Noch einmal zupfte Hartmut von Heidingsfeld seine Fliege zurecht. Ein wenig stolz war er, das ließ sich nicht leugnen. Nichts außer seinem Namen war in seinem Leben je dazu angetan gewesen, aristokratisch zu wirken, am wenigsten er selbst, so sehr er sich auch darum bemühen mochte. Wenn, ja, wenn seine Vorväter doch damals vor dem Krieg nicht aufs falsche Pferd gesetzt hätten! Dann bräuchte ihn sein Aussehen derzeit nicht scheren.
Doch so war da sein leicht herabhängendes rechtes Auge, das seinem Gesicht stets das Aussehen eines vorzeitig aus der Reha entlassenen Schlaganfall-Patienten verlieh. Zudem seine Nase.
Prüfend blickte Hartmut in den Spiegel.
Der Smoking saß, als wäre er eigens für ihn gefertigt. Selbst der Schmerbauch schien irgendwie kleiner. Die Fliege war gebunden, als seien ihm die Handgriffe hierfür in die Wiege gelegt, obschon er sich nicht erinnern konnte, je zuvor eine getragen zu haben. Zu welchem Anlass auch?
Dieser Abend war jedoch etwas Besonderes. Wie lange er darauf gewartet hatte!
Ein wehmütiger Blick, ein kurzer Griff ins pomadisierte Haar, dann wandte Hartmut von Heidingsfeld sich um, trat hinaus auf den Korridor des Principe-di-Savoia-Hotels und zog die Tür der Ambassador Suite sanft ins Schloss.
Draußen besetzte der Nieselregen Hartmuts Haar mit glitzernden Diamanten. Das Licht der Laternen spiegelte sich auf den regennassen Mailänder Straßen. Hartmuts Hand glitt in die Umhängetasche.
Er konnte sie fühlen.
Sie war noch da. Gut.
Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass ihm genügend Zeit bliebe.
Hartmut bemühte sich, seinen Schritt zu verlangsamen. Begann, seine Umgebung wahrzunehmen.
Er hatte es tatsächlich getan.
Einen Augenblick lang drohten die fremden Häuser ihn zu verschlucken. Hartmut straffte sich.
Mailand.
Endlich.
Er schlug den Kragen seines Kamelhaarmantels hoch. All die Jahre! Beinahe spürte er ein Gefühl von Zuversicht in sich aufsteigen.
Er mochte nur ein einfacher Konfektionär sein, aber sein Versprechen würde er halten! Auf Hartmut von Heidingsfeld war Verlass.
Eine jener alten, gelben Straßenbahnen fuhr vorbei. Strom knisterte in den Oberleitungen. Ein nachfolgendes Taxi wirbelte Wasser auf. Hartmut hatte das Gefühl, als wandle er durch eine Traumwelt. Genau, wie sie es immer gesagt hatte.
Ein weitläufiger Platz tat sich vor ihm auf. In seiner Mitte thronte ein bärtiger Leonardo. Trotz des ernsten Gesichtsausdrucks wähnte Hartmut etwas Begütigendes in der Figur des Renaissance-Fürsten auszumachen.
Das Bauwerk hinter der Statue entstieg einer mythenumwobenen Zeit. Ihm stockte der Atem. Da lag es. Sein Ziel. Die Scala.
Ein kurzer Griff in die Umhängetasche.
Nein, niemand würde etwas bemerken. Der Zwischenboden aus Stoff, den er eingenäht hatte, erfüllte seinen Zweck.
Während er über die Piazza della Scala schritt, sog er den Geist der Vergangenheit ein. Die Brüder ferner Epochen breiteten schützend ihre Arme über ihn. Ein Feuer loderte lindernd in seinem Magen. Dieses eine Mal war das Gefühl von Geborgenheit stärker als die Sehnsucht.
Festen Schrittes näherte er sich den drei Bögen, die den Eingangsbereich überschirmten.
Vor den Pforten der Scala standen befrackte Herren und unter Parapluie verborgene Damen in Abendkleidern.
Hartmut drückte die Brust heraus und zog unwillkürlich den Bauch ein. Die Blicke verursachten ihm körperliche Pein.
Woran machten sie fest, dass er keiner der ihren war?
Die fernen Brüder wandten sich ab. Binnen eines Moments kam Hartmut sich erneut verkleidet und verletzlich vor. Eine Schwäche überkam ihn, dass er versucht war, umzudrehen und davonzulaufen.
Dann sah er sie.
Selina.
Die Lachfältchen um ihre Sternenaugen. Wie Balsam troff ihr Blick auf seine wunde Seele.
Nein. Er würde es tun. Musste es tun. Die Angelegenheit war mehr als nur der Vorsatz eines alternden Konfektionärs. Wie sollte er jemals wieder in den Spiegel blicken, wenn er jetzt kniff?
Eine Grimasse verzog sein Gesicht. Kleider machten nicht nur Leute, es ließ sich auch gut hinter ihnen verstecken.
Hartmut verschmolz mit seinem Smoking. Mit einem Mal prallten die aufdringlichen Blicke an seiner schwarzseidenen Außenhülle ab. Die Pfeile drangen nicht mehr auf seine Haut. Er stellte sich hinter eine Gruppe gackernder Roben und wartete.
Liebevoll zog er die beiden Billets hervor.
Loge 18.
Seine Finger befühlten die Ziffern. Die besten Plätze im ganzen Haus.
