~Alle Jahre wieder...~

Sommerferien. Sechs Wochen, Sommer Camp. Hauptgewinn.
Die Sonne knallt vom wolkenlosen Himmel. Der Boden, auf dem das Zeltlager errichtet wird, ist staubig und trocken. Staub und Sonne brennen in meinen Augen. Um mich herum wuseln mehr als ein Dutzend Mädchen, lachen, schreien. Es ist die Hölle.
Ich stehe mit hängenden Schultern noch immer da, wo mich meine Mutter vor zehn Minuten abgesetzt hat. Sommer Camp. Entmutigt lasse ich meinen Rucksack, das Zelt und den Schlafsack einfach auf den Boden fallen. Finster starre ich auf die Hölle die vor mir liegt.
Sechs Wochen Sommer Camp. Vielen Dank an meine Eltern. Es würde mir sicher gefallen. Ich solle doch nicht schon so negativ eingestellt sein, bevor es überhaupt begonnen hat. Hah! Es ist ja nicht das erste Mal. Seit zehn Jahren ist es immer das Gleiche. Seit zehn Jahren setzen sie mich in dieser Hölle ab. Sie arbeiten viel, eigentlich ununterbrochen. Aber so ist das, wenn man ein eigenes Unternehmen hat. Da hat man nicht unbedingt Zeit für Kinder. Nicht einmal in dem Ferien können sie sich Urlaub nehmen. Aber es ist ja auch nicht schlimm. Ich nehme es ihnen gar nicht übel. Ich hätte wirklich kein Problem damit die Ferien alleine zuhause zu verbringen. Ich bin siebzehn, dürfte ja wohl keine Umstände machen. Ich kann auf mich selbst aufpassen und sowieso bin ich lieber alleine. Es gibt da einen kleinen Teich, nicht weit von unserem Haus entfernt. Darin zu schwimmen ist verboten, aber es geht trotzdem gut. Außerdem gibt es wenige Straßen von uns entfernt eine Bücherei. Ich habe noch nicht einmal die Hälfte aller Bücher gelesen, die ich lesen wollte. Ich hätte also wirklich genug Beschäftigungen. Aber sie stecken mich trotzdem wieder in das verhasste Sommer Camp. Manchmal glaube ich, sie hören mir gar nicht zu. Jetzt stehe ich wieder hier, so wie jeden Sommer seit ich sieben bin. Stehe hier zwischen lauter fremden Mädchen und über motivierten Betreuerinnen, die mich dazu zwingen werden, bei ihren tollen Sommerspielen mit zu machen. Aber das will ich nicht! Vielleicht hofft meine Mutter immer noch, dass ich hier Freundinnen finden werde. Ich habe nämlich nur eine. Und ich will auch keine andere. Dieses Sommer Camp bringt also gar nichts. Aber das sehen sie nicht ein.
Die anderen Mädchen sind jetzt eifrig dabei ihre Zelte aufzubauen. Pff, ich will hier sowieso nicht bleiben, wozu soll ich dann mein Zelt aufbauen? Von mir aus schlafe ich auch draußen, genau hier, wo ich mich jetzt auf den Boden fallen lasse. Der Staub vom Boden wirbelt auf und setzt sich in meinen Hals. Ich muss husten. Schweißperlen beginnen von meiner Stirne über meine Wangen zu rinnen. Ich werde nicht die vollen sechs Wochen hier bleiben. Nie im Leben. Ich habe in den letzten Jahren, die ich hier gefangen war, die Betreuerinnen und den Ablauf bestens studiert. Und ich weiß, dass es nur eine Fluchtchance für mich gibt. Eine, die realistisch ist. Ja, ich könnte mich tagsüber bei den Spielen davon stehlen, aber das ist äußerst unklug. Als ich noch jünger war, vielleicht in meinem dritten Jahr hier, da hat es ein störrisches großes Mädchen versucht. Aber sie haben ihr Fehlen viel zu schnell bemerkt, sie kam nicht weit weg. Die Betreuerinnen nehmen ihre Pflicht wirklich zu ernst. Aber nachts habe ich eine gute Chance. Alleine wird es zwar sicher schwer aber man braucht nicht unbedingt eine Verbündete. Ich muss mein Zelt nur etwas abseits der anderen aufbauen. Und ich darf auf keinen Fall auffallen. Ich muss mich normal verhalten. Ich weiß was das bedeutet. Unter die anderen mischen. Aber es ist ja nur für einen oder zwei Tage. Wenn alles glatt läuft, dann bin ich morgen Nacht weg. Diese Nacht muss ich die Betreuer im Auge behalten, damit sich auch nichts geändert hat. Dann muss ich mir Proviant besorgen, das wird kein Problem werden, ich kenne die Leute von der Küche bestens. Dank den zehn Jahren Erfahrung. Bleibt noch meine letzte Aufgabe zur Vorbereitung meiner Flucht: Ich muss mir den Wald noch einmal genau ansehen. Ich kenne das Gelände hier in- und auswendig, aber leider nur die nächste Umgebung. Wenn ich im Dunkeln schnell und leise durch den Wald fliehen muss, brauche ich den perfekten Weg. Ich werde hier also höchstens zwei Tage festsitzen. Mehr nicht. Danach bleiben mir fünfeinhalb Wochen. Die werde ich natürlich nicht zuhause verbringen können. Die Betreuerinnen werden spätestens am Morgen nach meiner Flucht mein Fehlen bemerken. Bis dahin muss ich den Wald bereits hinter mir gelassen haben und möglichst in einem Bus sitzen. Sie werden zuerst das Gelände durchkämmen, das bringt mir ein oder zwei Stunden zusätzlich. Dann werden sie die Polizei und meine Eltern verständigen, weil sie mich nicht finden und ich auch keinerlei Spuren hinterlassen habe. Und dann beginnt der Wettlauf gegen die Zeit. Mit meinen Eltern muss ich nicht rechnen aber wenn die Polizei mich nicht innerhalb von drei Tagen gefunden hat, werden sie noch mehr Polizei mobilisieren. Ich brauche ein wirklich gutes Versteck. Das ist mein einziges Problem. Wo soll ich hin? Am liebsten würde ich zu meiner besten Freundin. Aber die ist irgendwo in Griechenland zusammen mit ihren Eltern. Unmöglich sie zu erreichen. Da fällt mir noch etwas wichtiges ein, was ich für meine Flucht brauche. Eine Landkarte! Mist, wieso habe ich nicht früher daran gedacht? Schön, ich werde das Gepäck der Betreuer durchwühlen müssen. Ich unterstreiche diese Notwendigkeit auf der imaginären Liste in meinen Kopf. Habe ich sonst noch etwas vergessen?
Ich werde unterbrochen von einem großen Schatten, der sich vor die Sonne schiebt. Verwundert hebe ich meinen Kopf und schiebe meinen Fluchtplan weit von mir, damit ich mich nicht versehentlich verrate. Ich starre blinzelnd in zwei große dunkelbraune Augen, die mich interessiert mustern. Nur interessiert, nicht neugierig.
„Willst du nicht dein Zelt aufbauen?“, fragt sie mich. Sie hat lange dunkelbraune Locken, die sich über ihre Schultern schlängeln. Ihre Lippen sind rot, natürlich, nicht angemalt und ihre Haut hell, als hätte sie dieses Jahr noch keine Sonne gesehen. Schneewittchen, denke ich und komme mir unglaublich blöd vor mit diesem Gedanken.
Ich muss mich zusammenreißen, mahne ich mich, wenn ich nicht gleich auffliegen will. Ich gebe mir einen Ruck. „Doch“, sage ich.
„Ich kann dir helfen, wenn du willst.“ Warum nicht, denke ich und nicke. Sie streckt mir ihre blasse Hand entgegen. Unter normalen Umständen hätte ich sie wohl ignoriert und wäre ohne Hilfe aufgestanden, aber ich darf dieses Jahr wirklich nicht auffallen, also greife ich nach ihrer Hand. Mit einem Ruck zieht sie mich auf die Beine. Sie ist ein Stück größer als ich.
„Wir können dein Zelt neben meinem aufbauen“, schlägt sie vor und schnappt sich ohne abzuwarten mein Zelt und den Schlafsack. Mir bleibt nichts anderes übrig als meinen Rucksack zu schultern und ihr zu folgen. Erleichtert stelle ich fest, dass ihr Zelt bisher das äußerste ist.
„Hier?“, fragt sie und zeigt neben ihr Zelt. Perfekt. Ich nicke wieder.
