finger verkrampfen sich unmerklich um den Brief, ihre Knöchel werden weiß. Sie zieht ihre Pistole. Erschrocken sehen Edward und ich uns an und wollen beide schon zum Sprechen ansetzten - als Layla die Waffe hebt und in die Luft schießt.
Mit einem Mal wird es still. Keiner bewegt sich. Erst jetzt sehe ich, wie viele Leute tot am Boden liegen und erschauere. Und dann dreht sich die Masse, wie ein Mann, zu Layla um. Schlagartig sind mindestens 30 Gewehre, von beiden Seiten, auf sie gerichtet. Ich erstarre. Was tut sie da?
"Lasst die Waffen fallen", ruft Layla in einer ihr untypischen und trotzdem so... charakteristischen Weise. Und - ich weiß nicht, wieso - alle gehorchen.
Irgendwie schafft es Phil sich zu uns durchzuschlagen, denn er steht plötzlich neben mir.
"Was tut sie da?", flüstert er mir ins Ohr. Dann sieht er sich um und bemerkt, dass Louis fehlt. Sofort wird er still.
"Vater", fährt Layla jetzt laut fort und Chico tritt vor. Er hat seine Waffe noch immer in der Hand, macht aber keine Anstalten, sie zu benutzen. Stattdessen sieht er Layla nur hohl an.
"Für dich!", ruft sie beinahe höhnisch und wirft ihm den Brief zu. Chico öffent ihn vorsichtig.
In diesem Moment könnte man auf der Ebene vor dem Palast eine Nadel fallen hören, so still ist es.
Dann schaut Chico auf. In seinem Gesichtsausdruck steht eine Wut, eine vollkommene Fassungslosigkeit. Unwillkürlich trete ich eine Schritt zurück, als er seine Waffe hebt und beginnt, wie wild um sich zu schießen. Er ist nicht mehr klar bei Verstand, das ist sofort klar. Ihm ist völlig egal, wen er trifft. Geistesgegenwärtig stößt mich Phil zu Boden. Vor meinen Augen verschwimmt alles und ich spüre einen stechenden Schmerz in meinem Bein. Als ich mich danach umdrehe, rinnt warmes, dunkelrotes Blut über meine Wade. Neben mir schnappt Phil erschrocken nach Luft, doch er schaut nicht auf mein Bein.
Mein Blick folgt seinem. Alle anderen, mit Ausnahme von Chico, liegen auf dem Boden. Alle scheinen auf dem Bauch zu liegen, aber da fällt mein Blick auf eine einzige Person. Diese Gestalt liegt - auf dem Rücken und so unnatürlich, dass...
Nein! Ich springe auf. Meine erschrocken geweiteten Augen fangen bloß ein Bild ein: Schwarze Haare. Nein! Doch in diesem Moment hebt Chico erneut seine Waffe. Irgendetwas in seinen Augen sagt mir, dass er wieder klar bei Verstand ist. Plötzlich scheint die Zeit stehen zu bleiben. Ich erstarre. Es ist mir egal. Soll er mich erschießen, soll er... Es ist mir so egal. Wenn ich auf die Gestalt am Boden sehe, ist mir alles egal.
Als ich wieder zu Chico schaue, bemerke ich, dass auch er mit Entsetzen auf die Gestalt neben mir starrt. Und als er dann abdrückt, sinkt er selbst zu Boden.
Was soll das? Was passiert hier? Völlig verständnislos falle ich neben dem Menschen neben mir auf die Knie. Das kann nicht sein! Nein! Ich weiß, wer da vor mir liegt und doch fehlt mir vor lauter Schreck, vor lauter bodenlosem Entsetzen, der Name. In meinem Kopf geistern Buchstaben, Erinnerungen und Verständnislosigkeit, bis ich neben der Leiche eine Kugel sehe. Eine Kugel mit einem winzigen Gesicht darauf. Die Eretro'sche Kugel. Chicos Kugel.
Und dann ergibt alles einen Sinn. Er hat sie umgebracht! Und deshalb hat er sich selbst getötet. Weil es seine Schuld war.
Und dann - hat die Gestalt einen Namen. Irgendwo in meinem Kopf, völlig in Trauer, plötzlich einfach da.
Nein! Ich beginne zu schluchzen. Nein! Das kann nicht sein!
"Layla!"