Mochten die ringsumher noch so arrogant auftreten, diese Plätze waren heute Abend sein. Ein Lächeln stahl sich auf sein Antlitz. Bisweilen kam es eben nicht darauf an, wer man war, sondern im rechten Augenblick zu handeln. Von Zeit zu Zeit erwies es sich zudem als hilfreich, die richtigen Menschen zu kennen. Hartmut richtete seine Freude nach innen, wusste er doch, dass Selina sie ihrerseits als Arroganz auslegen würde. Dieserart brächte er es fertig, sich ihren Unwillen zuzuziehen. Doch nicht heute!
Nachdenklich betrachtete der schnauzbärtige Türsteher Hartmuts Ticket, entfernte dann aber ohne weitere Gemütsregung den Abriss. Hartmut ließ sich von der Menge vorantreiben. Ein Gewirr von tausenden Stimmen erfüllte das Foyer.
Ihm stockte der Atem. Diese Pracht! Sein Blick strich über die strahlende Servicekraft hinter der Bar, wanderte über den mit Halbsäulen ornamentierten Tresen und verhakte sich schließlich in funkelnden Lüstern. Dieser Ort stand weit jenseits der Welt.
Champagner! Wenn nicht heute, wann dann?
Er trat an die Bar.
Das prickelnde Gefühl in seiner Kehle versetzte Hartmut in Hochstimmung. Diese Welt könnte ihm gefallen, keine Frage. Er stellte das Glas auf der marmornen Tresenfläche ab und zog seine Umhängetasche fester an sich.
Selinas schwarzbraune Sternaugen musterten ihn schweigend. Hartmut vermeinte ein Aufblitzen von Heiterkeit in ihnen auszumachen.
Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen fressen!
Unvermittelt wurde Hartmut unsanft zur Seite gestoßen. Champagner ergoss sich über seine Manschetten. Um nicht zu fallen, hielt er sich an der Bar fest. Kälte schoss ihm ins Rückenmark. Selbst Selinas Gelöstheit verblasste. Energisch wandte er sich um. Die breiten Schultern des Hünen im weißen Smoking erbebten vor Lachen. Er schien keinerlei Notiz von ihm zu nehmen.
Hartmut hob den Arm, um dem Fremden auf die Schulter zu tippen. Er war nicht gewillt, diese Unverfrorenheit unkommentiert hinzunehmen.
Da fing er den Blick der Gefährtin des Hünen auf. Er vermochte nicht zu sagen, was es war – womöglich ein Hauch von Verletzlichkeit – doch hielt er verlegen inne, griff zu einer Serviette auf dem Tresen und trocknete sein feuchtes Handgelenk. Dann trat er den Rückzug an.
Binnen eines Lidschlags war er wieder der zartbesaitete Junge auf dem Schulhof. Bebrillter Prellbock fünfzehnjähriger Halbstarker. Er spürte die Wärme von Selinas Hand auf der Narbe am Steiß. Sie war die einzige, mit der er über seine Seelenqualen sprach.
Lange hatte er gebraucht, bis ein Mann aus ihm geworden war.
In Momenten wie diesem fragte er sich, ob dies überhaupt je geschehen war. War er nicht noch immer der heimliche Rilke-Leser, der über Umwege nach Hause schlich?
Mit einem Mal schmeckte der Champagner schal. Der Glanz der Lüster verflüchtigte sich.
Hartmut fingerte nach dem Zwischenboden in der Umhängetasche. Die Kühle erwies sich als beruhigend.
Hinter einer Säule entdeckte er einen Zufluchtsort. Selinas Anwesenheit schien hier stärker. Ungetrübt von Smokings und Abendkleidern.
Warum ihr dergleichen wohl so viel bedeutete?
Eine Glocke erklang. Sie bedeutete den Gästen, sich in den Zuschauerraum zu begeben. Hartmut umfasste die Tasche mit festem Griff und wandte sich dem Eingang zu, der ihn zu Loge 18 zu bringen versprach.
Der Saal empfing ihn mit dem schwülwarmen Atem des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Welch eine Pracht! Die Gewissheit einer glorreichen Zukunft durchtränkte den blutroten Damast. Ehrfurchtgebietend türmten sich Ränge und Logen. Ein Sammet-Vorhang duldete keinen unzeitigen Blick auf die Bühne.
Hartmut von Heidingsfeld ließ sich von festlich gewandeten Milanesen und eigens für diesen Abend angereisten Weltenbummlern voranschieben, gab jegliche Gegenwehr auf. Einzig die Tasche hielt er so fest umklammert, als hinge sein Leben davon ab. Das Parkett glich einem wuselnden Ameisenhaufen. Allenthalben vernahm Hartmut ein Scusi, Pardon oder Excusez-moi, gelegentlich ein gemurmeltes Verzeihung.
Endlich erreichte er Loge 18.
Ein Seufzer der Erleichterung entschlüpfte seiner Brust, als er seinen Sitzplatz eingenommen hatte. Die Tasche stellte er auf den freien Platz zu seiner Rechten. Er mochte niemanden verwirren.
Als Hartmut allmählich zur Ruhe kam, schloss sich ein finsterer Griff um seine Eingeweide. Hier war er nun.
Wie er es vor so langer Zeit versprochen hatte. Was aber geschah danach?