Zusammen haben Schneewittchen und ich mein Zelt schnell aufgebaut. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so geübt darin ist. Als der letzte Hering in den harten staubigen Boden geschlagen ist lässt sie sich vor meinem Zelt auf den Boden fallen. Sie verschränkt ihre Beine zum Schneidersitz. „Ich bin ja wirklich gespannt, was uns hier erwartet“, sagt sie und sie klingt wirklich gespannt. Ich setzte mich neben sie und zucke die Achseln. „Weißt du was schön wäre?“, fragt sie mich. „Was?“
„Jetzt irgendwo in einer grünen Blumenwiese zu liegen.“ Ich muss unwillkürlich lächeln. Ja, das wäre schön. „Oder in einem kleinen Teich, den man ganz für sich hat, zu schwimmen“, rutscht es mir heraus. Sie nickt. „Wie lange sitzt du hier fest?“, fragt sie mich. „Das volle Programm.“ Statt mich betrübt anzusehen lächelt sie. „Ich auch.“
Obwohl es klar gegen meine ganzen Prinzipien verstößt, weiß ich, dass ich sie die wenigen Tage, die ich hier sein werde, brauche. Ich muss mich unter Menschen mischen. Schneewittchen gibt mir die perfekte Vorlage dazu. Es ist einfacher sie anzunehmen, als mich um andere Freundinnen zu bemühen, die ohnehin nichts von mir wissen wollen. Ich muss bloß aufpassen, dass ich nicht zu durchschaubar werde für sie. Wir sitzen noch eine Weile neben einander im Staub und blinzeln schwitzend in die Sonne. Für heute steht nichts mehr an außer dem gemeinsamen Abendbrot und einem Lagerfeuer. Das Abendbrot kann ich akzeptieren aber um das blöde Lagerfeuer würde ich gerne herum kommen. Aber es geht nicht. Es ist Pflicht und wenn ich nicht auffallen will muss ich daran teilnehmen.
„Denkst du wir unternehmen heute noch etwas?“, will Schneewittchen wissen. „Es gibt ein Lagerfeuer“, antworte ich ohne großartig darüber nachzudenken. „Hab ich gehört“, füge ich hinzu und drehe mich zu ihr. Sie sieht nicht argwöhnisch aus. Ihre dunklen Augen glitzern in der langsam versinkenden Sonne.
Wie jedes Jahr gibt es nach dem Abendbrot das Lagerfeuer, was Pflicht für alle Mädchen ist. Ich trödele etwas beim Abwaschen meines Geschirrs, weil ich keine Lust habe zwischen den anderen Mädchen zu sitzen. Ich will irgendwo am Rand sitzen, wo ich meinen Gedanken in Ruhe nachhängen kann. Aber Schneewittchen drängt mich dazu, mich zu beeilen. Sobald mein Teller sauber und trocken ist schnappt sie nach meinem Handgelenk und zieht mich zu dem Platz vor unseren Zelten, auf dem bereits das kleine Lagerfeuer lodert. Ohne auf Schneewittchen zu achten lasse ich mich in der Nähe des Waldrandes auf den Boden fallen. Als ein paar andere Mädchen sie sehen, rücken sie zusammen, um ihr Platz zu machen, aber statt sich zu ihnen zu setzen, kommt sie zu mir. „Es ist ganz nett, oder?“, sagt sie mit einem Blick auf die lachenden Mädchen und das lodernde Feuer. Ich zucke mit den Schultern. Für mich ist es Zeitverschwendung und Qual. „Zu zweit wäre es noch schöner.“ Ich erwidere nichts. Wir sitzen eine ganze Weile lang einfach nur schweigend neben einander. Für mich ist es fast wie jedes Jahr. Ich warte, dass die Betreuerinnen uns entlassen und versuche nicht zu viel an die Flucht zu denken. Ich habe Angst, dass Schneewittchen Wind davon bekommt. Ich versuche mich auszuruhen, damit ich die Nacht über wach bleiben kann, um die Lage zu peilen.
Plötzlich lässt mich ein leises Wispern auf sehen. Schneewittchen sitzt nicht mehr neben mir, ich habe nicht bemerkt dass sie gegangen ist. Die Runde, die um das Lagerfeuer sitzt singt Blowin' in the wind. So wie jedes Jahr. Ich sehe mich nach dem Wispern um. Es kommt aus dem Wald. Es braucht einen Augenblick, bis sich meine Augen an die Dunkelheit im Wald gewöhnen, dann entdecke ich die Schemen einer Figur, die an einen Baum gepresst steht. Ihre Schemen verschwimmen fast mit dem Schwarz des Baumstamms zu Einem. „Komm her“, flüstert die Person. Schneewittchen. Ich werfe einen Blick zum Lagerfeuer. Keiner scheint sich um uns zu kümmern, deshalb stehe ich auf und schleiche zu ihr in den Wald. Sie lächelt und nimmt meine Hand. Die Dunkelheit des Waldes verschlingt uns. Sie zieht mich ein ganzes Stück mit sich, ich weiß schon nicht mehr wo wir sind. Ich muss mir die Umgebung morgen wirklich noch einmal ansehen, sonst werde ich mich hier hoffnungslos verlaufen. Neben unseren Schritten höre ich jetzt auch noch etwas anderes. Es ist ein Rauschen. Erst leise, dann immer lauter. Vor uns sehe ich einen kleinen Tümpel, der von einem Wasserfall gespeist wird. Auf der Wasseroberfläche spiegelt sich das weiße Licht des Mondes.
„Du wolltest doch einen Teich, den man für sich hat“, erklärt sie mir lächelnd. Ich mache ein paar Schritte auf den Tümpel zu. Er ist zu klein als dass man darin schwimmen könnte, aber das macht nichts. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn jemals zuvor gesehen zu haben. In zehn Jahren habe ich diesen wundervollen Ort nicht gefunden und Schneewittchen entdeckt ihn auf Anhieb. „Er ist wunderschön“, sage ich und setze mich an den Rand des Tümpels. Schneewittchen tut es mir gleich. Die Steine sind noch warm. Schneewittchen streift Schuhe und Socken von ihren Füßen und hält sie in das klare Wasser des Tümpels. Ohne zu zögern tue ich das Gleiche. Auch das Wasser ist noch warm. Vom Waldrand her schwirren leise die Klänge von Gitarrenmusik zu uns. Aber so dezent, dass sie mich nicht stören. Der Himmel ist sternenklar.
„Ich heiße übrigens Gloria“, sagt sie, während sie mit ihren Füßen im Wasser planscht. „Doch nicht Schneewittchen“, sage ich leise und sehe in ihre dunklen Augen. Sie lacht. „Nein, nicht Schneewittchen. Und, verrätst du mir auch deinen Namen, Cinderella?“ „Cinderella?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Sicher, es passt. Sie nickt.
„Oder soll ich raten?“ „Ja“, sage ich.
„Du musst mir einen Tipp geben.“ Ich überlge einen Moment.
„Er fängt mit C an, wie Cinderella.“ Gloria legt ihre Stirn in Falten und denkt nach. „Mit C“, murmelt sie vor sich hin. „Carolin“, schlägt sie mir vor. Ich schüttele meinen Kopf. „Chiara“, sagt sie als nächstes. Ich sehe sie verwundert an.
„Woher weißt du das?“ „Ist es richtig?“ Ich nicke. Sie wirft lachend ihren Kopf in den Nacken. „Ich bin bloß gut im Raten“, sagt sie dann. Allerdings, denke ich und mustere Gloria.
Ich kann mich selbst nicht verstehen. Seit wann bin ich so gut im Freundschaften schließen? Und seit wann verbringe ich gerne mit jemandem Zeit? Es ist seltsam.
Als die Musik verstummt stehe ich langsam auf. „Wir sollten zurück zu den anderen, bevor die bemerken, dass wir nicht da sind.“
„Hättest du was dagegen wenn sie es merken würden?“, will Gloria wissen. Ja, hätte ich, denke ich. Aber ich sage ich es nicht. Ich zucke möglichst gleichgültig die Achseln.
„Ich würde am liebsten die ganze Nacht hier bleiben“, sagt sie während sie Schuhe und Socken anzieht und mir zurück zum Camp folgt.
Wir können uns unbemerkt wieder in das Treiben auf dem Zeltplatz mischen. Ich trotte zu meinem Zelt. „Gute Nacht“, sagt Gloria, bevor sie in ihr Zelt schlüpft. „Gute Nacht“, murmele ich ihr hinterher und steige selbst in mein Zelt. Die Sonne hat es ordentlich aufgeheizt und es ist viel zu heiß um darin zu schlafen. Ich strecke mich trotzdem auf meinem Schlafsack aus, bis Stille auf dem Zeltplatz eingekehrt ist. Dann setzte ich mich auf und krieche leise zu der Öffnung meines Zelts. Durch das dünne Fliegengitter kann ich den Platz vor dem Zelt problemlos überblicken. Wie immer ist alles ruhig. Die Zelte der Betreuerinnen grenzen den Rand zur Bundesstraße ab, doch der Rand zum Wald hin liegt ungeschützt. Wer über die Bundesstraße fliehen will ist sowieso ein Idiot. Vor dem letzten Zelt der Betreuerinnen, dem, das am nächsten zum Waldrand steht, steht ein weißer Campingstuhl. Auf ihm hält eine Betreuerin Wache. Noch, denke ich. Noch ist sie wach und hat die Nacht mit ihrem scharfen Blick im Auge aber spätestens um Mitternacht wird sie schlafen. Vielleicht noch nicht heute, aber in der Nacht, in der ich fliehen werde, werde ich schon dafür sorgen.
