Dunkle Abgründe, die mich in die Tiefe zogen, so verlockend. Ein Lufthauch streifte meine Wange, so sanft wie ein Schmetterlingsflügel im Frühling. Mein Atem stockte und ich blickte auf die vollen, sinnlichen Lippen, die sich langsam den meinen näherten. Ein Schauer jagte mir über den Rücken und ich konnte kaum an mich halten. Diese Augen, dieser Mund, dieses Gesicht... so schön wie ein Adonis, ein göttliches Wesen. Mein Herz schlug schneller, als er sich zu mir beugte, seine Finger über meinen nackten Arm strichen. Er war so nahe, ich konnte seine Wimpern zählen....
„Nur noch eine Minute!“ Ich schreckte aus meinem Tagtraum auf und kehrte zurück in die Realität. Zurück in den Klassenraum, in den Kunstunterricht, zurück zu meiner Zeichnung. Nervös leckte ich mir über die Lippen. Es war schwer, etwas allein aus der Erinnerung heraus zu zeichnen.... Erinnerungen bestehen schließlich nicht aus dem greif-oder sichtbaren, sondern aus den Gefühlen des vergangenen Moments – und wie bannt man Materielles, welches nicht vorhanden ist, und Gefühle, welche verblasst sind, auf ein Stück Papier? Ich seufzte. Wenn dies doch nur das einzige Hindernis wäre..... die Gestalt, die ich zu zeichnen versuchte, war mehr als nur perfekt – sie war so etwas wie ein Gott, etwas, dass man nicht zeichnen kann, da es bedeuten würde, der Person die Freiheit zu rauben, da sie immer dort wäre, wo man das Bild aufhängen würde.... diese Schönheit war nicht festhaltbar. Und sie war nicht real. Sie existierte nur in meinen Träumen, kam des Nachts zu mir, hielt mich fest, beschützte mich...
Plötzlicher Lärm schreckte mich aus meinen Gedanken und ich hob verwirrt den Kopf. Laute Schreie, trommelnde Schritte, ein lauter Knall. Ich zuckte zusammen und sprang auf. Gerade als ich einen Schritt nach vorne trat, drang ein weiterer, lauter Schrei von Außerhalb herein, so durchdringend, dass er mir unter die Haut kroch, mein Blut gefrieren und meine Augen weiten ließ. Dann – erneut das laute Geräusch, ein Knall, und der Schrei brach abrupt ab. Was zum Teufel ging hier vor sich?
Meine Lehrerin stand auf und eilte hektisch in Richtung Ausgang, während sie in ihrer Tasche herum fummelte und schließlich klirrend einen Schlüssel ans Tageslicht beförderte. Doch bevor sie das passende Gegenstück für den Schlüssel gefunden hatte, wurde die Tür kraftvoll aufgestoßen und sie fiel, von der Tür getroffen, hinten über und ihr Kopf krachte mit einem dumpfen Geräusch auf einen Tisch und dann auf den Boden, wo sie regungslos liegen blieb. Schüler schrien auf und rannten panisch umher, versuchten zu fliehen, aus den Fenstern zu springen.
Eine dunkle Gestalt erschien im Türrahmen, in den Fingern seines ausgestreckten Armes eine Handfeuerwaffe. Seine Präsenz erfüllte den ganzen Raum und verbreitete seine düstere, gefährliche Aura, welche in den Tiefen meiner Seele zu vibrieren schien. Er trug eine normale Jeans mit einem Pulli, dessen Kapuze tief in sein Gesicht gezogen war. Ein beklemmendes Gefühl beschlich mich. Diese Person, sie kam mir so vertraut vor, diese geschmeidigen Bewegungen, diese schönen, schlanken Finger, die so zart sein konnten... die große Gestalt drehte sich zu mir, die Kapuze seines Pullis verrutschte und sein Antlitz wurde enthüllt. Ein dunkler Teint, orientalisch anmutende Züge, tiefschwarze Locken, die tief in seine Stirn fielen, ein feiner, geschwungener Mund, dunkle, funkelnde Katzenaugen, umrahmt von langen Wimpern... ein wunderschönes Gesicht – das Gesicht meiner Zeichnung!
Der Lauf der Waffe war auf mich gerichtet und ich öffnete meine Lippen, um etwas zu sagen, um zu schreien, ihn anzuflehen.... er musste mich doch erkennen! Jede Nacht erschien er in meinen träumen, er musste doch sehen, dass ich es bin, die er jede Nacht in seinen Armen hielt, der er so liebevoll „Geliebte“ ins Ohr flüsterte, der er versprochen hatte, nie weh zu tun, niemals zu verlassen. Meine Kehle war wie ausgetrocknet, meine Stimme versagte ihren Dienst. Sein Blick richtete sich auf mich, wanderte an mir hoch, bis er meine Augen sah. Plötzlich veränderte sein Gesichtsausdruck sich, er schien überrascht, dann flammte in seinen Augen ein Feuer auf, welches er des Nachts immer hatte, wenn er bei mir war. Mein Herz setzte aus, ich hielt den Atem an. Er erkannte mich! Er war nicht bloß ein Traum, er war real! WIR waren real! Ein lächeln stahl sich auf meine Lippen, ich blendete alles um mich herum aus – es gab nur noch ihn und mich. Ich verdrängte die Tatsache, dass er soeben das Lebenslicht einiger Menschen ausgelöscht hatte, dass er ein Mörder war, die Frage nach dem 'Warum'. Seine Hände zitterten und gerade als er die Waffe sinken lassen wollte, löste sich ein Schuss.
Blut rauschte in meinen Ohren, mein Mund verzerrte sich zu einem Schrei, der nie zu hören war, meine Augen aufgerissen. 
Boom – Boom. Mein Herz war das einzige Geräusch, welches zu mir durchdrang.
Boom – Boom. Seine Augen weiteten sich ungläubig, als er sah, was geschah. 
Boom – Boom. Traurigkeit schlich sich in meinen Blick, sollte dies etwa das Ende sein...?
Boom – Boom. Die Kugel berührte meinen Brustkorb. Ich spürte sie erst sanft, doch keinen Wimpernschlag später explodierte ein sengender Schmerz in meinem Körper. Ich spürte, wie die Kugel sich durch mein Fleisch fraß, meine Nerven zerfetzte und in mein Herz drang. Ich keuchte auf, taumelte, und fiel, meinen Blick fest auf den schönen Jüngling gerichtet, der mich mit schreckgeweiteten Augen anstarrte, einen stummen Schrei auf den Lippen. Mit letzter Kraft wisperte ich den Namen, den er in meinen Träumen hatte. „Geliebter!“ 
Der letzte Hauch entwich mir und meine Augen wurden glasig. Zurück blieb er, mit einem einzigen quälenden Gedanken. Was hatte er getan...?


© by Insatiable Desires | Insanity


2 Lesern gefällt dieser Text.






Kommentare zu "Was hast du getan...?"

Re: Was hast du getan...?

Autor: noé   Datum: 05.11.2014 7:54 Uhr

Kommentar: WOW!
Mitgerissen von der Eindringlichket der Schilderung!
noé

Re: Was hast du getan...?

Autor: Insanity   Datum: 05.11.2014 8:04 Uhr

Kommentar: Vielen Dank, freut mich, dass es dir gefällt.

Re: Was hast du getan...?

Autor: axel c. englert   Datum: 05.11.2014 9:59 Uhr

Kommentar: Gut getan - mit der Geschichte!
(Viel Phantasie und Spannungsdichte).

LG Axel

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