Wenn er die Augen schließt, kann er sie noch immer sehen:

Da steht sie. Gerade mal sechs Jahre alt, mit ihren langen blonden Zöpfen und dem roten Kleid, dass sie so gern trägt und welches er so gern an ihr sieht. Verträumt, eine Hand fast liebevoll an den schmiedeeisernen Zaun gelegt, sieht sie in den Vorgarten mit den alten knorrigen Bäumen und auf das große verwinkelte Haus. "Wenn ich groß bin, möchte ich da drin wohnen!" sagt sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Er greift nach ihrer Hand und verspricht feierlich: "Dann werde ich es dir kaufen!"

Wie glücklich sie ihn damals angesehen hat, kurz bevor sie ihm einen ersten vorsichtigen Kuss auf die Wange gehaucht hat...
Als sie zehn Jahre später wieder Hand in Hand vor dem Haus standen, trug sie ein elegantes Kleid aus schimmernder türkisfarbener Seide, das ihre grün-blauen Augen wunderbar betonte. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt, doch im laufe des Abends hatten sich einige Strähnen gelöst und umspielten ihr Gesicht im leichten Abendwind. Fast kann er die leichte Briese wieder spüren, die ihren zarten Duft zu ihm herüber getragen hatte:

'Sie riecht nach Sommer' denkt er gerade, als sie ihn sanft anstößt. "Unser Haus!" sagt sie schwärmerisch. "Es ist gerade verkauft worden. Im Moment wird es renoviert... Um diese Zeit ist bestimmt keiner da." ihr abenteuerlustiger Blick, bei diesen Worten macht ihm
ein wenig sorgen, doch noch bevor er etwas sagen kann zieht sie ihn bereits am Zaun entlang hinter sich her. "Komm mit!" drängt sie leise und bleibt dann plötzlich an der Ecke des Grundstückes stehen. Dort, wo der massive Zaun endet und eine Hecke beginnt, welche die Grenze zum Nachbargrundstück bildet, schlüpft sie durch eine kleine Lücke. Unentschlossen bleibt er stehen. "Marie, das ist Wahnsinn, komm da wieder raus!" ruft er leise. "Du hast doch nicht etwa Angst?" kichert sie und streckt ihm auffordernd ihre Hand entgegen. Kurz darauf laufen sie gemeinsam über den Rasen, vorbei an den alten Bäumen zur Rückseite des Hauses. Einen Moment nur bleibt sie stehen, sieht an der Wand empor und flüstert: "Ist es nicht wunderschön?" Er nickt: "Ja, das ist es, aber wir sollten nicht hier sein..." "Angsthase" neckt sie ihn und drückt schon im nächsten Augenblick die Klinke der Hintertür. "Mist, die ist zu!" murmelt sie und er atmet erleichtert auf: "Das ist wohl auch besser so! Wir können da doch nicht einfach so einbrechen!" "Bist du denn gar nicht neugierig, wie es da drinnen aussieht?" fragt sie und in ihrer Stimme klingt eindeutig Enttäuschung mit. Er zieht sie an sich, sieht ihr zärtlich in die Augen und sagt lachend: "Doch, das bin ich, aber ich kann mich auch gedulden, bis es wirklich unser Haus ist." Dann küsst er sie. Sie erwidert seinen zärtlichen Kuss, doch sie lässt sich nicht, wie sonst, in seine Arme sinken. Die Anspannung in ihrem Körper bleibt und kaum beendet er den Kuss, windet sie sich auch schon aus
seinen Armen. Grinsend greift sie in ihre Handtasche und zieht eine Schlüssel heraus, den sie ihm triumphierend vor die Nase hält. "Paps macht hier die Elektrik." erklärt sie und wendet sich wieder der Hintertür zu. Stöhnend verdreht er die Augen: "Kann ich irgendetwas tun oder sagen, um dich von diesem Blödsinn abzuhalten?" fragt er resigniert. Sie dreht sich um und tut so, als würde sie überlegen, dann grinst sie breit, bevor sie sich mit einem übermütigen "Nein!" wieder zur Tür umdreht. Sie öffnet die Tür und betritt das Haus. Er überlegt gerade, ob sie es ihm wohl sehr übel nehmen würde, wenn er hier draußen auf sie wartet, da kommt sie schon wieder aus dem Haus, greift ihn am Handgelenk und zieht ihn mit sich. Überrascht stolpert er hinter ihr her bis sie in der Eingangshalle endlich stehen bleibt. Selbst im vergehenden Licht des Tages kann er das Blitzen in ihren Augen deutlich sehen. "Ist das nicht der Wahnsinn!" fragt sie atemlos und zeigt auf einen riesigen Lüster über ihnen. "Hm, hat ein bisschen was von Rosenkrieg." sagt er, kann aber nicht verbergen, dass auch ihn der Anblick beeindruckt. Er hat kaum angefangen sich richtig umzusehen, da huscht sie schon wieder in den nächsten Raum. Ihr zu folgen fällt ihm schwer, doch ihre kindliche Freude, an den vielen kleinen Details des Hauses steckt ihn schließlich an. Als letztes taumeln sie lachend in das große Wohnzimmer und bleiben vor dem großen offenen Kamin stehen. Es ist fast restlos dunkel und von dem Raum kaum noch etwas zu erkennen. Plötzlich wird sie ganz still und streicht mit einer Hand über den Sims oberhalb des Kamins. Zärtlich schmiegt er sich an ihren Rücken, schlingt die Arme um ihren Bauch, legt das Kinn auf ihre Schulter und flüstert: "Irgendwann werden da Bilder von unseren Kindern stehen." Sie sieht ihn mit einem Ausdruck an, den er nicht einzuordnen vermag, dann dreht sie sich in seinen Armen um und küsst ihn voller Leidenschaft.