Tatsächlich ist die Betreuerin hartnäckig. Es muss eine Neue sein, denn ich kenne sie nicht. Um zwei Uhr ist sie immer noch hell wach. Um vier auch. Gegen sechs Uhr beginnt sie häufiger zu blinzeln. Ich kann meine Augen kaum noch offen halten. Durch den dünnen Stoff meines Zelts dringen die ersten orangenen Sonnenstrahlen. Auch dieser Tag wird heiß werden, denke ich und spüre, wie ich wegdämmere. Aber ich lasse es zu. Ich habe genug gesehen.

~Vertrauen~

Es sind vielleicht zwei Stunden vergangen, seit ich eingeschlafen bin, als sich jemand an dem Reißverschluss meines Zelts zu schaffen macht. Ich höre es durch meinen Schlaf hindurch ganz deutlich. Auch etwas, was ich zehn Jahren Sommer Camp zu verdanken habe. Selbst wenn ich schlafe, bekomme ich noch mit, was um mich herum geschieht. Ich öffne meine Augen und erhasche einen Blick auf Schneewittchens Gesicht, das sich durch den Eingang meines Zelts geschoben hat. „Du?“, murmele ich müde und richte mich auf. „Was willst du?“
Gloria lacht. „Es ist Zeit zum aufstehen“, sagt sie. Ich grummele unwillig. „Selbst schuld wenn du die ganze Nacht über wach bist.“ Die ganze Nacht über wach? Woher weiß sie das? „Ich halte dir einen Platz beim Frühstück frei“, sagt sie jetzt und schließt den Reißverschluss meines Zelts wieder. Ich lasse mich gähnend zurück fallen und strecke mich. Der Tag wird anstrengend werden. Ich gehe die Liste in meinem Kopf durch. Was ist zu erledigen. Proviant besorgen. Eine Karte besorgen. Den Wald erkunden. Dafür könnte Gloria vielleicht wichtig sein, überlege ich. Außerdem brauche ich noch etwas um die Nachtwache außer Gefecht zu setzen. Und dann bleibt da noch der übrige Mist. Am Pflichtprogramm teilnehmen. Ich setze mich wieder auf, fahre mir mit einer Hand durchs Gesicht. Und ich muss vorsichtig sein. Sehr vorsichtig. Irgendetwas stimmt mit Schneewittchen nicht, das weiß ich. Sie ist viel zu schlau als dass ich mich großartig mit ihr anfreunden kann. Das ist zu gefährlich. Ich suche nach einer Bürste in meinem Rucksack und fahre mir ein paar Mal halbherzig damit durch die Haare. Ich will gerade das Zelt verlassen, als ein Piepsen aus meinen Rucksack ertönt. Mein Handy. Ich wühle mich durch T-Shirts und Tops und Hosen, bis ich es endlich in der Hand halte. Zehn neue Nachrichten. Oh. Es muss wohl etwas Wichtiges sein. Sie sind von meiner besten Freundin. Ich nehme mir die Zeit und öffne die Erste. Sie ist noch von gestern Morgen. Sie schreibt mir, dass ich sie anrufen soll. Habe ich nicht, also hat sie mir noch eine SMS geschrieben. Sie schreibt, dass es wichtig ist. Ich öffne die dritte Nachricht. Wirklich. Ich rolle mit den Augen. Wenn es so wichtig wäre, hätte sie wohl mal geschrieben worum es geht. In der vierten Nachricht tut sie tatsächlich genau das. Sie schreibt, dass sie und eine Freundin von ihr, die sie wirklich sehr mag, bei ihr übernachtet haben. Ich weiß, dass die beiden etwas am Laufen haben, dafür sind wir ja beste Freundinnen, um sich so etwas erzählen zu können. Scheinbar hat es in der Nacht aber zwischen den beiden gekriselt. Deshalb schreibt sie mir. Ich schüttele den Kopf und klicke auf die nächste Nachricht. Sie vermisst mich. Na toll. So viel zu wichtig. In der sechsten Nachricht beteuert sie mir, wie sehr sie dieses andere Mädchen hasst. Ich frage mich, auf was für ein Biest sie sich da eingelassen hat. Ich kenne die Andere nicht. Meine beste Freundin wohnt zwanzig Kilometer von mir entfernt, seit der Trennung ihrer Eltern. Aber sie hält mich immer auf dem Laufenden. Und da hat sie eben dieses Mädchen kennen gelernt. Die siebte Nachricht, ein heulender Smiley, die Achte drei Ausrufezeichen. Dann schreibt sie noch einmal, dass sie unbedingt mit mir reden muss. Ich öffne die zehnte und damit letzte Nachricht, die sie mir gerade erst geschickt hat. Es ist aus, steht da. Ich seufze und scrolle hinunter. Weiter: Sie hat mir eben geschrieben, dass zwischen uns nichts mehr ist. Wahrscheinlich war da noch nie etwas von ihr aus. Du glaubst gar nicht wie ich sie hasse. Wäre ich doch nur nicht so blind gewesen, aber ihre verdammten braunen Augen haben mich einfach umgehauen. Und jetzt hocke ich hier in Griechenland am Pool und komme aus dem Heulen nicht mehr raus. Verdammt Chiara ich vermisse dich!!! Weil ich nicht weiß, was ich antworten soll schicke ich ihr ein Herzchen. Wenigstens ein Lebenszeichen von mir. Dann schmeiße ich das Handy zurück in den Rucksack und verlasse das Zelt.
Eine unbeschreibliche Hitze umhüllt mich schon jetzt, obwohl es gerade mal neun Uhr ist. Blinzelnd schleppe ich mich vorbei an dem weißen Campingstuhl, auf dem die Nachtwache postiert war, zu der Frühstücksgesellschaft. Wie versprochen hat Schneewittchen mir einen Platz frei gehalten. „Na, ausgeruht?“, fragt sie und sieht mich mit ihren blitzenden dunklen Augen an. Obwohl mir eigentlich nicht zum Lachen zu Mute ist, muss ich doch zumindest lächeln, während ich in dem Braun ihrer Augen versinke.
Nach dem Frühstück sehe ich zu, die Küchenleute möglichst alleine zu erwischen. Schließlich benötige ich noch Proviant. Wie erwartet erkennt mich Chris, der kleine rundliche Koch, wieder. „Hallo Chiara!“, ruft er mir fröhlich zu. „Guten Morgen“, erwidere ich und versuche nicht zu deutlich zu zeigen, wie froh ich bin ihn zu sehen. „Kannst du mir einen Gefallen tun Chris?“, frage ich ihn, während ich ihm hinterher zur provisorischen Campingküche folge. „Was immer du willst Chiara“, sagt er unbeschwert. „Gut, ich brauche ein bisschen Essen.“ „Aber es gibt doch Morgens, Mittags und Abends essen“, wirft Chris ein. „Ja ja“, stimme ich ihm zu, „Aber ich brauche trotzdem noch Essen. Es sind doch bestimmt Reste übrig oder?“
Chris schaut zwar noch etwas verwundert drein, nickt aber trotzdem und nimmt eine große Brötchentüte, die er mit übriggebliebenen Brötchen und Äpfeln füllt. „Hier“, sagt er und reicht sie mir. Ich lächele ihn dankbar an.
„Chiara.“ Ich drehe mich um und entdecke Maya , eine junge Köchin aus Äthiopien, die auf uns zu kommt. Mit einer energischen Handbewegung scheucht sie Chris davon. „Ich habe gehört du brauchst Essen“, sagt sie. Ich nicke zögerlich. Ich möchte nicht, dass zu viele davon Wind bekommen. „Hier, nimm das noch“, sagt sie und streckt mir fünf Schokoriegel entgegen. „Danke Maya!“, sage ich strahlend und stecke die Riegel zu den Brötchen in die Tüte.
Punkt eins auf meiner Liste ist erfolgreich abgehakt. Die Tüte muss reichen bis ich den nächsten Supermarkt entdecke. Nachdem ich sie in meinem Zelt verstaut habe ruft die erste Pflichtveranstaltung an diesem Tag. Anders als sonst ist es keine Schnitzeljagd. Das verblüfft mich und bringt mich außerdem aus dem Konzept. Am ersten Tag im Camp haben wir immer eine Schnitzeljagd gemacht.
Jetzt verkündet uns die neue Betreuerin, dass wir mit einem Vertrauensspiel beginnen werden. Ein Vertrauensspiel, wie wunderbar. Ich weiß, dass ich kein Vertrauen in andere habe und schon gar nicht in irgend fremde Mädchen. Während uns Coin erklärt, wie die Übung geht, überlege ich, ob ich es nicht doch wagen sollte schon jetzt zu fliehen. Aber sie hätten mich wohl schneller wieder eingefangen als ich mich meiner Freiheit würde erfreuen können. Widerwillig verfolge ich, wie Coin sechs Mädchen auswählt, die ein Siebtes durch einen kleinen Parcours tragen sollen. Ich werde nicht ausgewählt. Aber gerade als ich mich ein wenig entspanne sieht sie sich nach dem siebten Mädchen um.
