Die eigenen Schatten / Gaby Bothe 2021

Sie blickte in den Spiegel und sah eine fremde Frau. Verquollene Augen mit dunklen Rändern. Die Spuren einer tränenreichen Nacht. Immer und immer wieder stellte sich Cora dieselbe Frage: warum immer ich? Was hatte ich nicht alles unternommen, um nie wieder in dieses Dilemma zu stürzen, und trotzdem… Benutzt, weggeworfen und rausgeschmissen. Und das nicht zum ersten Mal. Das Date gestern war wieder die reinste Katastrophe. Ein Egomane vor dem Herrn.
Cora war Single und das nicht ohne Grund. Ihre Eltern und viele ihrer Freunde geschieden oder zumindest getrennt, zum Leidwesen der Kinder und in Ausnahmefällen sogar der Haustiere. Es wurde gezogen, gezerrt, erpresst und gedroht. Von Liebe und Mitgefühl keine Spur. Diesem ganzen Theater wollte Cora aus dem Weg gehen und deswegen war sie Single. An sich eine gute Strategie, wenn da nicht tief in ihrem Innern diese Sehnsucht nach Liebe und einer verlässlichen Partnerschaft wäre. Nach einem Mann, der sein Wort hält und sie nicht hintergeht. Vermutlich der Traum einer jeden Frau. Allerdings schien diese Spezies dünn gesät zu sein, denn bisher traf sie niemanden mit diesen Attributen.
Sie schluchzet und schnaubte in ein Taschentuch. Ein dunkles Gefühl von Angst breitete sich aus. Hörte das denn nie mehr auf? Würde es immer so bleiben? Warum konnte sie nicht alleine glücklich sein und warum zog sie immer wieder den Jackpot im negativen Sinne? Kein Mann in der Vergangenheit entsprach in irgendeiner Form ihren Erwartungen und irgendwie folgten alle dem gleichen Muster- sie waren nicht nur untreu, sondern auch gewalttätig.
Tausendmal hatte sie dieses Thema bereits mit ihrer Freundin Mona besprochen und war sogar der Empfehlung gefolgt, einen Selbstverteidigungskurs zu besuchen. Das hieß, sie beherrschte einige Techniken und fühlte sich auch gut damit. Und dennoch, diese unerbittliche Angst blieb. Angst, in eine Falle zu tappen, Angst, ausgeliefert zu sein, Angst, unterdrückt und gedemütigt zu werden und Angst nie wieder fröhlich und unbeschwert sein zu können. Tiefstes Selbstmitleid umgab sie, als sie plötzlich einen Schatten bemerkte.
Ein Mann stand vor ihr und sah sie an. Stark, männlich, sich seiner Sache völlig sicher. Sie trafen sich eher zufällig auf einer Parkbank. Cora liebte diese Bank am See und schaute leicht verträumt den Enten zu, wie sie mit ihren Jungen auf dem See hin und her schwammen. Die Kleinen bettelten ständig und die Eltern versorgten sie. Ein schönes Bild. So harmonisch und entspannt, trotz der bettelnden Jungen. Leichter Neid kam in ihr hoch. Wie sehr hatte sie sich solch eine Kindheit gewünscht. Stattdessen gab es nur Streit, Aggression, Verzweiflung. Eine Mutter, die nicht in der Lage war, ihre eigenen Kinder vor dem Vater zu schützen. Eine Mutter, die lieber aushielt, das Unrecht verdrängte und alles schönredete, solange, bis ihr Mann sie verließ.
Cora hatte schon früh gelernt, Erwachsenen nicht zu glauben, geschweige denn zu vertrauen. Sie entschied sich ihren eigenen Weg zu gehen und zog mit 18 Jahren aus. Weg von der Gewalt und den Depressionen der Eltern. Weg von all den negativen Gefühlen und hin zur Ruhe und Ausgeglichenheit. Seit Jahren wohnte sie nun schon alleine und meisterte irgendwie ihr Leben. An sich war sie zufrieden und dennoch, wie schön wäre es, endlich jemanden zu treffen, der es gut mit ihr meint. Der ihre innere Schönheit erkennt und sie so akzeptiert, wie sie ist. Für diesen Mann würde sie alles tun, wirklich alles.
