Der bessere Weg

Johannes und Petra waren seit beinahe fünf Jahren verheiratet.
Ihr vierjähriger Sohn Max war, so darf man sagen, ein ganz normales Kind. Petra hatte es jedoch immer schon in die Ferne gezogen; auch Johannes schien endlich dem Vorhaben, Deutschland zu verlassen, nicht mehr ganz abgeneigt zu sein und hatte schließlich eingewilligt, dass Petra mit Max für drei Monate in Irland bleiben sollten. Die kleine Familie nahm die Autofähre, ihr Ziel war Kilkenny, eine aufgeweckte, geschäftige Stadt im Südosten der Insel.
Der freundliche Pfarrer der großen Kathedrale vermittelte ihnen Unterkunft bei einem netten Ehepaar, wo Petra als Au Pair deren gleichaltrige kleine Tochter Nuala betreuen konnte. Max und Nuala wurden ein Herz und eine Seele.
Während ihres Aufenthalts sollte Petra erkunden, ob sie beide in Irland leben könnten, was ja hieß, dass Johannes einem Erwerb nachgehen musste. Das Problem löste sich schneller als gedacht, weil eine große deutsche Firma zur jener Zeit gerade im Begriff war, ein Ausbildungszentrum für handwerkliche Berufe in Connemara, dem strukturschwachen Westen Irlands, einzurichten. Johannes galt als guter Handwerker und hatte zudem ein erfolgreiches Technikstudium abgeschlossen. Das also schien geklärt.
Johannes fuhr allein zurück nach Deutschland, denn er hatte die halbjährige Kündigungszeit einzuhalten.
An einem kalten Novemberabend saß er in der gemeinsamen Wohnung als das Telefon läutete. Jim meldete sich, es sei soweit alles okay mit Petra und little Max, er habe nur so ein Gefühl, das er ihm mitteilen wolle.
„Was für ein Gefühl?“
Na ja, Petra sei in letzter Zeit abends häufiger weg, sagte, sie wolle noch ein wenig um das Viertel laufen, doch sie komme selten vor Mitternacht zurück.
Auf Anns gelegentliche Nachfrage von Frau zu Frau, hieß es immer nur, sie habe ein paar Leute getroffen und sei noch auf einen Drink ins Pub, oder so.
Johannes möge doch mal mit ihr reden oder schreiben, was er denn auch sofort tat. –
Petra schien überrascht, warum er schon anrufe, sie hätten doch ausgemacht, immer nur samstags zu telefonieren.
Seine Fragen brachten jedoch wenig Konkretes, außer, was er bereits von Jim wusste. „Also dann Servus, ja dir auch…“
Am folgenden Samstag wartete er vergeblich auf den wöchentlichen Anruf. Dafür lag am Dienstag ein Brief im Kasten.
Es sei aus, er habe es ja sicher schon vermutet, sie habe endlich den richtigen Mann fürs Leben gefunden. Er müsse doch gemerkt haben, dass zwischen ihnen nichts mehr laufe. Sie werde mit Henry an die Westküste ziehen, um wirklich zu leben, so ihre Worte, das sei unumstößlich, usw.…
Johannes hatte es aber nicht gemerkt. Männer merken so etwas lange nicht. Es traf ihn wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel. –

Weihnachten nahte, da wollten sie eigentlich wieder zusammen sein.
Johannes Entschluss stand fest. Er buchte einen Flug und landete am Tag vor Heilig Abend in Shannon Airport. Mit dem Leihwagen fuhr er nach Rockwall, einer kleinen Gemeinde mit herrlichem Blick auf den Atlantik. Ann hatte Petras provisorische Bleibe ausfindig machen können.
Dort angekommen, brauchte er nicht lange zu fragen. Der nächste Fischer, dem er begegnete wies ihm den kurzen Weg, als er gerade sein „Excuse me,…“ gemurmelt hatte.

Max kam ihm gleich entgegen gelaufen; man hatte ihn wohl bemerkt. Er nahm ihn in die Arme, flüsterte kaum einige zärtliche Worte, als das Kind sagte, sie müssten nun aber ins Haus, Mama wartet auf ihn, den Kleinen. –

Noch am gleichen Abend verschanzte er sich nach einem langen, nutzlosen Gespräch mit Petra in seinem Bed & Breakfast und goss den Whiskey vom Duty-Free Shop hinunter. Am Morgen des Heiligabends fuhr er, blind vor Enttäuschung und Schmerz, durch das stille Land zurück. Sein Rückflug ließ ihm noch zwei Tage Zeit, Zeit, die er irgendwie ausfüllen musste. Vielleicht bei Jim und Anne? –

Sie öffneten und wussten sofort Bescheid als Johannes vor ihnen stand. Ohne ein Wort zu verlieren, saßen sie kurz darauf im Wohnzimmer und tranken würzigen Tee.
Nuala freute sich über Onkel John, kletterte auf ihm herum und beschrieb überschwänglich, welche Geschenke sie an Christmas Eve von Mom und Dad bekommen würde. Man ließ die beiden allein. Johannes genoss die Ablenkung.
Als er erklären musste, dass ihr Freund Max leider nicht kommen könne, wurde sie schweigsam und ließ sich wortlos ins Bett bringen.
Es vergingen Stunden mit Smalltalk, bevor er in der Lage war, Jim und Anne das Notwendigste von seinem Trip zu erzählen.