„Wie ist es mit dir? Du siehst doch geeignet dafür aus“, sagt Coin mit einem Blick auf mich. Ich? Oh nein. Ich bin wirklich nicht geeignet für Vertrauensspiele, will ich sagen. Doch ich sage es nicht. Ich stehe schweigend da und starre Coin feindselig an. Es ist alles ihre Schuld. Ich bewege mich kein Stück bis Coin auf mich zu kommt und mich energisch zu den anderen sechs Mädchen zieht. So lange ich mich nicht bewege, werden sie nicht viel mit mir anfangen können. Coin will dass die Mädchen sich jeweils zu dritt gegenüber einander in einer Reihe auf stellen und die Hände ineinander verschränken. Dann fordert sie mich auf, mich auf die Hände der Mädchen zu legen. Aber ich will nicht. Ich vertraue diesen Mädchen nicht! Coin ist kurz davor die Geduld zu verlieren. „Jetzt mach schon“, faucht sie mich an. Ich starre in ihre grau funkelnden schmalen Augen. Ich schlucke und gehorche ihr. Die Mädchen heben mich auf ihren Händen liegend in die Höhe. Mir wird abwechselnd heiß und kalt und am liebsten würde ich schreien. Schreien und Coin das Gesicht zerkratzen. Aber dann beruhige ich mich, indem ich daran denke, wie ich ihr in der Nacht vor meiner Flucht vielleicht ein bisschen zu viel von Mayas äthiopischen Kräutertropfen in ihren Tee gieße.
Wir haben die ersten paar Meter des Parcours hinter uns gebracht. Bisher war es allerdings nur eine gerade Strecke. Jetzt scheint es kniffliger zu werden, jedenfalls beginnen die Mädchen, die mich tragen, zu diskutieren, wie sie das Hindernis vor uns am besten Überwinden. Ich spüre wie mein Herz zu rasen beginnt und kneife meine Augen zusammen. Sie werden mich nicht fallen lassen. Bestimmt nicht. Ich weiß nicht welche Hindernisse wir überwinden und welches es ist, an dem wir scheitern. Sie versuchen wohl mich über etwas zu heben. Ich höre dass sie sich allerhand Sachen zu schreien, vielleicht reden sie auch mit mir. Ich weiß es nicht und im nächsten Moment spüre ich keine sicheren Hände mehr unter mir, die mich halten. Stattdessen falle ich und schlage mit dem Rücken auf etwas Hartem auf. Nach Luft schnappend reiße ich meine Augen wieder auf. Sie haben mich auf einen Baumstamm, der uns den Weg versperrt hat, fallen lassen.
„Los Mädchen, nehmt sie wieder hoch, die Zeit läuft noch!“, ruft Coin uns zu. Sie fragt nicht einmal ob es mir gut geht. Und jetzt will sie dass sie mich weiter durch den Parcours tragen. Ich kann das Ende schon sehen, trotzdem kann sie sich das abschminken. Ich setze mich auf und starre in fragende Mädchenaugen. Die können mich alle mal. Ich überlege wie meine Chancen stehen, wenn ich jetzt aufspringe und einfach davon renne. Wahrscheinlich ziemlich schlecht. Ich kann den Schmerz in meinem Rücken schlecht einschätzen.
„Komm ich helfe dir hoch“, sagt da plötzlich Schneewittchen, die sich zu den sechs anderen Mädchen gesellt hat. Dankbar ergreife ich ihre Hand und sie zieht mich vorsichtig auf die Beine. „Alles okay?“, fragt sie. Ich nicke.
„Nun macht schon, lasst euch von Gloria helfen“, ruft Coin. Ich schüttele störrisch meinen Kopf und auch die anderen Mädchen rühren sich nicht.
„Okay, wenn ich mit trage? Ich passe auf, dass du nicht noch einmal fällst“, sagt Gloria und sieht mich eindringlich an. Ich kann nicht anders, ich vertraue ihr. Es sind ihre Augen. Sie sind so warm und klar. „Okay“, stimme ich ihr zu. Sie entscheidet, dass Kathy nicht mehr mitträgt. Tatsächlich geht es. Wir schaffen es bis zum Ende des Parcours aber mein Rücken tut weh und ich sterbe fast vor Angst. Aber Schneewittchen hält ihr Versprechen. Sie passt auf mich auf. Behutsam lassen sie mich im Ziel hinunter, dann laufen wir zurück zu den anderen. Ich starre Coin feindselig an als sie unsere Zeit durchgibt.
„Geh mit ihr zu Doktor Ambros“, sagt Coin zu Gloria. Sie nimmt mich vorsichtig an der Hand und geht mit mir zu Doktor Ambros' Zelt. Ich hoffe, dass sie mich nicht wieder erkennt. Ich möchte nicht, dass Gloria erfährt, dass ich zum zehnten Mal hier bin.
Doktor Ambros sieht noch genauso aus wie früher. Sie ist groß und hager und hat diesen stechenden, wissenden Blick. Früher habe ich mich vor ihr gefürchtet, bis sie mir einmal so sorgfältig und liebevoll ein aufgeschlagenes Knie behandelt hat, dass ich begriffen habe, dass sie nicht zu den Feinden zählt. Sie gehört wie Maya und Chris zu meinen unfreiwilligen Gehilfen. Als sie mich sieht lächelt sie und streicht sich ihr langes dünnes rotes Haar hinter die Ohren. Sie hat mich erkannt, aber sie sagt nichts. Ich muss mein Top ausziehen, damit sie meinen Rücken untersuchen kann. Sie sagt mir, dass mein Rücken geprellt ist. Es ist Coins Schuld.
„Kann ich trotzdem bei dem Programm mitmachen?“, will ich hoffnungsvoll wissen. Mein Rücken tut wirklich weh. Sie nickt, scheint mich aber zu verstehen. „Es ist natürlich besser wenn du dich nicht so viel bewegst“, erklärt sie. „Sag das Elba.“ Elba ist die Leiterin des Sommer Camps. Sie ist der größte Feind, neben Coin, die in ihrem ersten Jahr im Camp beträchtlich in der Liste der Gefahren gestiegen ist.
Zusammen mit Gloria suche ich Elba und erzähle ihr was geschehen ist und was Doktor Ambros verordnet hat. Sie nickt widerwillig und will uns schon mit einer Geste wegschicken, als Gloria sie bittet, mit mir frei zu bekommen. Elba schüttelt streng ihr welliges graues Haar. Das hätte ich Gloria auch sagen können. Elba hasst es wenn etwas nicht nach Plan läuft.
„Aber sie kann nicht alleine gehen, was ist wenn sie zur Toilette muss? Jemand muss ihr beim Gehen helfen“, sagt Schneewittchen. Erstaunt sehe ich in ihre braunen Augen. Wie schlau von ihr. Aber ich glaube nicht, dass Elba das durchgehen lässt. Sie überlegt, dann nickt sie langsam. „Gut“, sagt sie, was eher wie ein Knurren klingt.
Gloria greift mir unter die Achseln um mich zu stützen. Ich lasse sie, bis wir bei unseren Zelten angekommen sind. „Ein ganz schönes Biest, diese Elba“, sagt Gloria und lässt mich los. „Du hast sie überlistet.“ „Was fangen wir jetzt mit unserem freien Tag an?“ Ich sehe Schneewittchen nachdenklich an. „Oder möchtest du dich wirklich hinlegen?“ Nein, ganz sicher nicht. Das heißt, ich würde gerne, aber das kann ich mir nicht leisten. Ich will morgen Nacht abhauen, ich brauche diesen Tag. „Nein“, sage ich.
„Wir können zu dem Tümpel“, schlägt Gloria vor. Ich weiß etwas Besseres. Du zeigst mir den besten Weg durch den Wald, während ich ihn mir einpräge für meine Flucht, denke ich.
„Wir könnten auch den Wald ein bisschen erkunden“, schlage ich vor. „Da ist es kühler.“
„Willst du wirklich so viel laufen mit deinem Rücken?“ Ich nicke und Gloria und ich verschwinden an der gleichen Stelle im Wald wie am Abend zuvor.
„Denkst du morgen werden sie wieder so Spielchen machen?“, fragt Gloria mich. Ich überlege. Eigentlich ist es nicht üblich für das Camp. Vertrauensspielchen haben wir hier noch nie gemacht. Das liegt an Coin.