Und nun stand er da, lächelnd mit strahlend blauen Augen. Das blonde Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Selbstbewusst und sich seiner Sache völlig sicher, setzte er sich ohne zu Fragen neben sie. Sie stutzte leicht, fand es aber angenehm. Dieses Lächeln. Immer noch sprachen sie kein Wort, er schaute sie nur an. Langsam wurde es ihr unangenehm. Sie rutschte etwas von ihm weg und begann ein Gespräch, nur um diese Stille zu beenden.
„Auch Enten beobachten?“ fragte sie.
„Nein, nicht die Enten. Ich beobachte Sie!“ Seine Stimme war angenehm dunkel und melodisch. Er strahlte sie unentwegt an und schien sie zu mustern.
Cora wurde leicht verlegen. So viel Aufmerksamkeit bekam sie sonst nie. Auch wenn es ihr ein wenig unangenehm war, genoss sie es.
„Und was sehen Sie?“
„Nun, ich sehe eine hübsche, leicht verzweifelte Frau, die mit Enten spricht. Ich hoffe, die antworten auch.“ Er schien sich sehr zu amüsieren, natürlich mal wieder auf ihre Kosten.
Cora sah ihn verstimmt an. Genau diesen Typ Mann konnte sie nicht leiden. Einen Mann, der alles ins Lächerliche zog und Frauen nicht ernst nahm.
„Tja, dann ist es mit Ihrer Beobachtungsgabe nicht weit her.“ Cora wurde ärgerlich. „Männer, die Frauen nicht ernst nehmen, brauche ich nicht in meiner Nähe.“
Vielleicht zu voreilig aber dennoch entschlossen stand Cora auf und marschierte Richtung Parkplatz, um wieder mal enttäuscht nach Hause zu fahren. Der blonde Mann sah ihr kopfschüttelnd nach und verstand die Frauen nicht mehr. Aus seiner Sicht hatte er doch nichts falsch gemacht.
Am Automaten zahlte Cora die Parkgebühr und bemerkte nicht, wie ihr etwas aus der Handtasche fiel. Es war die Quittung über ihren bezahlten Englischkurs. Sie würde sie morgen brauchen, denn es war der erste Abend.
Es fiel ihr nicht auf und so rannte sie eiligen Schrittes zu ihrem Auto. In welcher Reihe stand es noch gleich? `Oh Mann, warum kann ich mir nie merken, wo mein Auto steht. Jetzt muss ich wieder über den ganzen Parkplatz rennen, um mein Auto zu finden´. Leicht verzweifelt hetzte Cora los als eine laute Männerstimme hinter ihr irgendetwas rief. Sie verstand nur „junge Frau“ und „verloren“. `Meint der mich? Vermutlich nicht, denn ich habe ja nix verloren´. Cora hetzte weiter. Die Männerstimme kam keuchend hinterher und rief immer eindringlicher. Jetzt reichte es Cora. Sie drehte sich um und sah einen älteren Herrn ausländischer Herkunft mit den Armen wedeln. Er keuchte, denn er war außer Atem. Kurz blieb er stehen, um sich abzustützen und nach Luft zu schnappen. Coras Tempo war wohl zu schnell für ihn.
„Was ist denn los? Wieso verfolgen sie mich?“ Gebrabbel, Gekeuche und wedelnde Arme.
Cora verstand kein Wort. Was wollte dieser Kerl von ihr. Wieder so ´n Typ, der es auf sie abgesehen hatte, hier alleine auf dem Parkplatz. Obwohl, irgendwie schien dieser Mann dafür zu alt und zu erschöpft. Er keuchte immer noch. Jetzt bekam Cora doch ein schlechtes Gewissen. Sie ging einige Schritte auf ihn zu, um ihn besser verstehen zu können. Er war zwar immer noch krebsrot im Gesicht aber er bekam zumindest wieder Luft. Stockend sagte er: „Sie, Sie haben –keuch- haben dieses hier eben verloren.“ Dabei wedelte er mit der Quittung in der Luft herum. Wie ein Schlag traf es Cora. `Ach du Scheiße, meine Englisch-Quittung. Ohne diese müsste ich den Kurs erneut bezahlen´.
Jetzt erst wurde ihr bewusst, in welch missliche Lage sie diesen Mann gebracht hatte und dass er nur ihr Bestes wollte. Schuldbewusst beugte sie sich über ihn, denn er stützte sich auf seinen Beinen ab.
