Brigitte hatte ein Treffen unserer Grundschulklasse organisiert. Immerhin 16 Ehemalige konnte sie aufspüren und einladen, nach 25 Jahren!
Die meisten hatte ich nie mehr wiedergesehen. Schulwechsel, Umzug in einen anderen Stadtteil, wenig Interesse.
Aber jetzt war ich doch gespannt. Würde ich alle erkennen? Würden mir die Namen noch einfallen?
Ich schaue aus dem schmutzigen Fenster der S-Bahn in die vertraute Landschaft des Kohlenpotts. Die Heizung zu meinen Füßen ist knallheiß.
Und da war plötzlich die Erinnerung an uns vier: Stefan und Manfred, meine Freundin Maus und ich. Gerade 10 Jahre waren wir wohl. Und das Spiel zwischen den Büschen des Seilereigeländes.
Wir nannten es „das Sommerspiel“. Ausgezählt wurde, wer anfangen musste: die Jungen oder die Mädchen. Die simulierten dann unerträgliche Hitze und das nicht zu bändigende Bedürfnis, sich die Kleidungsstücke vom Leibe reißen zu müssen, während die beiden anderen zuschauten. Wer dran war legte sich mächtig ins Zeug, imaginären Schweiß abwischend, nach Luft schnappend, begleitet von Prusten und Lachen - als ob es nicht auffallen sollte, dass schließlich auch die Unterhose auf den Füßen lag.
Maus und ich hatten ja nicht viel zu bieten. Waren wir dran, schauten Manfred und Stefan mit einem Halbgrinsen auf unsere blanken Mädchenschlitze, und wir zogen uns wieder an. Umgekehrt kamen die Jungen nicht so leicht davon. Wir wollten die kleinen Pimmel schon anfassen und das ertasten, was die Jungen ihre Eier nannten.
Mir kam es immer so vor, als ob Stefan Spaß daran hatte und Maus’ und meine Neugier eher gestillt war als seine Lust und Bereitschaft, uns den am Ende ganz schön steifen Kleinjungenschwanz hinzuhalten. Er war es auch meist, der dieses Spiel vorschlug.
Kinderkram von damals.
In der Gaststätte „Heimatdank“ hatten sich schon die meisten eingefunden. Brigitte erkannte mich sofort und begrüßte mich herzlich mit meinem Namen und einem Glas Sekt. Aber dann sah ich mich etwas beklommenen mit einem Ratespiel konfrontiert. Sabine...? Udo...? Georg...? Die meisten spontanen Gedanken musste ich mir verkneifen, fast alle hatten mehr als nötig an Gewicht zugelegt. Und die zarten Gesichtszüge der Kindheit - nur noch zu ahnen.
Und die drei dort - ich werd’ nicht mehr... Stefan, Manfred und Maus. Ich bin sicher. Aber warum stehen die ausgerechnet zusammen? Ich gehe auf sie zu, und revidiere meinen pauschalen Eindruck. Maus? Verdammt hübsche Frau geworden, sportlich schlanke Figur, perfekt geschnittene Kurzhaarfrisur, und was für ein Lächeln! Mich durchströmt tiefe Freude, ich umarme Maus, wobei ich mich zu ihr hinabbeugen muss. Sie ist nach wie vor eine Maus, aber keine graue.
Ich wende mich an Stefan - vage Erinnerung an einen schlaksigen Jungen, jetzt ein Brocken von Mann. Manfred, blass etwas verspannt, die Fettreserven nicht üppig aber schlecht verteilt, grinst fantasielos.
Ob die sich auch erinnern? Ich wische meine Erinnerungen fort. Nicht wirklich peinlich, aber angesichts ihres Anblicks kommt keine Nostalgie auf.
Gottseidank nimmt Maus mich bei der Hand und begleitet mich auf meiner Runde.
Als ich am späten Abend mit einigen Gläsern Wein im Kopf wieder in der S-Bahn sitze, fühle ich mich voll des Glücks. Ich werde Maus bald wiedersehen. Wie konnte es nur geschehen, dass wir einander verloren. Wo wir doch Seelenschwestern sind.


© Leandra


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