„Ich glaube nicht“, sage ich. „Du magst Coin nicht oder?“ Ich sehe in Schneewittchens dunkle Augen. „Nein. Du?“ Sie schüttelt ihr dunkelbraunes Haar. Wir stapfen eine Weile schweigend durch den angenehm kühlen Wald. Ich versuche mir jeden Ast und jeden Baum genaustens einzuprägen. „Willst du irgendwo bestimmtes hin?“, will Gloria nach einer Weile wissen. Ich schüttele meinen Kopf und bleibe kurz stehen. Das Pochen in meinem Rücken erinnert mich jederzeit an Coin und das verfluchte Camp und an meine Flucht. Ich muss aufmerksamer sein. Ich lasse mich zu sehr in den Bann ihrer Augen ziehen. „Ich gehe ein Stück vor, bin gleich wieder da“, sagt sie und trabt einen Abhang hinunter. Ich warte. Eine Zeit lang höre ich noch ihre Schritte auf dem trockenen Laubboden, dann wird es stiller. Nicht einmal die Vögeln singen bei diesen Temperaturen. Abermals sehne ich mich nach dem Teich zuhause. Da kommt Schneewittchen wieder. Ihre Augen leuchten und ihre Haar fliegt während sie auf mich zu rennt.
„Ich hab da etwas, was dir sicher gefallen wird“, sagt sie und nimmt sanft meine Hand in ihre. Obwohl ich am liebsten kein Stück mehr laufen würde, folge ich ihr, den Abhang hinunter. Ganz langsam, wegen meinem Rücken. Als wir unten angekommen sind sehe ich ihn. Hellblaues Wasser, ganz klar. Ein Teich, ungefähr so groß wie meiner. Ich sehe begeistert zu Schneewittchen.
„Wir hätten Badesachen mit nehmen sollen“, sage ich wehmütig und strecke meine Hand in das Wasser. Erstaunt stelle ich fest, dass es angenehm kühl ist.
„Eine Quelle, das Wasser kommt von unter der Erde“, erklärt sie mir lächelnd. Ich richte mich wieder auf. Gloria hat unterdessen Schuhe und Strümpfe von ihren Füßen gestreift. Ich tue es ihr gleich. Dann stelle ich verwundert fest, dass sie auch ihre kurze Hose auszieht.
„Wir können doch nackt schwimmen“, sagt sie. Ich bin mir nicht sicher, ob sie das ernst meint aber als ich beobachte, wie sie aus ihrem Slip schlüpft und das T-Shirt über den Kopf zieht, weiß ich, dass es ihr Ernst ist.
Ich sehne mich nach kühlem Wasser aber ich weiß nicht, was ich von Schneewittchens Idee halten soll. Als ich zögernd wieder zu ihr sehe steht sie nackt vor mir. Sie lächelt und geht ohne ein Wort an mir vorbei. Sie gleitet immer tiefer in das klare Wasser, bis es zu tief ist, als dass sie noch darin stehen könnte. Sie legt sich auf den Rücken und lässt sich treiben. „Herrlich“, seufzt sie und taucht ihr Gesicht ins Wasser. Ich sollte mir lieber Gedanken über meine Flucht machen, aber die Neugier überwiegt. Ich möchte das Wasser des Teichs auf meiner Haut spüren, ich möchte seinen Grund unter meinen Füßen spüren und vor allem möchte ich mit Gloria nackt in diesem Teich schwimmen. Ich weiß nicht was dieses Verlangen in mir hervorruft, aber ich gebe ihm nach und ziehe mich aus. Dann steige ich zu ihr in den Teich. Das Wasser umspült sanft und kühl meine Haut. Es erfrischt ungemein und kühlt meinen Rücken. Wir schwimmen eine Weile und lassen uns treiben und lauschen dabei dem Zwitschern der Vögel. Wahrscheinlich zwitschern sie hier, weil es direkt am Wasser kühler ist aber in meiner Fantasie ist Schneewittchen der Grund dafür, dass die Vögel wieder singen. Als ich ihr diese merkwürdige Erklärung unterbreite lacht sie. „Wie süß“, sagt sie während sie aus dem Teich steigt und es sich im Laub am Boden gemütlich macht. Ich bleibe noch eine Weile im Wasser bevor ich mich neben sie lege. Sie dreht sie so, dass mich ansehen kann. Es ist merkwürdig wie vertraut sie mir schon vorkommt und das, obwohl ich eigentlich gar nichts über sie weiß. Vielleicht hat sie auch ein Geheimnis, überlege ich. Welchen Grund sollte sie sonst haben, um mich so zu akzeptieren wie ich bin, ohne alles was ich sage und tue zu hinterfragen? Mir wird ein bisschen mulmig bei diesem Gedanken, weshalb ich ihn so weit wie möglich von mir schiebe und es stattdessen genieße sie anzusehen. Wie sie da im trockenen Laub neben mir liegt, ihr nasses Haar tropft ihr in die Augen. Diese wunderschönen braunen Augen. Sie beugt sich lächelnd ein Stück zu mir und fährt mit ihrer Hand durch mein nasses Haar. Sie streicht mir eine Strähne hinters Ohr und legt dann ihre Hand auf meine Wange. Ich spüre wie mein Herz ein heftigen Satz macht und stelle mir vor, für immer mit Schneewittchen hier im Wald zu bleiben. Aber wir müssen zurück zum Camp und morgen muss ich fliehen. Ich brauche noch eine Karte. Nach dem Zwischenfall heute Vormittag mit Coin würde ich eigentlich lieber schon diese Nacht fliehen. Ich weiß aber zu gut, dass dieser Versuch schief gehen würde. Alleine schon wegen meinem Rücken.
„An was denkst du?“, fragt Gloria mich während sie aufsteht und sich langsam anzieht. „Nichts“, lüge ich und beginne ebenfalls mich anzuziehen. Es wäre wirklich gut wenn ich schon morgen nicht mehr hier wäre. Gloria kommt mir langsam viel zu nahe.
„Wir sollten zurück“, sage ich, obwohl wir uns ohnehin gerade auf den Rückweg machen.

~Zusammen allein~

Am Zeltplatz ziehen wir uns erst mal in unsere Zelte zurück um unsere Haare zu trocknen. Erst zum Abendessen sehen wir uns wieder. Heute Abend steht ein kurzer Marsch mit Fackeln auf einen Hügel in der Nähe an. Endlich ist wieder alles so wie sonst. Keira und Linda machen den Fackellauf, Coin bleibt hier. Wahrscheinlich bereitet sie sich auf ihre Nachtwache vor. Gloria und ich müssen nicht mitmachen bei dem Fackellauf. Während die anderen mit Fackeln ausgerüstet aufbrechen bedeutet Gloria mir, ihr zu folgen. Sie führt mich in das öffentliche WC Gebäude.
„Der Drache und sein Gehilfe bleiben hier, halten die Stellung“, sagt Schneewittchen als wir zusammen vor dem schmutzigen Spiegel stehen. Ich mustere unsere Spiegelbilder. Ich nicke. Sie meint Elba und Coin. „Coin wird wieder Nachtwache halten oder?“ „Ja“, bestätige ich. „Okay, ich komme in einer halben Stunde in dein Zelt, ja?“ Ich sehe in Glorias Augen. Sie will in mein Zelt? Aber sie hat doch eben festgestellt, dass Coin den Zeltplatz überwachen wird. „Und was ist mit Coin?“, will ich wissen. „Ich schleiche mich an ihr vorbei, keine Angst“, sagt sie lächelnd. „Okay.“ Gloria beugt sich vor, sodass ihr Gesicht ganz nah an meinem ist. „Ich freue mich“, flüstert sie mit glitzernden Augen. „Ich mich auch“, hauche ich zurück und warte, bis Gloria eine Weile das WC verlassen hat. Dann verlasse ich es selbst und schlendere an Coin vorbei in mein Zelt. Gut, ich schlendere nicht, ich hinke und werfe ihr sogar einen schmerzverzerrten Blick zu.
In meinem Zelt ist es wie gestern stickig und viel zu warm. Ich mache es mir auf meinem Bauch bequem und angele mir mein Handy aus dem Rucksack. In Gedanken liege ich schon neben Schneewittchen im Zelt. Das Display meines Handys zeigt mir schon wieder zwei neue Nachrichten von meiner besten Freundin an. Sie schreibt noch einmal, dass sie kreuzunglücklich ist und mich braucht. Ich seufze und beginne insgeheim dieses Miststück, das dafür verantwortlich ist wie es meiner besten Freundin geht, zu hassen. Ich öffne die zweite Nachricht und bemerke, dass es ein Bild ist. Bei dem schlechten Empfang hier dauert es eine Ewigkeit bis es geladen hat. Dann starre ich auf ein Bild, das ein hübsches Mädchen abbildet. Nein, es ist eigentlich nicht irgendein hübsches Mädchen. „Schneewittchen“, flüstere ich. Eindeutig. Das dunkle, fast schwarze Haar, die braunen Augen und die roten Lippen. Ich ziehe die warme Luft um mich herum scharf ein. Auch ohne Text weiß ich, was sie mir mit dieser Nachricht sagen will. Das ist das Mädchen, denke ich. Gloria ist schuld daran, dass meine beste Freundin am Boden zerstört ist. Und jetzt ist sie hier, in dem Sommer Camp, in dem ich seit zehn Jahren jeden Sommer verbringe. Und ich bin auf dem besten Wege ihr zu verfallen, so wie meine beste Freundin ihr verfallen ist. Das ist also ihr Geheimnis, denke ich. Was für ein Zufall. Ich würde es ihr gerne schreiben, würde ihr gerne sagen, dass ich Schneewittchen zur Rede stellen werde aber ich kann es nicht. Ich weiß, dass ich es nicht kann.