„Oh entschuldigen Sie, das hab´ ich nicht gewusst. Geht´s wieder? Kommen Sie, wir setzen uns in mein Auto. Das steht da vorne, ich hab´s doch tatsächlich gefunden. Sie sind ja ganz schweißgebadet. Sie brauchen erst mal Luft.“
Der Mann nickte und kam bereitwillig mit. Plumpsend ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen und atmetet tief ein und aus. Das tat er mehrere Male in einem sehr gleichmäßigen Rhythmus. Cora beobachtete, wie er mit jedem tiefen Atemzug an normaler Gesichtsfarbe zunahm und sich sein Kreislauf wieder beruhigte. „Geht´ s wieder?“
„Ja, junge Frau, Sie haben ja ein Tempo drauf. Rennen Sie immer so durchs Leben?“
„Äh, wieso? Ich hatte es nur etwas eilig.“ Cora überkam das Gefühl, sich für ihre Geschwindigkeit entschuldigen zu müssen. Dabei war sie eigentlich stolz auf ihre Fitness. Schließlich ging sie dreimal die Woche ins Fitnessstudio und einmal die Woche zum Squash.
Der Mann lächelte. Es war ein zwar noch leicht gequältes aber sehr sympathisches Lächeln. Sie schätzte ihn auf etwa Anfang bis Mitte 50.
„Hm, das muss wohl am Alter liegen. Mit den Jahren wird man halt ruhiger. Wissen Sie, früher bin ich auch so durchs Leben gehetzt. Bis mich mein Herzinfarkt in die Ruhe zwang. Jetzt lebe ich wesentlich langsamer, aber dafür auch wesentlich bewusster. Nehme die Dinge um mich herum immer mehr wahr. Vermutlich wäre mir sonst ihr Zettel nicht aufgefallen. Früher hätte ich es nicht bemerkt oder aber einfach ignoriert.“
„Oh, danke. Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie mir damit geholfen haben. Ohne Quittung hätte ich den Kurs erneut bezahlen müssen. Und der war richtig teuer. Damit wäre ich ganz schön in die Miesen gerutscht.“
„Glaub´ ich Ihnen gerne. Kenne ich übrigens auch, diese Sprachkurse. Damals musste ich allerdings Deutsch lernen.“
„Tatsächlich? Das hört man gar nicht mehr. Sie sprechen quasi ein akzentfreies Deutsch. Seit wann sind Sie denn in Deutschland?“
„Oh, schon seit mehr als dreißig Jahren. Ich bin Kurde und mit meiner ganzen Familie nach Deutschland ausgewandert. Damals waren wir noch willkommen.“ Leichte Bitterkeit klang aus seiner Stimme.
„Heute denn nicht mehr?“ Coras Stimme drückte Überraschung aus. Sie war der Meinung, dass mittlerweile jeder Migrant integriert wäre.
„Nein, junge Frau, leider nicht. Gut, diejenigen, die mich kennen, mögen mich. Nicht nur die Mitglieder meine Familie. Ich habe tatsächlich hier in Deutschland Freunde gefunden. Teilweise über die Arbeit und teilweise über die Nachbarschaft. Da gibt es aber auch noch andere ausländische Mitbürger. Da fällt ein Kurde nicht so auf.“
„Das war sicher eine schwere Zeit für Sie, oder?“
„Ja, das können Sie laut sagen. Es fühlt sich nicht gut an, wenn man spürt, dass man nicht willkommen ist und Sie meidet. Da vermutet man hinter jeder freundlichen Geste einen Angriff. Ist natürlich Quatsch. Aber die Angst und das Misstrauen sind sehr stark und entwickeln fast ein Eigenleben.
Da war es wieder. Vertrauen. Cora ging´s ja ähnlich. Generell traute sie zwar den Menschen, aber sie traute keinem Mann mehr. Auch sie vermutete bei jedem Typen billige Anmache und irgendwelche Abartigkeiten.
Der Kurde beobachtete sie mit warmen, braunen Augen. „Mein Name ist Yelzin, ich habe ja ganz vergessen, mich vorzustellen.“ Er reichte ihr seine Hand. Sie nahm sie an. Ein warmer, herzlicher Händedruck. „Ich bin Cora.“
„Cora, ein interessanter Name. Habe ich hier in Deutschland noch nicht gehört. Woher stammt er?“ „Keine Ahnung, meine Eltern fanden ihn wohl irgendwie gut.“ Sie lächelte. „Tatsächlich gefällt er mir auch.“
„Das ist doch schön. Aber sagen Sie, warum sind Sie denn nicht früher stehen geblieben als ich Sie rief? Dann hätte ich mir sehr viel Atemnot erspart?“
Cora wurde rot. Er hatte sie ertappt. Ihren wunden Punkt erwischt.