Bis heute drückte ihn der Geruch des Blauregens nieder. Eine elysische Melange. Üppigkeit gepaart mit Schwaden vorzeitigen Verfalls. Im Lichte jener Abenddämmerung verlor sich die unbefahrene Landstraße nach Wasserzell. Die laue Mai-Luft schluckte den Hall ihrer Schritte. Wie viele Menschen diesen Weg wohl vor ihnen gegangen waren? Nichts hatten sie hinterlassen. Unverändert führte der Weg ins belanglose Wasserzell. Selinas Hand ruhte in der seinen. Beinahe schwerelos. Als wäre sie bereits gegangen.

Pardon! Das genäselte Wort ließ ihn auffahren. Unwillkürlich drückte er seine Beine beiseite, um das Pärchen vorüberzulassen. Ein pikierter Blick auf den Platz, auf dem nichts als die schwarze Ledertasche stand.
Hartmut von Heidingsfeld sank tiefer in die schweren Polster seines Sitzes. Vereinzelte Klänge drangen aus dem Orchestergraben zu ihm. Musiker unternahmen die letzte Feinstimmung ihrer Instrumente.

Ein Lächeln umspielte Selinas Lippen. Es waren die betörenden Klänge der Violine, die stets ein Funkeln in ihre Sternaugen zauberten.