Ich werfe das Handy zurück in den Rucksack und strecke mich, als der Reißverschluss an meinem Zelt leise aber schnell aufgezogen wird. Schneewittchen krabbelt zu mir ins Zelt.
„Der Drache und sein Gehilfe sind überlistet“, flüstert sie und macht es sich neben mir bequem. „Wie geht es deinem Rücken?“ „Geht“, sage ich nachdenklich. Was soll ich denn jetzt bloß tun? Eben habe ich dieses Miststück doch noch gehasst und jetzt? Will ich sie nicht zur Reden stellen? Ich sehe in ihre Augen. „Was ist?“, will sie wissen. Ich antworte ihr nicht, weil ich an meinen Fluchtplan denken muss. Ich werde dieses Mädchen nie wieder sehen. Nie wieder in diese tiefen dunklen Augen sehen. Nein, ich muss sie heute Nacht nicht zur Rede stellen und ich muss sie auch nicht wegschicken. Dass ich plötzlich nicht mehr da bin, wird sie genügend verwundern, schließlich hat sie sich darauf eingestellt, sechs Wochen mit mir zu verbringen.
„Bleibst du die ganze Nacht?“, frage ich sie flüsternd. Sie nickt und legt einen Arm sanft um meine Schultern.
„Wirst du Coin heute Nacht wieder beobachten?“, will sie wissen ohne mich anzusehen. Coin beobachten. Woher zur Hölle weiß sie das. „Nein.“ „Weißt du alles, was du wissen musst?“ Ich sehe sie misstrauisch an. Woher weiß Schneewittchen das?
„Ich hab dich beobachtet, während du Coin beobachtet hast“, gibt sie zu. Sie hat mich also beobachtet. Gut, dagegen kann ich nichts tun. Sie weiß also dass ich Coin beobachtet habe. Auch gut. Dadurch weiß sie trotzdem noch nichts von meiner Flucht.
„Du willst durch den Wald oder?“ Erschrocken starre ich sie an. Was? Durch den Wald. Sie weiß es also doch. Bin ich so durchschaubar? Ich versuche mich dumm zu stellen. „Wann?“
„Morgen Nacht? Übermorgen? Ich weiß es nicht, aber du auch nicht, oder?“ Verdammt. Und jetzt? Die Wahrheit? „Du wolltest deshalb heute extra durch den Wald, damit du dir den Weg anschauen kannst. Und heute früh hast du ein paar alte Brötchen ergattert, oder so etwas in der Art. Aber du weißt nicht ob du morgen Nacht schon weg kannst mit deinem Rücken, stimmt's?“ Verblüfft sehe ich Gloria an. „Ja“, gebe ich zu. „Ja“, wiederholt Gloria nachdenklich. „Was ist mit Coin? Wie willst du an ihr vorbei?“
Ich überlege ob ich Gloria meinen ganzen Plan offenbaren soll. Sie weiß es ja sowieso schon. „Morgen werden wir eine Wanderung machen“, sage ich in der Hoffnung, dass Coin nicht schon wieder eine Programmänderung bewirkt hat, „Coin wird auch mitkommen und Elba auch. Wir werden den ganzen Tag wandern.“ „Und du bleibst hier wegen deinem Rücken?“, fragt Gloria. Ich zögere kurz. Das war nie der Plan, aber es könnte auch hilfreich sein. Ich könnte mich zumindest für die Nacht ausruhen. Aber es wäre auffällig, oder? „Nein, ich komme mit“, sage ich, weil ich mir ja auch noch eine Karte besorgen muss. „Aber Coin wird am Abend sehr müde sein.“
„Letzte Nacht hat sie bis morgens durchgehalten“, wirft Gloria ein. Das stimmt. Aber sie weiß ja nichts von meinen unfreiwilligen Helfern, von denen sie eigentlich selbst eine war. „Ja“, stimme ich zu, „Aber es gibt da so ein Kräuterzeugs mit einer beruhigenden Wirkung.“ Auf Glorias Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. „Du hast das wirklich gut durchdacht.“ Ich hatte ja auch ein ganzes Jahre zeit, denke ich mir.
„Es war gut durchdacht, ja, aber trotzdem ist der Plan nicht aufgegangen.“ „Warum?“, will sie wissen. „Weil du Wind davon bekommen hast“, antworte ich ehrlich. „Ich kann mitkommen, du kannst eine Verbündete gebrauchen“, schlägt sie vor. Ich auf der Flucht, zusammen mit Schneewittchenm als Verbündete. Es klingt gut, vielleicht zu gut. Alle Alarmglöckchen in meinem Kopf schrillen, als ich im Begriff bin erneut mit meinen Prinzipien zu brechen. Der Plan ist in der Tat gut durchdacht gewesen und er stand ohne Schneewittchen. Ich kann sie nicht mitnehmen. „Wirst du mich verraten wenn ich ohne dich gehe?“, frage ich sie. Sie schüttelt ihren Kopf.
„Warum willst du eigentlich mit?“, will ich wissen. „Ich liege viel lieber im grünen Gras“, sagt sie leicht dahin, aber ich weiß, dass sie noch einen anderen Grund hat. Nur welchen, das weiß ich nicht. Ich überlege ob ich ihr erzählen soll, dass ich hier den zehnten Sommer hinter einander verbringe, doch ich lasse es, weil ich mir nicht sicher bin, ob sie nicht auch das schon weiß.
„Ich auch“, flüstere ich jetzt und strecke meine Hand nach ihrem Kopf aus. Vorsichtig fahre ich über ihr dunkles seidiges Haar. „Es war schön am Teich“, sage ich und sehe sie erwartungsvoll an. „Ich weiß.“ Seufzend drehe ich mich auf die Seite. Ich spüre ein unangenehmes Ziehen in meinem Rücken. Verfluchtes Sommer Camp. Ich freue mich auf die restlichen Wochen. Ohne Sommer Camp. Aber mit Schneewittchen? Ich muss mich entscheiden. Oder? Oder Gloria als Verbündete anerkennen.
„Willst du immer noch mitkommen?“, frage ich langsam. Sie nickt. „Ich passe auf dich auf, das weißt du doch.“ „Gut. Wir brechen morgen Nacht auf. Um zwölf Uhr sind wir schon im Wald. Coin wird schlafen wie ein Murmeltier“, erkläre ich Gloria, sie muss ja nicht wissen, dass ich ihr so viele Tropfen geben werde, dass sie bewusstlos sein wird.
„In Ordnung. Hast du alles, was du brauchst?“ „Nein“, ich schüttele meinen Kopf. „Ich brauche noch eine Landkarte, die will ich mir morgen von Elba besorgen. Während der Wanderung werden wir eine Chance haben.“ Gloria nickt einverstanden. „Dann sollten wir jetzt schlafen, damit wir morgen ausgeruht sind“, sagt sie und rückt näher zu mir. Dann schlingt sie vorsichtig ihre Arme um mich. Ohne viel nachzudenken gebe ich mich ihrer Umarmung hin und kuschele mich an ihren Körper. Ich schaffe es wirklich besser zu schlafen als erwartet. Glorias Nähe beruhigt mich. Ich bin froh, dass sie mit mir kommen wird.

~Fliehen~

Am Morgen werde ich von lärmenden Mädchen geweckt. Schneewittchen liegt noch immer neben mir, aber sie ist schon wach. Ihre Augen mustern mich intensiv. „Ausgeschlafen?“ Ich nicke und befreie mich aus ihren Armen. Nach dem Frühstück sammeln wir alle Reste ein, die an Essen übrig sind. Dann gehe ich zu Maya, um sie nach ihren Kräutertropfen zu fragen. Weil ich nicht gut schauspielern kann, gebe ich kurzerhand vor, dass Gloria unter fürchterlichem Heimweh leidet. Weil sie so blass ist und sie ihr Gesicht auch noch weh leidig verzieht, als ich auf sie zeige, glaubt Maya mir ohne mit der Wimper zu zucken. „Hier, nimm das Fläschchen, aber nur sehr wenige Tropfen, okay?“ Ich nicke und nehme das Fläschchen mit.
„Jetzt brauchen wir nur noch die Karte.“ Schneewittchen nickt. „Die besorge ich. Du musst nur so tun, als hättest du schreckliche Rückenschmerzen. Und sieh zu, dass Elba bei dir ist.“ Ich bin einverstanden und im Endeffekt heilfroh, eine Verbündete zu haben.