An diesem Abend hatten sie sich das erste Mal geliebt. Sie hatten sich vorgestellt, im Kamin würde ein Feuer brennen und die alte Wolldecke, die sie irgendwo gefunden hatten und auf der sie lagen, sollte ihr Teppich sein. Er erinnert sich daran, wie seine Hände gezittert hatten, als er ihr langsam das Kleid auszog und daran, wie wunderschön ihre weiche Haut im Mondlicht schimmerte. Auch ihre Hände hatten leicht gezittert als sie die Knöpfe seines Hemdes öffnete und bei der Hose musste er helfen. Bei dem Gedanken daran, wie sehr er sich für seine wenig schicke Unterhose geschämt hatte, blitzt ein kurzes Lächeln in seinem Gesicht auf. An jedes Detail dieser Nacht kann er sich erinnern. An jedes Wort, an jede kleine Geste. Daran, wie sie gerochen hat und vor allem daran, wie süß ihre Küsse geschmeckt haben.
Erst sehr viel Später hatte er begriffen, dass sie bereits an diesem Abend gewusst haben musste, dass sie niemals in diesem Haus wohnen würde.
Er hatte sie durch ihre Krankheit begleitet, hatte dabei zugesehen, wie sie immer schwächer wurde und sie schließlich im Arm gehalten, als sie starb. Und nun steht er vor dem Kamin. Er stellt ein Bild auf den Sims und streicht zart über den Rahmen. Mit tränenerstickter Stimme flüstert er: "Du bist zuhause, mein Schatz!"


© Maja Siegel Alle Rechte vorbehalten, besonders das Recht auf Vervielfältigung und Verbreitung. Kein Teil des Textes darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder verarbeitet werden.


0 Lesern gefällt dieser Text.


Beschreibung des Autors zu "Erinnerungen"

Leider hab ich keine Ahnung, ob, und wenn ja, wie ich hier Text kursiv bekomme, daher sind die Gegenwarts- und Erinnerungspassagen leider etwas schwer auseinander zu halten... Ich hoffe der Text gefällt trotzdem.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Erinnerungen"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Erinnerungen"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.