In unserer Stadt gab es früher einmal – lang ist’s her – zwei wundervolle Aquarellmaler. Sie hießen „Döllgast“ und „Tautenhahn“. Der eine war Professer, der andere war besser, so sagt man jedenfalls. Daneben gab es noch – eine Generation später – meine Tante N. Sie war 1. eine supertolle Landschafts-Aquarellmalerin mit einzigartig-perfektem Stil und 2. eine Cousine meiner Mutter. Die beiden maßen sich ihr Leben lang miteinander. Doch meine Mutter war hauptsächlich stolz, wogegen Tante N. streng, nein „hochdiszipliniert“ - das ist glaube ich treffender - war. Ihr halbes Leben befand sie sich auf Reisen. Die andere Hälfte hat sie gemalt. Unterwegs fertigte sie tausende kleine Farbskizzen von Landschaften an, die sie zuhause, dank ihres fotografischen Gedächtnisses in außergewöhnlich stimmungsvolle Gemälde umsetzte.

Als Kind war ich öfter bei ihr zu Besuch und jedesmal bettelte ich frech um eines ihrer Bilder zu erhalten. Leider sammelte meine liebe Tante nahezu ausschließlich für eine ferne Nachwelt, die mir vor dieser kleinen Ewigkeit an Jahren so gut wie nie einzutreten schien. Was ich bekam waren ihre Skizzen im Format 10 X 5 cm, die sie, sobald sie ihre Bestimmung erfüllt hatten, nicht mehr brauchte. So vergingen die Jahrzehnte. Eines blieb immer gleich: auch als Erwachsener, längst selber (in einem ganz anderen Stil malend) fragte ich Tante N. welches Bild sie denn grade erübrigen könne, wolle. Die Antwort jedoch blieb gleichbleibend negativ. Manchmal trafen wir uns auch auf Ausstellungen, die Tante, inzwischen gut Neunzigjährig, und wir bewunderten uns gegenseitig, was mir sehr gut tat, denn meine Mutter (inzwischen ebenfalls gut über neunzig) war ja hauptsächlich immer noch stolz.

Dann kam die „Nachwelt“! Auf ihrer letzten Reise ins Morgenland infizierte sich die überaus rüstige Malerin mit einem hierzulande unüblichen Virus und verstarb! Meine Mutter zelebrierte nun ihren Stolz konkurrenzlos und ich ärgerte mich, nichts von Tante N’s schönen Bildern ergattert zu haben. „Mist“ sagte ich, „Ich hätte sie je am liebsten alle fotografiert und archiviert, dann hätte ich mich dran erfreuen können wann ich wollte“. Nun besitzt ihre Tochter, selbst eine versierte Malerin, die ganze Pracht. Vielleicht wird sie den enormen Nachlass – meiner Schätzung nach ca. 1500 Exponate – gar nicht beachten. Ein ähnliches Beispiel hatte ich bei meinem Vater erlebt, der die Werke unserer Vorfahren väterlicherseits auf dem undichten Dachboden über dem Bildhaueratelier lagerte. Sie waren allesamt Maler gewesen und ihre Bilder litten allesamt unter den Bedingungen ihrer Unterbringung.

Um jedoch nicht weiter negativ zu denken und neidlos zu bleiben, anderen Leuten gegenüber, beruhigte ich mich und konzentrierte mich auf meine Arbeit, im Gedenken an meine disziplinierte Tante, die mir gerne dabei zugesehen hätte. Aus Zeitmangel ihrerseits geschah das nicht. Ob sie mir wohl jetzt zusah? Eine müßige Frage, die ich sehr bald verwarf um sie ihrem „ewigen Frieden“ zu überlassen.