Ich muss während der Wanderung noch nicht einmal so tun als hätte ich Rückenschmerzen. Ich habe wirklich welche. Schon die ganze Zeit. Seit wir den steilen Weg eines Berges hinauf stapfen. Zunächst laufen Gloria und ich zusammen am Rand der Gruppe. Hinter uns sind nur noch Linda und Keira. Wir reden wenig. Als wir eine Pause einlegen, gebe ich Gloria das Zeichen, dass unser Plan beginnt. Ich werfe mich mitten ins Getümmel und klage ächzend über Rückenschmerzen. Es wirkt und die Betreuerinnen scharen sich um mich. Alle außer Coin. Verdammt, denke ich. Sie steht bei den Rucksäcken. Sie nimmt ihre Aufgabe wirklich zu ernst. Ich kann nicht warten bis sie sich hierher bewegt. Schneewittchen muss so irgendwie an die Karte kommen. Ich weiß, dass es eigentlich unmöglich ist. Ich ziehe die Show mit meinem Rücken so lange hin, wie nur möglich und als sich die Schar um mich auflöst hoffe ich, dass sie die Karte hat. Ich kann sie nirgendwo sehen. Erst als wir weiter wandern entdecke ich sie wieder am Rand der Gruppe und geselle mich zu ihr. Ich werfe einen Blick über meine Schulter. Keira und Linda sind dicht hinter uns. Es ist zu gefährlich Gloria jetzt nach der Karte zu fragen. „Hast du Wasser?“, frage ich sie stattdessen und hoffe, dass sie den versteckten Hinweis versteht. Tut sie wirklich. Sie nickt.
„Oh ich glaube ich habe eine Nachricht bekommen“, sagt sie dann und tippt auf ihrem Handy herum. Blitzschnell zeigt sie mir das Display, welches ich verwundert anstarre. Dann verstehe ich. Sie hat ein Foto von der Karte gemacht. „Wie?“, frage ich als sie das Handy wieder weggepackt hat. „Coin hat es mir gegeben, damit ich einen Schluck trinken kann“, sagt Schneewittchen lächelnd. Wir gehen weiter. Als wir völlig verschwitzt auf dem Berg angekommen sind, werden wir von einem sagenhaften Ausblick belohnt. Hinter dem Waldrand sieht man ein dünnes graues Band, das sich durch die Landschaft schlängelt. Da will ich hin.
„Sieh nur wie schön die Vögel da hinten über den Waldrand fliegen“, sage ich und deute in die Richtung der Straße. Gloria sieht mich grinsend an. Sie hat verstanden. Das ist unser Ziel. Zunächst. „Und wo fliegen sie dann hin?“, will sie wissen. Ich zucke die Achseln. „Irgendwohin wo es ihnen gefällt.“ „Ich glaube sie mögen grüne Wiesen. Sie kennen die schönsten“, meint Schneewittchen. Ich sehe das Funkeln in ihren Augen. Sie hat eine Idee wo wir hin können.
Am Abend sind wir alle völlig erledigt, so wie ich es voraus gesagt habe. Allerdings hatte ich nicht einkalkuliert, dass ich selbst so fertig sein werde. Ich gebe Rückenschmerzen vor und verkrieche mich in meinem Zelt statt etwas zu Abend zu essen. Nach dem Abendbrot wird es schnell ruhig auf dem Zeltplatz. Alle sind müde und wollen schlafen. Nur Eine scheint wacher denn je zu sein.
Gloria schleicht sich leise in mein Zelt. Sie hat mir etwas zu Essen mitgebracht.
„Danke“, sage ich und schlinge den pappigen Reis und die geschmacklose Soße hinunter.
„Es ist schon acht Uhr“, sagt Gloria. „Wir sollten Coin allmählich die Tropfen in den Tee schütten, bevor sie ihre Tasse nicht mehr unbeaufsichtigt lässt.“ Das stimmt aber ich fühle mich viel zu müde um aufzustehen. „Wenn du mir die Tropfen gibst, kann ich es machen.“ „Nein“, sage ich schnell und setze mich auf. „Du kennst die richtige Dosierung nicht.“ „Stimmt,aber zumindest würde ich ihr nicht extra zu viele Tropfen geben“, sagt Schneewittchen. Ich sehe sie schon gar nicht mehr verwundert an. Sie ist einfach zu schlau für mich. Ich gebe ihr die Tropfen und sage, dass ich hier warten werde. Ich bekomme nicht mit, wie sie wieder kommt. Als ich die Augen wieder öffne, liegt sie bereits neben mir. Ihre Augen sind geschlossen, aber ihr Körper wirkt so angespannt, dass ich nicht glaube, dass sie schläft. Kaum dass ich mich bewege um auf meine Uhr zu sehen ist sie wirklich wieder hellwach. Sie kommt mir vor wie ein nachtaktives Tier.
„Es ist elf“, sage ich nach einem Blick auf mein Handydisplay.
„Wir sollten unsere Sachen zusammenpacken, Coin schläft sicher tief und fest.“
„Was ist wenn Elba zufällig vorbei gekommen ist?“, fällt mir plötzlich ein. „Keine Sorge, da draußen hat sich seit Stunden nichts gerührt.“ Erleichtert seufze ich. Als wie beide unsere Rucksäcke mit dem vollgestopft haben, was wir brauchen sind wir soweit. Wir haben genügend Proviant, eine Landkarte, und ein paar Klamotten zum Wechseln.
„Los geht’s“, sagt Gloria und zurrt vorsichtig den Reißverschluss auf. Sie wirft sicherheitshalber einen Blick in alle Richtungen, aber wie gesagt rührt sich nichts. Die Mädchen in ihren Zelten schlafen tief und fest, genauso wie die Betreuerinnen, inklusive der Nachtwache, die wahrscheinlich sogar bewusstlos ist. Nur in Elbas Zelt brennt noch Licht. Entweder sie ist beim Lesen eingeschlafen oder aber sie ist wirklich noch wach. Ich beschließe dass wir uns in beiden Fällen lieber beeilen sollten und dränge Gloria in Richtung Wald. Bis wir in den Schatten der Bäume versinken, schleichen wir auf Zehenspitzen, dann beginnen wir ein ganzes Stück durch den Wald zu rennen. Ich spüre wie meine Seiten zu pochen beginnen und ich langsam keine Luft mehr bekomme. Wir verlangsamen unser Tempo und verfallen in einen flotten Laufschritt. Als wir längst in einer Gegend angekommen sind, die wir nicht mehr kennen gönnen wir uns eine kurze Pause. Unsere Gesichter sind rot und geschwitzt. Ich lehne mich erschöpft an einen Baum, um wieder zu Atem zu kommen. Gloria sieht sich das Foto der Karte an. „Es ist noch ein ganzes Stück durch den Wald“, sagt sie, indem sie das Handy wieder wegpackt.
Gerade als wir uns zum Weitergehen aufrappeln hören wir leise zwölf Glockenschläge aus der Ferne zu uns klingen. „Zwölf“, sage ich als kein Schlag mehr zu uns dringt. „Geisterstunde“, erwidert Gloria grinsend. „Was meinst du mit Geisterstunde?“, will ich wissen, während wir weitergehen. Sie denkt kurz nach. „Am Waldrand hinter unserem Dorf gibt es einen alten verlassenen Friedhof“, beginnt sie dann zu erzählen, „Die Leute bei uns erzählen sich, dass es zu Mitternacht dort spukt. Erst wenn die Kirchturmglocke Eins schlägt, ist der Spuk vorbei.“
„Und was passiert während der Geisterstunde?“ „Das ist unterschiedlich“, sagt Schneewittchen. „Was die Leute am häufigsten erzählen ist, dass sich die Gräber öffnen.“ „Zombies?“, will ich wissen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, die Gräber öffnen sich und der Weg in die Welt der Toten ist frei. Sie kommen nicht hoch, das können sie nicht. Aber wir können runter. Wer es bis Ein Uhr schafft wieder oben zu sein und weit genug vom Friedhof weg ist, der hat Glück, wer allerdings noch unten ist, wenn es Eins schlägt, der muss für immer dort bleiben.“
„Warst du schon mal da? Zur Geisterstunde?“, frage ich sie neugierig. „Nein. Ich möchte nicht zu den Toten, noch nicht.“ „Und was sind die anderen Geschichten die man sich erzählt?“ „Eine weitere ist, dass die Toten, die sehr vermisst werden, um Mitternacht am Flussufer anlegen. Dann haben Freunde und Verwandte eine Stunde Zeit die Verstorbenen zu sehen“, erzählt Gloria.
„Und?“ Sie schüttelt lächelnd ihren Kopf. „Ich vermisse wohl niemanden genug, jedenfalls habe ich noch nie ein Geisterschiff um Mitternacht anlegen sehen.“ Wir laufen ein Stück schweigend.
