Sie geht durch die Straßen, überall leuchten ihr Sterne entgegen und singen Lautsprecher ihr Stille Nacht. Ihre Füße sind kalt von dem braungrauen Schneematsch, der sich hartnäckig in ihre Stiefel frisst. In jeder Hand trägt sie mehrere Plastiksackerln, die schon so vollgefüllt sind, dass sie ihren Händen zu entgleiten drohen. Und noch immer hat sie nicht alle Geschenke erstanden, es fehlen noch der Schal für Tante Gerti, die Krawatte für Onkel Blasius und das neueste Nintendo-Spiel für Karli, ihren Jüngsten, wie konnte sie das nur vergessen.
Sie atmet tief durch und stellt ihre Taschen ab – beinahe wären sie in einer Lacke aus schmutzig braun geschmolzenem Schnee gelandet. Hektisch schüttelt sie ihre Hände aus, die vom langen Tragen ziemlich schmerzen, stampft kurz mit den Füßen auf um ihnen wieder etwas Leben einzuhauchen, wobei von ihr unbemerkt einige Spritzer des graubraunen Schnees auf den Sackerln landen. Dann bückt sie sich mit einem tiefen Seufzer und hebt die Taschen langsam hoch.
Es nützt nichts, sie muss ihre Einkäufe noch vor Geschäftsschluss beenden. Schal und Krawatte sin schnell erstanden. Doch dann muss die hinauf in den 3. Stock, in die Spielwarenabteilung.
„Entschuldigung, ich suche…“
-„Gleich bin ich bei Ihnen“, und schon ist er ihr entwischt, der hilfreiche Verkäufer.
Sie stellt ihre Taschen ab, knöpft den Mantel auf, heiß ist es hier in dem reiseigen Einkaufscenter, viel zu heiß. Und die Zeit verrinnt, während sie hier steht und in Gedanken die Liste der Dinge durchgeht, die sie noch bis zum Heiligen Abend zu erledigen hat.
„So, jetzt bin ich bei Ihnen, was kann ich für Sie tun?“
Sie schreckt hoch und verhaspelt sich beinahe, als sie möglichst rasch beschreibt, was sie hier in der Spielwarenabteilung zu erstehen gedenkt.
„Ja, da hätten wir den 3. Teil von Prince of Persia oder ein ganz neues Action-Spiel….
„Nein, nein, Karli ist doch erst sechs.“
Wieso schaut sie der Verkäufer jetzt so pikiert an, als ob er sagen wollte: „Und was tut das nun zur Sache?“
Und dann beginnt er auf sie einzureden: „Da wäre es doch viel klüger, wenn Sie ihm eine Wii kaufen würden, die ist gerade in Aktion und es gibt auch zwei Spiele zum Sonderpreis dazu, das wäre doch das ideale Geschenk für einen Sechsjährigen!“
Müde winkt sie ab, sie möchte doch nur schlicht und einfach ein Nintendo-Spiel für Karli, ist da so schwer zu begreifen?
„Wenn das so ist, dann hätte ich da Asterix in Ägypten oder König der Löwen 3.“
Sie entscheidet sich für den Lion King, bückt sich mühsam um ihre prall gefüllten Taschen wieder hochzuheben und schlurft zur Kassa. Nach zehnminütigem Anstellen kann sie das Päckchen in Empfang nehmen und sich zur Rolltreppe begeben, die sie ins Erdgeschoß bringen soll.
Leise schaukelt ihr Oberkörper vor und zurück, die Taschen in ihren Händen beginnen bedenklich zu schwanken, bevor sie ihren Händen entgleiten und ihr Inhalt sich malerisch auf der Rolltreppe verteilt. Doch davon bemerkt sie nichts mehr, sie spürt nur, wie sich ihre rechte Körperhälfte zusammenzieht, alle ihre Aufmerksamkeit konzentriert sich auf eine Stelle auf ihrem rechten Oberarm, die vor Schmerzen zu vibrieren scheint. Langsam sackt sie mit einem leisen Stöhnen in sich zusammen und bleibt am Fuße der Rolltreppe liegen, wobei sich ihr Schal in den Zacken verfängt. Sie spürt auch nicht mehr, dass das Kind, das hinter ihr auf der Treppe gestanden ist, mit einem lauten Schrei über sie fällt und dadurch die in der Nähe stehende Verkäuferin alarmiert.
Sie erwacht erst in einem weißen Bett in einem weißen Zimmer, als sich eine Frau in weißer Tracht über sie beugt und sie anlächelt: „Gott sei Dank, Sie sind aufgewacht.“


© Waltraud Zechmeister


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