Bald darauf hatte ich eine Vision. So etwas bezeichne ich – als unverbesserlicher „Realist“ – gerne als Einbildung, schien sie doch diesmal auch noch meiner unersättlichen Gier nach wirklichen Werten entsprungen zu sein. Zwischen Schlafen und Wachen, diesem Zustand von noch nicht ganz da, aber auch nicht mehr ganz weg, sah ich das besorgte Gesicht meiner verstorbenen Tante. „Geh und hol meine Bilder ab, sie sind alle für dich“, sagte es eindringlich. Ich hielt mir in Gedanken den Zeigefinger an die Schläfe und beruhigte mich: Depp, was spinnst du denn jetzt wieder zusammen, du bist unmöglich! Mach dich lächerlich und geh zu deiner Groß-oder Wasauchimmercousine und bettle noch einmal darum ein paar dieser Augenschmäuse zu erhalten, dann wirst du noch einmal mit einer Abfuhr bedacht. Die wird dich auslachen und sagen „Was glaubst du was die jetzt bald wert sein werden?!“ Ich schüttelte nur über meine Verstiegenheit, ja über meine unbeirrbare Charakterlosigkeit den Kopf, bevor ich mich sogar ein wenig schämte.

Aber wer so richtig charakterlos ist, der ändert sich nicht in ein paar Tagen! Wieder und wieder erschien mir Tante N. zwischen Träumen und Wachen, mich immer wieder ermahnend, ich solle mir sichern was mir gehört. Dann blieb sie plötzlich weg. Ich atmete erleichtert auf. Sollte tatsächlich eine Entschärfung meines krankhaften Egoismus erfolgt sein? „Man soll die Hoffnung ja niemals aufgeben“, sagt ein Sprichwort und ich – bezog es sofort selbstgefällig auf mich.
Endlich beruhigte sich mein schlechtes Gewissen, ich hörte auf, mir Selbstvorwürfe zu machen, da traf mich ein Blitz aus heiterem Himmel (auch nur ein Sprichwort). Der Himmel über dem Nordfriedhof unserer Stadt lachte was er nur konnte, als ich mit meiner Mutter zugange war, das Familiengrab zu pflegen, als wir Besuch bekamen. Tante N`s Tochter Nereide schlenderte vorbei und begrüßte uns herzlich. „Ich komme gerade vom Grab meiner Mutter“, begann sie das Gespräch, da fiel mir irgendwie zwingend ein noch hier vorbeizuschauen.

Das sich nun entwickelnde Gespräch erschütterte mich über alle Maßen und es machte mir, man kann sagen, für den Rest meines Lebens, ein ausgesprochen schlechtes Gewissen. „Jaja“, lachte Nereide, „Meine Mutter hat unglaublich viel gemalt. Das müssen tausende von Bildern gewesen sein. Ich habe sie gar nicht erst gezählt, sondern sie gleich samt und sonders auf den Müll geworfen!“ Dies war der Augenblick in dem mich der Blitz traf. Ich erstarrte! „Du hast wasss?! rief ich, wobei ich meinen maßlosen Ärger gerade noch unterdrücken konnte. „Was hätte ich denn machen sollen?!“ verteidigte sich das (alte) Mädchen. Sie war inzwischen auch schon sechzig. „Ich habe sehr viele Bilder von mir selbst zuhause. Für Mutters Bilder war einfach kein Platz mehr“. Kurz dachte ich noch darüber nach, daß die Mutter aus meiner Sicht um einiges besser gewesen war als die Tochter, dann wurde ich still, drehte mich zuerst nur innerlich, dann auch körperlich um und ging bedrückt nachhause. Auf dem Weg dorthin erinnerte ich mich noch einmal an den besorgten Gesichtsausdruck der hochgeschätzten Verstorbenen, wobei ich auf einmal verstand. Gleichzeitig verstand ich wie wenig Verstand und Erfahrung mir diesmal wieder genutzt hatten.


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Das Grab der schönen Bilder"

Re: Das Grab der schönen Bilder

Autor: Uwe   Datum: 04.10.2014 11:16 Uhr

Kommentar: Alf. Mir fehlen dei Worte, aber den Kommentar muss ich aus anteilnehm. Erschütterung schreiben.
u.

Re: Das Grab der schönen Bilder

Autor: Alf Glocker   Datum: 04.10.2014 15:28 Uhr

Kommentar: Danke! Ich darf immer noch nicht dran denken: Ich wünschte, es würden irgendwann Zeitreisende vorbeikommen und mir die Bilder bringen, zumindest eine beschriebene CD davon...

Alf

Re: Das Grab der schönen Bilder

Autor: noé   Datum: 10.10.2014 22:00 Uhr

Kommentar: Das ist eine herz-zerreissende Geschichte ...
BiSi

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