Epilog

Nur ein Blick. Edward kniet am Boden. Neben Layla. *Lass es einfach bloß ein Albtraum sein*, denke ich mir und dann schwindet mein Bewusstsein.

Er steht neben mir. Er wird mich aus diesem Albtraum retten.
"Edward", hauche ich.
"Es ist alles in Ordnung", meint er.
Mein Blick fällt nach links. Sie ist tot. Dort liegt sie.
"Nichts ist in Ordnung!", rufe ich und starre ihn an.
"Steh auf", flüstert er und erst jetzt merke ich, wie gepresst vor Trauer seine Stimme ist.
Langsam erhebe ich mich.
Alles scheint sich zu drehen. Mein Bein schmerzt immer noch, aber es ist verbunden.
Edward nimmt mich in den Arm.
"Wir sollten uns setzten." Er schluckt. "Du hast sicher einige Fragen."

Ich sehe ihn an.
"Sie kann nicht tot sein."
Edward schluckt und erwidert nichts.
Plötzlich kann ich wieder klarer denken.
"Das ist kein Scherz", stelle ich leise fest.
"Nein."
"Was stand in dem Brief?", flüstere ich. "Was hat Chico dazu gebracht,..."
Edward zieht den Brief hervor und gibt ihn mir. Ich schaue auf das reine, weiße Papier und schüttele den Kopf.
"Du willst es nicht lesen", bemerkt Edward nüchtern und nimmt den Brief wieder an sich.
"Nein." Ich mache eine Pause. "Kannst du ihn verbrennen?"
"Morgen... Er ist von meiner Mutter."
Ich blinzele, stelle aber keine Frage mehr dazu.
"Kannst du mir das mit der Untergrundbewegung bei den Wachen erklären?", setzte ich nach einer Weile an.
"Das sind, waren einfach Leute, die mit Chico unzufrieden waren. Ich habe sie mehr oder weniger iins Leben gerufen. Jorek hat sie angeführt", antwortet Edward knapp.
Ich nicke bloß.
"Wie geht es ihm?"
"Er erholt sich", erwidert Edward.
Eine ganze Weile herrscht Schweigen. Doch ich habe noch mehr Fragen. Vielleicht kann ich mich damit ablenken von... Ich will nicht daran denken.
"Was passiert jetzt?", frage ich, um die Gedanken zu verdrängen.
"Nun, gerade jetzt sind einige Wachen dabei, das Anti-Karoson freizulassen. Phil ist bei ihnen."
Oh ja, das war ja der Grund für das alles hier. Für den Kampf. Für Laylas Tod...
"Und dann?", flüstere ich erstickt und kämpfe gegen die Tränen an.
"Nun ja, mein Vater ist nicht mehr an der Macht. Es kann von vorn beginnen", meint Edward ruhig.
So einfach ist das? Das kann doch gar nicht sein. Doch dann kommt mir eines in den Sinn: der Preis dafür. Layla.
Die Tränen laufen nun ungehindert über meine Wangen und Edward sieht hilflos zu.
Das ganze Leben kann doch nicht besser werden. Es gibt immer Probleme. Das ist doch alles sinnlos. Das ist...
"Cashmere..." Edward drückt mich an sich.
Ich schlucke und versuche die Tränen zu vertreiben.
"Und du?", schluchze ich leise.
"Ich?"
"Was war das? Erst hast du verliebt getan, dann hast du uns verraten, du hast auf unserer Seite igekämpft... Edward! D-du weißt, dass ich dich liebe, oder? Aber das kann ich nicht, wenn ich nicht iweiß, wieso du das getan hast."
"Ich liebe dich auch, Cashmere. Und ich schätze, du verdienst wirklich eine Erklärung."
Er nimmt mich wieder in den Arm und holt tief Luft.