„Willst du die unheimlichste Geschichte hören?“, fragt sie mich dann. Ich nicke, weil ich sie einfach reden hören will. „Ein verwirrter Bauer, der seinen Hof und seine Frau verloren hat, erzählt, dass er einmal zur Geisterstunde an den Feldern rund um den Friedhof vorbeigekommen ist. Just in dem Moment, als die Uhr vom Dorf her Zwölf schlug, sollen die Strohballen zum Leben erwacht sein. Sie haben sich in Vogelscheuchen verwandelt und ihn bis ins Dorf verfolgt.“
„Er lebt noch?“ „Ja. Die Geschichte erzählt er ständig. Verrückt, oder?“ Ich nicke. „Er hat zu oft den Zauberer von Oz gelesen“, sage ich dann nachdenklich. Schneewittchen lacht. Wir gehen weiter schweigend.

~Das Ende~

Als der Morgen dämmert erreichen wir die ersehnte Straße. Ohne von Geistern oder lebenden Toten überfallen worden zu sein. „Und jetzt?“, fragt Gloria gähnend. Ich weiß es nicht. Ich hatte nicht gedacht, dass wir die Straße wirklich erreichen. „Suchen wir eine Bushaltestelle“, schlage ich vor. Gloria überfliegt mit den Augen die abfotografierte Karte. „Hier gibt es keine Bushaltestelle“, stellt sie fest und zeigt mir die Karte. Sie hat recht. Der Straße zu folgen hat auch keinen Sinn. Gehen wir rechts, kommen wir früher oder später auf die Bundesstraße, die direkt am Camp vorbei führt. Das wäre äußerst unklug. Links zu gehen auch, obwohl wir nach einem guten Tag zu Fuß sogar ein Dorf erreichen würden. Vielleicht das, aus dem wir die Kirchturmglocken gehört haben. Aber die Gefahr, dass die Polizei uns findet, wäre zu groß.
Ich zeige auf den Wald gegenüber. Gloria nickt. Wir überqueren die Straße und gehen ein Stück durch den Wald. Sicherheitshalber gehen wir querfeldein und nicht auf Wegen. Als die Sonne komplett aufgegangen ist beschließen wir eine Frühstückspause einzulegen. Wir setzen uns auf einen Baumstamm und essen und trinken. Ich würde am liebsten für immer sitzen bleiben, vor allem als Schneewittchen nach meiner Hand greift und sie fest hält. Aber ich weiß dass wir weiter müssen. Trotzdem verharren wir noch eine Weile Händchenhaltend. Jetzt gehen wir nicht mehr so schnell. Immerhin befinden wir uns mitten im Wald. Hier findet uns die Polizei so schnell nicht, außer vielleicht mit Hubschraubern. Wann immer Gloria ein Blümchen entdeckt, das der Hitze getrotzt hat, pflückt sie es ab und webt es in ihren Blumenkranz ein. Als wir unsere zweite Pause machen ist ihr Kranz komplett. Behutsam legt sie ihn auf meinen Kopf. „Deine Krone Cinderella“, sagt sie und mustert mich lächelnd. Nach einer ausgiebigen Pause gehen wir weiter. Ich bin hundemüde und ich glaube Gloria geht es nicht anders. Trotzdem laufen wir tapfer weiter. Es muss schon später Nachmittag sein, als ich ein beunruhigendes Grollen in der Ferne höre. Ich bleibe abrupt stehen und lausche in den Wald hinein. „Hast du das gehört?“, frage ich Gloria, die mich verwundert ansieht. „Nein, was?“ Ich antworte nicht, sondern konzentriere mich auf meine Umgebung. Da. Jetzt höre ich es ganz deutlich. „Donner“, murmele ich. Gloria sieht in den Himmeln. „Du denkst es kommt ein Gewitter? Der Himmel ist aber noch klar.“ „Das kann sich schnell ändern“, gebe ich zu bedenken und bin dafür, dass wir schneller gehen. Vielleicht schaffen wir es noch aus dem Wald, bevor das Gewitter losbricht. Oder wir schaffen es zumindest einen Unterschlupf zu finden. Zirka eine Stunde gehen wir noch ohne dass etwas geschieht, dann spüre ich den ersten Regentropfen auf meiner Nase. „Regen“, sage ich. Wir bleiben stehen und sehen wartend in den Himmel, bis wir den nächsten Tropfen abbekommen und den nächsten und den nächsten. Der Regen ist erfrischend aber als direkt über uns ein Donnergrollen ertönt, rennen wir gleichzeitig los. Schlagen uns durch das Gestrüpp, in der Hoffnung das Ende des Waldes schnell zu erreichen, aber es ist sinnlos. Da ist kein Ende in Sicht. Ich halte Gloria schnaufend zurück. Mittlerweile sind wir vom Regen durchnässt. Um uns herum grollt der Donner immer lauter und bedrohlicher und dann sehe ich den ersten Blitz vom Himmel zucken. Ganz dicht bei uns. Ich spüre wie mir mein Herz in die Hose rutscht. Schneewittchen scheint sich besser unter Kontrolle zu haben. Sie sieht sich aufmerksam mit zusammen gekniffenen Augen im Wald um. „Komm mit“, befielt sie mir dann und ich folge ihr blind. Als sie plötzlich stehen bleibt renne ich in sie hinein. Verwundert hebe ich meinen Kopf und sehe das kleine Jagdhäuschen vor uns. Gloria geht zur Tür, sie ist nicht abgeschlossen. Zusammen drängen wir uns in das winzige Häuschen, das wahrscheinlich schon einmal bessere Tage gesehen hat. Das Dach ist undicht und der Boden bereits nass, als wir hinein stolpern. Aber es ist egal, wir haben ein Dach über dem Kopf. Schneewittchen lässt sich auf den Boden fallen und ich tue es ihr gleich. Ich schmiege mich an sie. Mein Blick ist an die Decke gerichtet, durch die ich die Blitze wild vom Himmel zucken sehe. Da wir sowieso schon nass sind machen uns die Löcher nichts aus. Zunächst ist es auch noch angenehm und schön. Irgendwie romantisch. Ich liege in Glorias Armen, ganz dicht bei ihr, sodass ich ihren warmen Atem auf meiner Haut spüre. Es ist schön. Unbeschreiblich schön. Sie streicht mir sanft mit der Hand über die Wange und dann passiert es. Sie beugt sich vor bis unsere Gesicht nur noch durch Millimeter getrennt sind. Unsere Lippen berühren sich, ganz sanft und warm. Ich schmecke ihre weichen roten Lippen und will nie wieder weg von hier. Vor allem will ich sie nie wieder loslassen. Irgendwann trennen sich unsere Lippen aber doch wieder.
„Es ist schön“, flüstert Gloria und sieht in den Himmel. „Du bist schön“, verbessere ich sie lächelnd. Sie zieht mich enger an sich und so verharren wie eine Stunde, zwei. Vielleicht auch noch länger. Es regnet immer noch. Der Donner ist leiser geworden aber die Blitze erhellen den Himmel weiter hin. Aber der Regen hat noch etwas bewirkt. Etwas, worüber die Mädchen im Camp dankbar sein werden. Er hat die Luft abgekühlt, sodass wir, durchnässt wie wir sind, allmählich zu frieren beginnen. Wir umschlingen uns enger und versuchen zu schlafen. Es scheint mir zu gelingen, denn als ich meine Augen wieder öffne, ist es hell und daran sind nicht die Blitze schuld. Das Gewitter hat sich verzogen, aber der Himmel ist noch bewölkt. Mir ist kalt und ich will endlich weiter gehen. Die Polizei sucht schon nach uns, das weiß ich sicher. Ich wecke Gloria und wir schultern unsere Rucksäcke um weiter zu marschieren. Es ist lustig, wir erreichen innerhalb einer halben Stunde den Waldrand. Hätten wir das gestern gewusst, hätte es uns eine Menge Angst erspart. Durchnässt wie wir sind gehen wir jetzt doch an der Straße entlang, in der Hoffnung einen Bus zu sehen. Der Asphalt ist längst wieder getrocknet und wir so müde und fertig, dass wir immer langsamer werden. Und unvorsichtiger. Keiner von uns beiden achtet mehr auf unsere Umgebung. Als der Streifenwagen ein Stück vor uns am Waldrand parkt, ist es zu spät. Wir laufen direkt in die Arme der Beamten, die uns schon sehnsüchtig erwarten. Keiner von leistet Widerstand, wir sind froh endlich nicht mehr laufen zu müssen. Außerdem machen die Polizisten die Heizung im Wagen an. Ich lehne mich an Gloria und lege meinen Kopf auf ihre Schulter. Meine Augen fallen zu und ich spüre nur noch den Hauch eines Kusses auf meinen Lippen, dann schlafe ich.
Als wir das nächste Polizeipräsidium erreichen, wache ich wieder auf. Es ist höchstens eine halbe Stunde vergangen. Wir werden in das Gebäude geschickt, jeder von uns in einen anderen Raum. Ich warte auf ein Verhör oder Ähnliches. Aber natürlich gibt es kein Verhör. Ich warte und warte, bis meine Eltern den Raum betreten und mich mit nachhause nehmen. Gloria bekomme ich nicht mehr zu Gesicht. Alles was mir bleibt ist unser letzter Kuss.


© GirlLulu


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