Am Abend: Christmas Eve, Kirchgang,…gebt euch ein Zeichen der Versöhnung…, Plumpudding, Truthahn, sogar kleine Geschenke hatten sie für ihn noch schnell zusammen gesucht. Als Johannes schließlich abreisen musste, standen die Drei vor der Tür und sie winkten so lange, bis er sie im Rückspiegel nicht mehr sehen konnte. –

Zurück in Shannon überfielen ihn erste Ahnungen vom künftigen Alleinsein. Auf dem kurzen Flug nach München nahm er die interessierte Studentin neben sich nicht gleich wahr, die ihn gern in ein Gespräch ziehen wollte. Sie strahlte den Frohsinn aus, dem man sich in Erwartung seiner Lieben hingibt, die man lange vermisst hatte.
Einen Monat verbrachte er noch mit nutzlosen Briefen, um zum x-ten Male zu erfahren, dass Petra endlich diesen einen Menschen wahrhaft zu lieben glaubte, der als geheilt aus einer Anstalt für Alkoholiker entlassen worden war. Henry sähe in ihr seine Retterin, seinen Schutzengel usw. –
In einer kalten Februarnacht war es soweit.
Er hatte bereits vor Tagen eine Öffnung zwischen Kofferraum und Innenraum seines Autos geschnitten und sich einen flexiblen Schlauch besorgt. Jetzt packte er eine warme Decke, ein paar Kassetten und die Flasche Paddy zusammen, die er auf dem Rückflug in Shannon erstanden hatte. Das Auto tankte er voll – damals war das Benzin noch bleihaltig – und machte sich in Richtung Nürnberg auf den Weg. Dort wusste er einen ausgedehnten Parkplatz hinter der Raststätte. Wegen des Schnees floss der Verkehr auf der A9 anfangs träge dahin, was ihm jedoch gelegen kam, weil sich sein Vorsatz so nur noch stärker festigte. Der große Platz war geräumt, doch auf den baumbestandenen Inseln zwischendrin türmte sich der zusammengeschobene Schnee und nahm die Sicht, was seinem Vorhaben entgegenkam.
Johannes fühlte sich von einer seltsamen Leichtigkeit beherrscht, er lächelte vor sich hin, summte irische Lieder mit und wartete auf die Mitternacht. Achtsam registrierte er das abebbende Verkehrsrauschen, das von der Autobahn herüber drang. Ab und zu tastete er nach der verschlossenen Flasche unter der Decke unter dem Beifahrersitz; man konnte ja nicht wissen, ob doch eine Streife vorbeikommen würde.
Unverhofft spürte er seinen Magen. Warum nicht noch irgendwas essen, dachte er und weil ihm der Weg vom äußersten Ende des Parkplatzes zu weit war, fuhr er zurück zur Raststätte.
Der ausgedehnte Raum gähnte. Außer zwei schlafenden Männern an einem entfernten Tisch, war es menschenleer. Ihrer Kleidung nach konnten es Monteure oder Brummifahrer sein. Ein Fahrzeug hatte er keines gesehen. Die müde Servicefrau verneinte nahezu alles, wonach er fragte, bot ihm schließlich noch eine übergrillte Wurst an. Dazu trank er Bier an einem Stehtisch mit Blick auf die Tankstelle.
Draußen ging eine winterlich bekleidete Person auf und ab, die eine große Tasche und ein dickes Bündel auf dem Arm trug.
Wartet die oder der mitten in der Nacht noch auf jemanden, fragte sich Johannes.
Die Wurst war zu Ende, mechanisch reinigte er den Pappteller bis auf das letzte Krümelchen, wozu er sein Bier in kleinen Schlucken trank. Die Person lief noch immer auf und ab. Als er den Saal verließ, kam sie direkt auf ihn zu.
„Gott sei Dank. Ich dachte schon, Sie kommen nie mehr raus“, flüsterte die Person, die jetzt die große Kapuze ihres Parkas nach hinten geschoben hatte. Das Bündel auf ihrem Arm stellte sich als ein schlafendes Baby heraus.
„Ach, ich dachte, Sie warten auf jemanden. Sie sind ja eine Frau, mitten in der Nacht! “
Sie lächelte flüchtig und während sie sprach, drückte sie das kleine Köpfchen behutsam an ihre Brust.
„Der Lastwagenfahrer, der mich mitgenommen hat, ist Richtung Ansbach weiter. Und hier, dachte ich, kommt eher jemand vorbei, als an einer Ausfahrt“, zögernd fuhr sie fort,
„und da hab ich das Münchner Kennzeichen gesehen und dachte…“
Während sie sprach, versuchte Johannes, das Absurde der Situation zu erfassen.
„Warum sind Sie nicht reingekommen, ist doch viel zu kalt hier draußen?“
„Ich wollte sichergehen, dass nicht die beiden dahinten…“
„Ach so.“ Johannes blickte zu Boden. Dann betrachtete er das Kind.
„Wie schön das Kleine schläft“, flüsterte er.
Die Frau schien unsicher zu werden.
In Bruchteilen von Sekunden liefen noch einmal all die sorgsam getroffenen Vorbereitungen für seinen Entschluss in ihm ab.
Zögerte er jetzt zu lange mit einer Antwort, würde die Frau mit dem schlafenden Kind weggehen und weiter in der Kälte auf irgendjemanden warten müssen, da sie fürchten könnte, er führe etwas Schlechtes im Schilde.
Johannes hatte sich noch nicht entschieden, als er seine Stimme sagen hörte:
„Ja, ich fahre nach München. Natürlich nehme ich Sie mit.“ –