"Na dann, also, als ich jünger war, wollte ich immer sein wie mein Vater. Schau mich nicht so an. iIch wusste, dass er schlimm war, aber ich habe das gar nicht wahrgenommen. Betrachte das einfach ials eine Charaktereigenschaft von mir. Später habe ich mir bewusst gemacht, was er tat. Auch... iLayla hat mir dabei geholfen. Meine Mutter ist vor meinem Vater geflohen und Layla hat sich iimmer um mich gekümmert. Das wäre das zweite. Und dann habe ich dich kennengelernt. Ich ihabe, begonnen dich zu lieben." Er macht eine Pause. "Und das alles drei hat auf mich... ieingewirkt. Ich wollte - nun, das klingt jetzt sehr banal, aber es war so -, ich wollte die Welt ibeherrschen. Wie mein Vater. Ich wusste trotzdem, was er Schlimmes tat. Und ich liebte dich. Ich ihatte sozusagen einen Plan, wie ich den Posten meines Vaters übernehmen kann. Das muss ich dir ijetzt nicht erklären; es war kompliziert und im Grunde ekelhaft. Als ich dich dann traf, habe ich imich nicht nur in dich verliebt. Ich habe gelernt, die Welt so zu sehen, wie sie ist." Erneut stockt er. "Kamirus war das Einzige, was ich kannte. Du hast mir Armut gezeigt, Leid. Alles was für dich inormal war, war für mich völlig neu. Und es hat mich vor Probleme gestellt, obwohl es eigentlich idie Lösung selbst war. Ich wollte ein Herrscher sein, wie mein Vater, aber gleichzeitig war er igrausam und ich kannte die Not auf der Welt. Es wäre perfekt gewesen. Aber mein Plan war... ischlecht. Nein, im Grunde war er brillant, aber ich wusste, dass er dir nie im Leben gefallen ikonnte. Du hast schnell durchblicken lassen, dass du niemals einen Alleinherrscher akzeptieren iwürdest. Ich wusste nicht, was mir wichtiger war. Du oder die 'Weltherrschaft'. Heute weiß ich es inatürlich. Ja, natürlich du. Aber damals habe ich mich verrückterweise gegen dich entschieden. Ich ihabe den Plan verfolgt, habe euch verraten. Aber mein Plan sah vor, dass mein Vater mich nicht ieinsperrt. Da habe ich meinen Vater wohl unterschätzt. Ich habe jedenfalls das Schlafspray ivertauscht - das weißt du ja sicher - und dann wurde ich doch mit eingesperrt. Da kam mir iletztendlich meine Freundschaft mit Jorek zu Hilfe. Er hat mir, also uns, zur Flucht verholfen, ist iuns aber - auf meinen Auftrag hin - gefolgt und konnte uns dann helfen, als mein Vater uns iangegriffen hat. Im Ernst, das hätte ich auch nicht gedacht, dass er das tut." Edward macht wieder eine Pause. "Ja. Das war es relativ. Es tut mir so leid, Cashmere. Ich wollte das nicht. Ich wollte idich nicht verraten. Aber ich habe nicht gelogen." Er sieht mir genau in die Augen.
"Ich liebe dich, Cashmere. Du bist meine Sonne."
Und als er mich küsst, scheint alles zu verschwimmen. Alles scheint egal.
Aber es ist nicht egal. Die Welt erscheint wieder gut, aber das hat seinen Preis. Einen Preis, der viel zu hoch ist.
Layla.
Meine Freundin. Meine beste Freundin. Die alles getan hat. Für mich. Für die Welt. Und sie ist tot. Wie kann das Leben bloß so ungerecht sein?
Ich löse mich von Edward und drehe mich um. Sie liegt da. Einsam. Tot.
Eine einzelne Träne löst sich aus meinen Augenwinkel, rollt langsam über meine Wange, fällt zu Boden - und färbt eine kleine, weiße Blüte blutrot.


© Cashmere


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