Der alte Apfelbaum
© Anita Heiden

Die laue Sommernacht geht langsam zu Neige und der heller werdende Himmel lässt die Sterne verblassen. Der Blick des alten Mannes geht langsam Richtung Fenster. Er kneift die Augen zu, denn das Sehen fällt ihm schwer. Durch eine schmale Öffnung in den Gardinen schaut er auf den Himmel. Er sieht, wie die Sonne ihn blutrot einfärbt und dabei schmale blaue Streifen zeichnet, wie ein Maler sie nicht schöner malen könnte.
Seine Gedanken sind so viel. So viel schwirrt in seinem Kopf herum und er versucht die Vergangenheit zu sortieren. Es fällt ihm schwer.
Diese verdammten und doch so schönen Erinnerungen, sie drücken im Kopf und tun weh, wenn er an so manches Denken tut.
Wann war es geschehen? War es gar, erst gestern?

Manches liegt so schwer auf der Seele, wenn er sich an dieses zurückerinnert, dass sein Gemüt beschwert und er den Tränen nahe ist.
Sein Herz in seiner Brust schlägt langsam und er fühlt, wie es schwächer wird.
Altes Herz vollgepackt und eingehüllt voller Sehnsucht, Hass, Zärtlichkeit und Liebe.
„Es wird ein schöner Tag“, so denkt er sich und hört den Vogelgesang im Garten und das leise rascheln von den Blättern des alten Apfelbaumes, wo der Wind leise in die Krone fährt und diese sacht hin und her bewegt.

Guter alter Apfelbaum. So viele Jahre stehst du schon bei Wind und Wetter und trägst Jahr für Jahr deine Früchte. Alter Baum, alter Freund, denn schon als Knabe kletterte er auf deinen Ästen umher, um die süß rotbackigen Äpfel zu pflücken, die er seinen Geschwistern hinunterwarf.
In warmen Sommertagen saß er am dicken Stamm, lernte, träumte und spielte, mit der kleinen Greta und dem kleinen Richard, bei dir.
„Schöne Kinderzeit. Wo ist sie geblieben?“

Tränen steigen auf und rollen an den Augenwinkeln hinunter, als er an die kleine Greta und den kleinen Richard denken muss. So viel Jahre jünger und doch musste er, sie, viel zu zeitig an dessen Gräbern besuchen.
Wie oft streiften er mit ihnen durch die Wälder und wanderte auf den Berg, bis auf den Gipfel, zum mystischen Stein. Eilen mussten sie oft, dass die kleinen Beine gar so schnell nicht laufen konnten, weil die Mutter, die liebe Mutter, am Apfelbaum mit Broten saß und alle, gemeinsam auf den Vater warteten.

Wie schön sind die Erinnerungen an den Vater, als er von seiner Arbeit kam. Viele glückliche Sommer waren es, bis er nicht mehr kam. Fort ging er, fort in diesen verdammten Krieg und kehrte nicht mehr heim. Nur noch schwache Erinnerungen an sein Lächeln sind geblieben und an Mutters Schmerz daran, den sie mit ins Grab hineinnahm.
Doch die Erinnerungen bleiben, wenn sie auch schwer auf der Seele lasten.

Immer noch steht der Baum und der alte Mann hält die Erinnerung an ihm fest. Er sieht den Schatten, diesen er ins Zimmer wirft und die Sonnenstrahlen dadurch tanzen lässt, als würden lustige Mädchen tanzen, deren Röcke beim Drehen schwingen.
„Alter Freund, lieber Freund.“
Und er sucht Luise. Seine Gedanken an Luise sind schwer und froh zugleich. Luise war es die ihn unter der Krone des Apfelbaumes zum ersten Mal küsste und viele, viele Jahre dort auf ihn wartete, bis auch er aus dem Krieg kam. Treue Luise. Liebste Luise. Viele schöne Stunden verweilten sie unter dem Apfelbaum und führten ein glückliches und erfülltes Leben. Luise, ihre Küsse so süß wie Kirschen und die Lippen so weich wie die Haut des Pfirsichs.
Was für ein schöner Gedanke, welch schöne Erinnerung damit verbunden. Zärtlich spürt er die berührende Hand an seiner und bedacht schaut er auf. Er sieht im Sessel, neben sich, eine schlafende Frau.
„Luise!“
Nein. Es ist nicht Luise. Sie sieht nur so aus.

Das Atmen fällt ihm schwerer und die Augen werden müde. Noch einmal, ein letzter Blick zum alten Freund, den Apfelbaum und er sieht den Kinderwagen im Schutze seiner stehen. Ein freudiger Gedanke beschwingt seine Seele und nun weiß er, in dieser guten Tochter leben Luise und auch ein Teil von ihm weiter. Ein Vermächtnis, ein unsichtbares Band für immer geschlossen und mit jedem Herzschlag von ihr, wird es auch ein Herzschlag für ihn sein. Ein letztes Lächeln berührt seine Seele und wie schön ist es doch für ihn, den geliebten Vater, sie und Luise noch einmal gesehen zu haben.

***

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© Anita Heiden


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Beschreibung des Autors zu "Der alte Apfelbaum"

Diese Geschichte möchte ich meinem lieben Großvater Franz Heiden widmen, der ein leidenschaftlicher Gärtner und erfolgreicher Kaninchen-Züchter war und mir viel Mitgefühl lernte.
Bei meinem letzten Besuch, an seinem Sterbebett, ist er mit dem letzten Satz an mich gerichtet, „Mädchen, es ist so schön dich noch einmal gesehen zu haben“, in der selbigen Nacht verstorben. Dieser Satz berührt mich seither und ist in meinem Herzen gefangen und ich weiß nun, noch mehr als je, wie wichtig Familie ist.




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