In der Stille des Gedächtnisses, vor allem wenn ich die Augen schließe, erblicke ich, wann immer ich mag, die Gesichter so vieler prächtiger Menschen, denen ich im Leben begegnet bin, dass Erinnerung auf Erinnerung folgt, eine schöner als die andere, aber auch Erinnerungen die ich schon längst verdrängt habe und nun plötzlich wieder Realität werden - oder ist es doch nur ein Traum? Mir ist, als hätte ich gestern mit diesen Menschen gesprochen. Ich spüre noch die Wärme der Hand, die sie immer reichten. Doch eines bleibt mir immer wieder in Erinnerung unsere
alte Wanduhr.

Ich entsinne mich nicht, dass meine Großmutter jemals gesungen hätte. Weder bei der Arbeit noch für uns Kinder, damit wir einschliefen. An meine ersten Jahre kann ich mich natürlich nicht erinnern, doch habe ich eine Schwester, die ein paar Jahre älter war als ich. Indes höre ich im Geist ziemlich deutlich, wie mich immer die im Herrenzimmer über meinem Bett hängende Uhr einschläferte. Es war eine schöne Uhr mit zwei schweren Gewichten. Zweimal am Tag musste sie aufgezogen werden. Morgens und abends. Auf ihrem Zifferblatt befand sich ein ovales, damals scheinbar beliebtes Bild: ein röhrender Hirsch und eine Hirschkuh im tiefen Tannenwald.

Fünfzig oder auch sechzig Jahre ging die Uhr. Dann blieb sie stehen, und nach Großmutters Tod holte ich sie mir ins Haus. Lange verstaubte sie im Keller; kein Uhrmacher wollte sie mehr reparieren: das schon sehr alte Uhrwerk sei so abgenutzt, dass man es nicht mehr in Gang setzen könne. Sie war ihnen einfach die Mühe nicht mehr wert. Nach vielen Jahren hängt sie jetzt, dank einer Gefälligkeit eines guten Bekannten, in meinem Wohnzimmer und geht. Sie geht fasst wieder genau. Auf 5 Minuten Unterschied kommt es mir nicht mehr an.

Nun höre ich nach langer Zeit wieder ihre geruhsame Stimme, wie sie scheppern beginnt und tickt. Zwar ist sie ein wenig heiser geworden, wie ein alter Pfeifenraucher, aber ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste. Doch sie geht, und sie schlägt. Auch ein bisschen röchelnd, aber genau.
Das bekannte Ticktack ist indes das letzte, was ich aus ihrem alten Körper höre. Sie spricht ganz anders zu mir. Beim Klang ihrer vertrauten, stets rhythmischen Stimme- während ich lausche und des Tickens innewerde- denke ich mir etwas aus, vielmehr: ich nehme immer viele, viele Worte wahr.

An einem wunderschönen Nachmittag im Hochsommer wollte ich in den nahe gelegenen kleinen Park an der Cicerostrasse spazieren, in die Sonne. Die Strasse war sonnendurchwärmt, es wäre wirklich schade gewesen, zu Hause zu sitzen. Ich blickte auf die Uhr. Es war gegen drei, und die Uhr tönte:

Nimm- den- Schirm- mit!

Ich hörte es ganz genau. Unsinn, sagte ich zur Uhr, der Himmel ist blau und völlig wolkenlos. Eine Stunde später kehrte ich zurück, bis auf die Haut durchnässt von einem heftigen Sommergewitter.
Die Uhr aber sprach gelassen:

Na- da- siehst- du!

Manchmal fiel mir ein, wie sie mich einst zu Hause in den Schlaf gewiegt hatte:

Schlaf- mein- Junge!

Gewöhnlich brauchte sie das nicht lange zu wiederholen. Kaum hatte ich mich zugedeckt, schlief ich auch schon.
In den letzten Jahren haben sich die Menschen an das bequeme Sterben im Krankenhaus gewöhnt. Sollte es mir vergönnt sein, zu Hause in meinem Bett aus der Welt zu scheiden, so wird die Uhr, dessen bin ich sicher, mir zureden:

Nun- geh- mit- Gott!

Und weil, meine Mutter hat es mir erzählt, ihr Ticken mich auf der Welt begrüßt hat, wird das ganz in Ordnung sein.
Dann wird sie innehalten auf ihrer Wanderung. Immer öfter werden meine Angehörigen sie aufzuziehen vergessen. Eine Zeitlang bleibt sie noch an der Wand (meine Großmutter hatte sie gern), doch dann wird man sie wieder auf den Dachboden bringen.

Nun- für- immer!

©Thomas de Vachroi anno domini 2010


© Thomas de Vachroi


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Gedenken an meine Grossmutter und die Wanduhr

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