Verlegen richtete sie ihren Blick auf ihre Beine als sie antwortete: „Ich hatte letztes Jahr ein äußerst schreckliches Erlebnis mit einem Mann. Das sitzt noch tief.“
„Oh, das tut mir leid.“ Der Mann war sichtlich berührt. „Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen. Sie wissen ja jetzt, dass ich eigentlich nur Ihr Bestes wollte, oder?“
„Ja,“ Cora lächelte schon wieder, „ja, und es tut mir leid, dass ich vor Ihnen weggelaufen bin.“
„Hm, wenn man´ s genau nimmt, sind nicht vor mir, sondern vor sich selbst, oder besser gesagt, vor Ihrer eigenen Unsicherheit weggelaufen. Ist das eigentlich eine Strategie von Ihnen?“
„Was meinen Sie?“
„Na ja, das Weglaufen, meine ich. Wenn´s mal kritisch wird?“
„Hm, keine Ahnung. Strategie ist vielleicht nicht ganz richtig.“
„Ok, wie würden Sie es denn dann nennen?“
„Auf Abstand gehen.“
„Ah. Ok. Sie gehen also lieber auf Abstand. Hm, wie wollen Sie dann Ihren Traummann kennen lernen, oder gibt es da schon jemanden in Ihrem Leben? Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Direktheit nicht übel.“
Peng. Schon wieder der wunde Punkt. Langsam stieg Ungeduld und Wut in Cora auf. Was bildete sich dieser Yelzin eigentlich ein. Gut, er hatte ihr wirklich einen großen Gefallen mit der Quittung getan. Aber sie so in die Ecke zu drängen. Das fühlte sich absolut nicht gut an und außerdem konnte es ihm doch wirklich egal sein.
Unruhig rutschte Cora auf ihrem Sitz hin und her. Yelzin bemerkte es.
Beruhigend legte er seine Hand auf ihren Arm. Hastig zog sie ihn zurück. Überrascht nahm er es wahr und schaute sie mitfühlend an. „So schlimm war es?“
Cora nickte und kämpfte mit den Tränen.
Aus dem Nichts lag plötzlich ein Papiertaschentuch auf ihrem Schoß. Yelzin hatte es ihr gegeben.
„Lassen Sie es ruhig raus. Mich stört es nicht. Lassen Sie die Tränen laufen. Mit den Tränen werden auch die Verzweiflung und die Wut gehen, glauben Sie mir.“
Sie schnaufte in das Taschentuch und schaute ihn durch einen Tränenschleier an. Das war eigentlich das Letzte was sie wollte, sich bei einem Fremden ausheulen.
Coras Hände zitterten. Die Angst kam wieder hoch. Sie spürte es deutlich. Diese Angst hatte nichts mit Yelzin zu tun. Der beruhigte sie eher – nein – die Angst vor dem Erlebten kam wieder hoch.
„Ok, Cora. Schauen Sie mich bitte an.“
Ganz sanft hob er mit seinem Zeigefinger ihr Kinn hoch, damit sie ihn ansehen konnte.
„Sie haben immer noch diese schrecklichen Angstgespenster in sich, oder? Sie sehen diese Schatten jede Nacht und bei jedem Mann, stimmt´s?“
Cora Kehle war zugeschnürt. Sie hatte einen Kloß im Hals und konnte nichts sagen. Sie nickte.
„Glauben Sie mir, wenn Sie diese Schreckgespenster nicht bewusst loslassen, werden Sie sich selbst immer weiter in Ihrer Angst verstricken. Damit schnüren Sie sich viele Stricke um Ihren Hals und werden letztendlich daran ersticken. Das sind dann die Momente, wo ein Körper erkrankt oder sich entscheidet, zu gehen.“
Er sprach sehr langsam und sehr ruhig.
Diese seltsame Ruhe. Dieser Mann strahlte eine enorme Ruhe aus. Mochte am fortgeschrittenen Alter liegen. Cora spürte in seiner Nähe überhaupt keine Angst. Obwohl sie ihn nicht kannte. Im Gegenteil, sie fühlte sich fast geborgen.