Sie erzählte ihm kurz von einer in die Brüche gegangenen Beziehung in Berlin, es gehe ihr jetzt vor allem um den Kleinen. Wo sie denn in München hin wolle, fragte er. Nach Schwabing, dort wohne ihre Freundin, die habe sie bereits vom Rasthaus angerufen. Wenn er sie dort absetzen könne, das wäre wunderbar. Der Kleine schlafe gerade so schön. –
Dann schwiegen beide und Johannes fuhr dorthin zurück woher er kam, wo er sein Heim hatte, seine Freunde, seinen vertrauten Kreis, der jetzt ohne Mittelpunkt war. –

Sie wollte ihm danken, indem sie ihn noch auf einen Kaffee einlud, doch er winkte ab, er sei auch müde. Sie nickte erleichtert.
„Gute Nacht und vielen Dank fürs Mitnehmen“, flüsterte sie.
„Das hab ich doch gerne gemacht.“
Johannes nahm ihre Tasche und begleitete sie zur Haustür.
Sie sahen einander nie wieder, nicht einmal ihre Namen hatten sie genannt.

Auf der Fahrt in seine Wohnung fiel ihm die Geschichte aus Afrika ein, die eingerahmt im Flur hing:
Ein Mensch beklagte sich bei Gott, dieser habe sein Versprechen nicht gehalten, ihn immer und überallhin zu begleiten.
„In meinen schwersten Stunden hast du mich alleingelassen, denn als ich mich umdrehte, sah ich nur eine Spur im Sand. Wo warst du, Herr?“
„In deinen schwersten Stunden habe ich dich getragen, deswegen hast du nur eine Spur gesehen“, antwortete Gott. –

Heute ist Johannes wieder verheiratet, nicht berauschend glücklich, doch wurden ihnen zwei wunderbare Kinder geschenkt. Er sprach niemals über das Erlebnis am Autobahnrasthof Nürnberg.
Die ungeöffnete Flasche Paddy hütet er bis heute.

© Hans Finke 1990


© Hans Finke


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Kommentare zu "Der bessere Weg"

Re: Der bessere Weg

Autor: noé   Datum: 21.12.2013 15:18 Uhr

Kommentar: Weisst Du, Hans, wie sich das für mich liest? Das liest sich nicht wie bloß eine Kurzgeschichte, für mich ist das der Entwurf zu etwas Größerem, das die einzelnen Situationen nicht nur kurz anreißt, sondern mit Empfindungen und Situationsbeschreibungen anreichert und "Fleisch auf die Gräten" bringt.
Vielleicht, wenn Du mal mehr Zeit hast?
Vorweihnachtlich, noé

Re: Der bessere Weg

Autor: Hans Finke   Datum: 21.12.2013 15:32 Uhr

Kommentar: Danke NOE; ich wußte irgendwie, wer du sein würdest, obwohl wir uns wahrscheinlich nie begegnen werden. Ist das nicht wie in den Wahlverwandschaften beim großen J. W. G.? Verzeih meine Euphorie. LG Hans

Re: Der bessere Weg

Autor: noé   Datum: 21.12.2013 15:40 Uhr

Kommentar: :o))
noé

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