Wenn man etwas nicht macht, dann stumpft das Wissen und das Können darum ab.
Wer jahrelang schweigt, der wird die Sprache irgendwann verloren haben.
Wer jahrelang nichts berührt, der wird bald jegliches Gefühl verloren haben.
Wer jahrelang nicht liebt, der wird irgendwann nur noch Leere in sich finden.
Unendlich leben, unendlich alles in sich aufsaugen was nur geht, das musste die Lösung sein.
Das exakte Gegenteil von aller Gefahr: Nicht Abstumpfen; Lernen.
Es sind simple Gedanken, da machte sie sich nichts vor. Irgendwie musste jeder mal auf diese Idee kommen, sonst hätte dieser Jemand schon lange verloren.
Nein, es war nichts besonderes, und trotzdem, sie spürte dieses unglaubliche Verlangen. Ein Verlangen bis in die aller tiefste Faser ihres Körpers und Geistes zu leben. Alle Eindrücke in sich zu vereinen, zu vollenden.
So saß sie nun hier und versuchte endlos zu leben:

Wenn sie die Augen schloss konnte sie ganz genau hören, wie irgendwo in weiter Ferne hinter ihr die Autos über die Autobahn preschten, eine Katze, oder ein Kaninchen oder irgendwas, das durch die Büsche schlich, der Wind, der ganz leise seine kleine Melodie pfiff und wie der erste Vogel begann in dieses Lied einzustimmen, um gemeinsam die Sonne zu wecken.
Wenn sie tief einatmete konnte sie das frische Gras riechen, die Feuchtigkeit die in der Luft selber war, die herrliche Süße der ersten Blüten, die schon sehr bald wieder im gleißenden Licht der Sonne stehen und aufgehen würden.
Wenn sie ganz ruhig wurde konnte sie das Gras spüren, das ganz leicht an ihren Füßen und Beinen kitzelte, wenn der Wind es packte und sanft zu bewegen begann, genau so wie er es auch mit ihren haselnussbraunen Haaren tat.
Wenn sie genau hinschaute sah sie von diesem kleinen Hügel hinab auf den Friedhof vor sich. Viele kleine Lichter blitzen zwischen den Baumkronen hervor, die die nur allzu glücklichen Menschen vor ihrem Anblick schützen sollte, der Erinnerung an ein Ende.
In ihrer linken Hand hielt sie eine Rosenblüte. Sie erstrahlte in einem makellosen weiß, was sogar in der Dunkelheit der anbrechenden Dämmerung noch jedes Detail erkennen ließ. Die winzigen kleinen Äderchen, jedes einzelne ein Fluss des Lebens.
Irgendwie hatte sie Mitleid mit dieser Rose. Sie war zum Tode verurteilt, von ihren Wurzeln getrennt, und würde schon bald vergehen. Ihr Schönheit einbüßen, ihr Leben verlieren.
Hatte sie vorher auch eine Möglichkeit gehabt so sehr zu leben wie sie es hier gerade tat?
Hatte sie die Sonnenstrahlen wirklich gefühlt, wenn die Sonne auf sie herab schien?
Hatte sie die Möglichkeit gehabt glücklich zu sein? Und wenn ja, war sie es gewesen?

Für eine gewisse Zeit war sie in dieser Welt von Gedanken verschwunden, hatte eine Zeitspanne zu einem einzigen, lebendigen Moment gefrieren lassen, doch nun wusste sie, würde sie wieder loslassen müssen.
Hinter ihr ging die Sonne auf, die ersten warmen Sonnenstrahlen begannen sich liebevoll in ihren nackten Rücken zu bohren und auf ihrem Körper die Wärme zu entfachen, die sie jede Nacht aufs Neue in sich zu finden hoffte.
Langsam stand sie auf, versuchte noch einmal alles wahrzunehmen, den Abschied hinauszuzögern.
Die Rose hielt sie hoch in den Wind, wartete darauf das er für einen kurzen Augenblick stärker werden würde, ließ sie aus ihrer Hand gleiten, in die Zukunft des neuen Tages fliegen. In ihren Tod.


© Lorenz H. P.


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