Die alte Frau zündete mit zitterigen Händen die geweihte Marienkerze
an, die sie in diesem Klosterladen gekauft hatte. Sie holte in Ausübung ihres allabendlichen Rituals ihr altes Gebetsbuch hervor und nahm ihren Rosenkranz zur Hand. Ja, sie betete jeden Abend unermüdlich zu ihrem manchmal grausamen Gott, zugegeben, manchmal fluchte sie auch, aber meistens betete sie und weinte dabei.
Das Leben hatte ihr zeitweise übel mitgespielt und das war der Grund, warum sie, die doch immer so beharrlich betete, manchmal mit Gott haderte. Und wie sie ihre altbekannten Gebete mit mechanischer Sicherheit herunter leierte, schweiften ihre Gedanken immer weiter in die Vergangenheit ab.
Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum eine Zeit, deren einziger Vorzug es war, dass sie vorbei war, sie dermaßen gefangen halten konnte. Immer wieder erzählte sie diese alten Geschichten und sie wusste genau, dass sie den Jungen damit manchmal auf die Nerven ging. Doch sie hatte das Bedürfnis, all die Jahrzehnte lang verdrängten Ereignisse jetzt, an ihrem Lebensabend, doch noch zu verarbeiten. Oft sagten ihre Kinder und ihre Enkel zu ihr, sie solle die Zukunft und nicht immer nur die Vergangenheit sehen, sie bezweifelte allerdings, dass sie sich wirklich vorstellen konnten, was eine 83-jährige sieht, wenn sie in die Zukunft schaut.
So fiel sie in der Zeit immer weiter zurück, Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt, und landete schliesslich da, wo sie immer landete, bei den Ereignissen, die nunmehr 70 Jahre zurück lagen.

Als sie in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober des Jahres 1944 von deutschen Soldaten geweckt wurden und aufgefordert, ihre Heimat schnellst möglichst zu verlassen, da die russische Armee auf dem Vormarsch war und binnen weniger Stunden hier eintreffen würde.
Sie waren im Banat, einer von Deutschen besiedelten Region, die den Süden Ungarns, den Norden Serbiens, sowie den Westen Rumäniens umfasste. Ihr Vater war ein Großgrundbesitzer, ein steinreicher Mann, geehrt und geachtet, der recht wenig mit dem Krieg und schon gar nichts mit den aktuellen Ereignissen in Deutschland zu tun hatte.
Trotzdem war er ein Deutscher und es war besser, der roten Armee nicht in die Hände zu fallen.
Man sagte ihnen, die deutsche Wehrmacht würde die Russen wieder zurück drängen, dann könnten sie wieder in ihre Heimat zurück kehren.
So geschah es, dass ein ganzes Dorf mit 86 Wagen ihre Häuser verliessen, um der russischen Armee zu entgehen. Sie nahmen nur das Wichtigste mit sich, Lebensmittel für wenige Tage, ein paar Decken, wenige Kleidungsstücke, eben das, was man für einen kurzen Aufenthalt ausserhalb von zu Hause braucht. Ihre Tiere im Stall und der grösste Teil ihrer Habe mussten sie zurück lassen, selbst der Hund blieb an der Kette, mit der er angebunden war. Schliesslich war der Knecht noch da, der über Haus und Hof wachen konnte, bis sie wieder zurück kommen würden.
Sie hatten ihr Dorf erst wenige 100 Meter hinter sich gelassen, da sahen sie, wie ihr Vieh bereits aus den Ställen getrieben wurde und sie fragten sich, was wohl mit ihrem Hund und mit ihrem Knecht geschehen war. Die Älteren unter ihnen hegten bereits die ersten Zweifel, ob sie ihre Heimat, die sie gerade am Horizont verschwinden sahen, jemals wieder sehen würden.
Der Treck zog immer weiter nach Norden, durch die wilde Landschaft der ungarischen Puszta, wo es keine Wälder gab, in denen sie sich wie Verbrecher hätten verstecken können. Sie fuhren über die offene Steppe, hofften, dass der Nebel sie verbarg, denn wenn das Wetter zu schön war, konnte gefährlicher Regen fallen, nicht aus den Wolken, sondern aus viermotorigen Flugzeugen. Nun, sie hatten Glück, dass es bereits mitte Oktober war und sie mit all zu schönem Wetter keine Probleme mehr hatten. Wehe, wenn der Himmel sich lichtete!
Was Probleme bereitete, waren ihre zu Neige gehenden Lebensmittel, die nur für wenige Tage bemessen waren. Sie waren aber bereits seit über zwei Wochen unterwegs und schon sehr weit von ihrer Heimat entfernt, es wurde immer deutlicher, dass es keinen Weg zurück mehr gab.
Das einzige, was es auf den Feldern noch zu holen gab, war Mais, jedoch blieben sie den Maisfeldern fern, weil sich darin eine ganze Armee von Partisanen verbergen konnte. Sie konnten nicht einfach einkaufen gehen, zum einen, weil sie, obwohl sie reich waren, kein Geld bei sich hatten, zum anderen, weil sie hier niemandem trauen konnten und besser unerkannt blieben. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als in Scheunen von abgelegenen Bauernhöfen Lebensmittel zu stehlen.
Das ging oft gut, nur einmal wurden sie erwischt. Das 13 jährige Mädchen, das sie damals war, war auch dabei. Kurz kam die Frau in die Gegenwart zurück und glaubte plötzlich zu wissen, was sie in dieser Zeit festhielt. Wenn du 13 bist, gibt es jede Menge Menschen, denen du wichtig bist. Wenn du 83 bist, sind diese Menschen alle tot und es gibt keinen mehr, der versteht, wie du denkst und wie du fühlst.