Nervös sah Hartmut auf die Armbanduhr, dann auf die Tasche. Bewusst hatte er an den Gang grenzende Plätze gewählt.
Zu seiner Rechten und hinter ihm hatten sich die Reihen gefüllt. Er schob den Gedanken beiseite, dass das Getuschel ihm gelten könne. Er hatte dafür bezahlt. Der Rest war seine eigene Angelegenheit.
Seine Hand strich über den Rand der Billets. Ein haarfeiner Schnitt ritzte ihm die Fingerkuppe auf. Das Brennen kam ihm gelegen. Er dachte an den kleinen Jungen, der er einst gewesen war. Die Zeiten der Heimlichkeit waren vergangen.
Mit einem Mal erloschen die Lichter im Saal. Mit ihnen erstarb das Gewisper. Der Sammet-Vorhang wurde beiseite gezogen und gab den Blick auf die Bühne frei. Das Orchester setzte ein und binnen Sekunden füllte eine beseelte Ouvertüre den Raum.
Hartmuts Fingerkuppen pochten, als er die Riemen der Ledertasche löste. Seine Hand glitt zu dem Zwischenboden hinab und löste die eigens zu diesem Zwecke ersonnenen Ösen.
Er griff hinein.
Das vergoldete Metall sandte Schauer frostiger Erregung durch seinen Leib.
Rasch blickte er sich um. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer war auf die Bühne gerichtet.
Behutsam entnahm er der Tasche das Behältnis und bettete es auf das Polster neben sich. Niemand nahm von Hartmut von Heidingsfeld Notiz. In diesem einen Augenblick war er froh darum.
Ein Teil der Anspannung fiel von ihm ab. Seit er zu Hause die Tür hinter sich verriegelt und die Nachbarn gebeten hatte, Muck, den Kater, zu versorgen, war sie sein ständiger Begleiter gewesen. Dass er es tatsächlich bis hierher geschafft hatte, erschien ihm wahnwitzig. Niemand außer Selina hätte ihn je dazu zu bringen vermocht.
Drei Jahre lag jener nächtliche Spaziergang nach Wasserzell nun zurück. Damals war Hartmuts Welt noch voll von Zuversicht gewesen.
Es hatte einer geraumen Weile bedurft, bis er sich im Stande sah, Selinas Wunsch zu erfüllen. Sein Lebtag hatte Hartmut von Heidingsfeld sich niemals Geboten des Rechts und der Sittlichkeit widersetzt. Indem er dies täte – das schien ihm über jeden Zweifel erhaben – verhülfe er üblen Mächten dazu, die Oberhand an sich zu reißen. Mächten, die Rilke-Lesern auf dem Nachhauseweg auflauerten.
Nichtsdestoweniger saß er in diesem Augenblick hier.
Hartmut lehnte sich zurück und nippte an dem Gefühl.
Wie viel Zeit war vergangen, seit er dieserart von Selina erfüllt gewesen war?
Wochen? Monate? Jahre gar? Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er um den Preis des eigenen Lebens geschworen, dies könne niemals geschehen. Schon ein Tag ohne Selinas Antlitz war ihm als unvorstellbare Qual erschienen.

Unterjochte Hebräer beklagten indessen auf der Bühne das Leid, das sie im Kampf gegen das Heer Nabuccos, Königs der Babylonier, zu erdulden hatten.
Hartmut mühte sich, dem Geschehen in Jerusalem zu folgen. Verdis Musik war dazu angetan, ihn ab und an hinfort zu tragen.
Gen Ende des ersten Aktes bemächtigte eine wachsende Unruhe sich seiner.
Bald! Ja, bald!
An die hundert Mal musste Hartmut von Heidingsfeld die Arie der Abigaille in seiner kleinen Dachstube in Ansbach wohl gehört haben.

Anch'io dischiuso un giorno.
Keine Oper mutete ihm trefflicher an – dieser Arie wegen.
Eines Tages öffnete auch ich mein Herz.

Der Vorhang fiel.
Binnen eines Lidschlages stünden sie in Babylonien und Abigaille würde ihren Part anstimmen.

Die Tochter des Nabucco trat auf die Bühne.
Ein Zittern durchlief Hartmuts zum Zerreißen gespannten Körper.
Ausharren, nur ein wenig noch.
Der Magen drohte sich ihm umzustülpen.
Das Tenuto, so hatte er es auserkoren, das Tenuto hatte es zu sein.
Oh Selina!
Die Stelle nahte, die Arie eilte ihrem Höhepunkt entgegen.
Hartmut zwang sich, ruhig sitzen zu bleiben.
Einen Augenblick zu früh und alles wäre verdorben!

Dann kam er – der Moment.
Abigaille setzte zum Tenuto an. Scharf wie ein Diamant durchschnitt die Stimme den Saal. Der Ton hielt.
Dem Publikum stockte der Atem.
Hartmut sprang auf und warf sich über die Brüstung.
Mit einer blitzartigen Bewegung zerschlug er die Urne.

„Frei, Selina, sei frei, Geliebte!“ schrie er, ehe eine Hand ihn von hinten ergriff und zu Boden riss.
Das letzte, was Hartmut sah, war die Verwunderung im Blick der Gefährtin des Hünen, nur wenige Reihen entfernt.
Oder war es Hoffnung?

Köln, 05. Februar 2013
www.elyseoswelt.de


© Elyseo da Silva


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Beschreibung des Autors zu "Selina"

Eine Reizwortgeschichte zu den Worten: Scala, tenuto, Konfektionär - Danke dafür, lieber Duden...!

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