„Warum spüre ich in Ihrer Nähe keine Angst?“
„Nun, zum einen bin ich schon ein alter Knacker – er lachte leise – und zum anderen, fühlt ihr Herz, dass mein Herz nichts Böses will.“
„Aber wie kann ich mir da sicher sein?“
„Gar nicht! Garantien gibt es keine. Doch bitte achten Sie nicht auf Äußerlichkeiten. Lassen Sie sich nicht täuschen von schönen Reden und anderen oberflächlichen Handlungen. Hören Sie immer auf Ihr Herz. Es spürt sofort, und damit meine ich auch sofort, ob Sie jemandem trauen können oder nicht. Glauben Sie mir. Wie mir scheint, sind Sie eine sehr intelligente Frau. Sie brauchen einfach wieder mehr Selbstvertrauen. Denn nichts Anderes ist es. Sich selbst zu vertrauen. Zu wissen, wann man bleibt und wann man besser weggeht.“
„Aber genau das ist es ja! Ich weiß eben nicht mehr, wem ich vertrauen soll. Wann ich bleiben oder gehen soll! Ich bin völlig verunsichert in meiner Urteilsfindung!“
Cora klang fast verzweifelt.
„Ja, weil Sie auf den falschen Ratgeber hören!“
„Falscher Ratgeber?“
Überrascht schaute Cora ihren Gesprächspartner an. Was meinte er denn damit schon wieder?
„Ja, Ihr Ratgeber, Cora, ist die Angst geboren aus dem EGO. Ihre übermächtige, alles vereinnahmende Angst. Sie lähmt Sie. Sie lässt Sie übervorsichtig sein. Sie lässt Sie grundlos auf Abstand gehen. Sie lässt ihrem Herzen keinen Raum, um sich richtig zu entscheiden. Wie schade.“
„Toll, prima, und was soll ich jetzt tun? Natürlich hab´ ich immer noch Angst. Hätten Sie vermutlich auch nach solch einem Erlebnis.“ Wut machte sich breit.
„Ah, jetzt kommt auch noch der zweite falsche Ratgeber dazu!“
„Der zweite falsche Ratgeber??“ Cora kreischte fast. Sie hatte langsam die Nase voll von diesem Gespräch. Dieser Mann brachte sie zur Verzweiflung und komplett an ihre Grenzen.
„Hey, beruhigen Sie sich. Es wird alles gut, glauben Sie mir. Wir machen jetzt mal eine Übung. Allerdings müssen Sie sich darauf einlassen wollen, das ist Bedingung.“
„Eine Übung? Wollen Sie mich hypnotisieren oder sowas?“ Panisch wich Cora zurück.
„Sehen Sie, was die Angst mit Ihnen macht? Ich sprach von Übung, nicht von Hypnose. Sie werden zu jedem Moment die Kontrolle über sich behalten. Aber wir machen die Übung nur, wenn sie wirklich wollen.“
Cora entspannte sich wieder etwas. Die Wut wich einer apathischen Gleichgültigkeit. Viel schlimmer konnte es ja eh nicht mehr werden.
„Na schön, damit Sie Ruhe geben.“
„Nein, nein, Cora, so funktioniert das nicht. Sie tun das nicht für mich, sondern ausschließlich für sich selbst. Die Übung heißt: „die Angst loslassen“
„Die Angst loslassen? Wie soll das denn gehen?“
„Möchte ich Ihnen gerne zeigen, wenn sie denn wollen.“
„Hm.“ Cora spürte Neugier aber leider auch immer noch Unsicherheit. Ging das überhaupt. Wollte er sie vielleicht auch nur einwickeln, so, wie all die anderen Kerle. In sich spürte sie aber, dass von diesem Mann keine Gefahr ausging. Es siegte die Neugier und sie willigte ein.
„Na gut, probieren wir´s. Was muss ich tun?“
„Sie setzten sich bitte ganz bequem hin und entspannen sich. Wenn Sie sich entspannt fühlen, lese ich Ihnen einen Text vor, den ich immer bei mir habe, denn ich selbst war auch in der Angst gefangen.“
„Wie entspannt man denn?“ Cora fühlte sich ziemlich bescheuert, denn sie wusste tatsächlich nicht, wie man entspannte. Schließlich hetzte sie pausenlos durchs Leben. Da war keine Zeit für Entspannung.