Jedenfalls war sie damals mit ein paar älteren Freunden in eine abgelegene Scheune eingedrungen, um Kartoffeln zu holen, als plötzlich mehrere Männer mit Gewehren auf sie zukamen. Laut schreiend und wild gestikulierend kamen sie immer näher. Die Flüchtlinge, die ohnehin ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie gezwungen waren, zu stehlen, rannten weg, doch eine Frau stolperte und wurde von diesen Häschern eingeholt.
Nun, die Männer vergeudeten noch nicht einmal einen Schuss an sie, sie schlugen sie einfach mit den Kolben ihrer Gewehre tot.
Die 13 jährige und ihre älteren Freunde sahen dies mit Entsetzen an, konnten der armen Frau aber nicht helfen, sie mussten weiter laufen, wenn sie nicht wollten, dass sie das selbe Schicksal ereilte.

Ein Mensch, in der Blüte seines Lebens, tot geschlagen wie eine Ratte,
weil er ein paar Kartoffeln stahl, um dem Hungertod zu entgehen.

Was in den Metropolen der Welt damals geschah, das kann man in den Geschichtsbüchern nachlesen, was in der Wildnis der ungarischen Puszta passierte, hat nicht einmal Gott gesehen.
Auch die Erwachsenen schauten weg und verdrängten die Ereignisse, weil sie die grausame Realität nicht ertragen konnten, nur die Kinder, die sahen hin, weil sie von Natur aus wissbegierig sind und lernen und verstehen wollen.
Aber sie konnten es nicht verstehen, sie begriffen es niemals, auch nicht als Erwachsene. So kam es, dass sich diese Ereignisse wie hohlwandige Gespenster in ihren Geist einschlichen. Trotz Verdrängungstaktik war es nicht zu vermeiden, dass diese Geister der Vergangenheit durch ihre Träume spukten, auch noch jahrzehnte danach, und sie schreiend und schweissgebadet aus dem Schlaf hochschrecken ließen.
Ein Wahnsinn bleibt ein Wahnsinn, egal wie viele raffinierte und abgefeimte Erklärungsveruche es auch dafür geben mag, es wäre kein Wahnsinn, wenn er erklärbar wäre.


© Fone


6 Lesern gefällt dieser Text.






Unregistrierter Besucher


Beschreibung des Autors zu "Die Geister der Vergangenheit 1"

Aus Erzählungen meiner Schwiegermutter, die 1944 aus ihrer Heimat vertrieben wurde, habe ich eine Geschichte gemacht.
Fortsetzung folgt...

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Die Geister der Vergangenheit 1"

Re: Die Geister der Vergangenheit 1

Autor: Uwe   Datum: 26.10.2014 1:46 Uhr

Kommentar: Fone,
exzellent geschrieben und die "Begebenheiten" begeben sich so tief in mein Herz hinein, dass ich sie dort behalten muss!
Danke und Gruß
u.

Re: Die Geister der Vergangenheit 1

Autor: noé   Datum: 28.10.2014 17:03 Uhr

Kommentar: Das Geschehen, von Dir so plastisch beschrieben, lässt mir eine Gändehaut "wachsen" ...
Du schreibst, als seiest Du dabeigewesen. Das ist erschütternd eindrucksvoll. Und das ist handwerklich perfekt. Und das ist traumhaft schön.
Danke Dir dafür.
noé

Re: Die Geister der Vergangenheit 1

Autor: Fone   Datum: 28.10.2014 23:10 Uhr

Kommentar: Ich will euch nur sagen, dass ich weinen musste, als ich eure Kommentare gelesen habe.
Vielen, vielen Dank dafür!
Ganz liebe Grüße

Kommentar schreiben zu "Die Geister der Vergangenheit 1"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.