Yelzin lächelte, nahm ihre Hände in seine und ermutigte sie, mit ihm gemeinsam deutlich und langsam ein- und auszuatmen. Cora spürte, wie der Atem in ihren Körper strömte und mit jedem tiefen Atemzug floss eine unendliche Ruhe in ihre Arme und Beine, sodass sie sich richtig schwer anfühlten. Yelzin lächelte, so, als wolle er ihr Mut machen, weiter zu atmen. Nach gut fünf Minuten ließ er sie los und empfahl ihr, die Augen zu schließen. Er kramte den Zettel aus seiner Jackentasche und las leise und sehr ruhig vor:
Die Angst ernährt sich von der Angst. Dieses Angstwesen braucht es, die Angst und wird in deiner Gedankenwelt immer Gedanken der Angst in dir erschaffen. Und da du in Resonanz bist, mit dieser Angst, wird dein Leben immer wieder mit kleinen oder großen Missgeschicken, Unglücken oder Krankheiten ausgestattet sein. Du selbst ziehst es an. Angst zieht Angst an. Deswegen musst du beginnen, dich von deiner Angst zu befreien. Damit du keine Zweifel mehr hast. Zweifel an deinen Mitmenschen, Zweifel an deinem Können und Zweifel an deinen Werten. Angst kannst du nicht töten, Angst kannst du nur transformieren, indem du sie loslässt. Sprich bitte folgende Sätze:
Angst, ich erkenne dich, ich nehme dich wahr.
Ich nehme dich und lasse dich gehen.
Ich habe keine Angst, vor gar nichts mehr.
Ich liebe das Leben jetzt.

Ruhe. Cora spürte, wie sich der Knoten in ihrem Bauch langsam löste. Es fühlte sich tatsächlich so an, als würde die Angst langsam weichen. Sie öffnete die Augen und blickte Yelzin mit großer Überraschung an: „Ich glaube, sie ist tatsächlich gegangen! Das gibt´s doch gar nicht. Die Angst ist weg! Wahnsinn! Es funktioniert!“
Ihr Gesprächspartner strahlte. Er freute sich, dass Cora sich auf diese Übung hatte einlassen können. Ohne ihre Mithilfe hätte es nämlich nicht geklappt.
„Bleibt die jetzt für immer und ewig weg?“
„Hm, vermutlich nicht. Denn die Angst trägt viele Facetten und wird sich immer wieder in Ihr Leben schleichen wollen. Wichtig ist nur, dass Sie diesen Mechanismus erkennen und mit Ihrem Willen unterbrechen. Welche Worte Sie dabei wählen, ist völlig egal. Entscheidend ist nur, dass Sie sich von der Angst nicht unterkriegen lassen, sie wahrnehmen, sie wertschätzen und sie loslassen.“
„Wow, das ist wirklich mal ein wunderbares Instrument. Ich danke Ihnen, Yelzin. Sie haben mir mein Leben wieder zurückgegeben und lebenswert gemacht. Ich danke Ihnen so sehr.“
„Freut mich, dass ich helfen konnte. So, jetzt muss ich zu meiner Familie. Sie haben sicherlich auch noch Termine, wie ich Sie kenne.“ Er lächelte verschmitzt, stieg aus und winkte ihr noch hinterher als sie im mäßigen Tempo den Parkplatz verließ.
`Interessante Frau´ dachte er. `Interessanter Mann´, dachte sie.
Cora nahm die Autofahrt gar nicht richtig wahr. Viel zu sehr war sie mit der Begegnung und dem Gespräch beschäftigt. Und plötzlich kam ihr die Erkenntnis: `natürlich, Mona, ihr Freundin, hatte Recht, das war die Botschaft, wenn man sich auf andere Menschen einlassen konnte, würde man schon zur rechten Zeit die richtige Information erhalten. Wahnsinn. Das musste sie gleich heute Abend Mona erzählen. Klasse. Cora fühlte wieder richtigen Lebensmut in sich aufsteigen. Sie würde ihre Angst in den Griff kriegen und damit auch ihr Leben. Danach stünde dann auch einem neuen Liebesabenteuer nichts mehr im Weg. Endlich!!


© Gaby Bothe


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Beschreibung des Autors zu "Die eigenen Schatten"

Diese Geschichte ist wahr. Leider ist die Angst manchmal so übermächtig, dass man vor seinem eigenen Leben davonläuft.

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