Peter war im Sommer 20 geworden. Er wohnte noch bei den Eltern deswegen konnte er sich sein Studium leisten. Große Sprünge hatte er nie machen können, dafür immer wieder kleine Jobs suchen, damit es gerade eben so reichte.
In vier Tagen war Heilig Abend. Peter stapfte leise schimpfend durch den Matsch der Fußgängerzone, um ein paar kleine Geschenke zu suchen. Für seine Freundin brauchte er keines mehr, sie hatte ihn zugunsten eines anderen vor einem Vierteljahr verlassen.
Der nasse Schnee fiel in großen Flocken. Peter kam in der Menge nur langsam voran. Vor ihm mühte sich ein Rollstuhlfahrer, die Straße zu überqueren aber die Räder des Gefährts rutschten im Schneematsch des Rinnsteins immer wieder zurück.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, rief er laut gegen die Dauerberieselung der Weihnachtslieder die aus den Kaufhauseingängen quollen. Passanten eilten vorüber.
Der Rollstuhlfahrer, ein Mann Ende 60, wandte sich schwerfällig nach Peter um. Er schien zunächst nicht begeistert von der Hilfe.
„Weihnachtsmitleid“, brummte er, doch Peter fasste den Rollstuhl bereits an den Griffen. Sie erreichten die andere Seite. Der Mann bedankte sich mit leichtem Nicken, er gehörte der Generation an, die nicht bat.
Peter war im Begriff, sich mit einem schnellen „keine Ursache“ abzuwenden, da fiel sein Blick auf die vom Anschieben durchweichten braunen Strickhandschuhe des Mannes. Seine Hände müssen ja halb erfroren sein, dachte er.
„Ich könnte Sie schon weiterschieben“, bot er an, „soviel Zeit hab ich.“
Das verschlossene Gesicht des Alten hellte sich etwas auf. Auf seiner Kappe türmte sich der Schnee, Wasser rann ihm in den Hals.
„Da drüben, wenn Sie mir bis da hinüber helfen, dann geht es, da kommen keine Bordsteine mehr bis nach Hause.“
„Klaro“, antwortete Peter und bewegte den Rollstuhl durch den schweren Schnee, der an den Rädern kleben blieb. Der Mann rieb seine Hände.
„Lassen Sie es nun gut sein, danke“, sagte er in Richtung seines Helfers, „jetzt komme ich alleine weiter.“ –
„Wie weit müssen Sie denn noch“, fragte er zurück, und blickte auf die nassen Handschuhe. „Ich würde Sie gerne nach Hause fahren, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Das kann ich nicht verlangen, es ist noch ein ganzes Stück. Nein, lassen Sie nur, Sie haben mir schon sehr weit geholfen“, erwiderte der Alte.
„Ich möchte Sie aber gerne nach Hause fahren, Sie müssen ja eiskalte Hände haben. Sagen Sie einfach wohin ich fahren soll.“
Offensichtlich erleichtert, wies ihm der Alte den Weg. Er habe trotz des schlechten Wetters in die Stadt müssen, wegen eines Geschenks, erklärte er entschuldigend.
Peter sah nun das schneebedeckte, kleine Paket auf dem Schoß des Alten.
Nach einer Viertelstunde hatten sie die Vorstadt erreicht und hielten vor einem niedrigen Haus.
„Wenn Sie noch läuten wollen, ganz links unten bei Weber. Die Frau Weber hilft mir dann.“
Er läutete, aber nichts rührte sich. Nach abermaligem Läuten wurde der Alte unsicher. Er fischte aus seinen Taschen einen Schlüssel.
„Ist mir jetzt aber peinlich…“
„Ich bitte Sie, das ist ja nun wirklich kein Problem. Er schob den Rollstuhl in den Gang, wo zwei Krücken lehnten. Er half dem Alten hochzukommen und reichte sie ihm.
„Vielen Dank. Jetzt müssen Sie aber mit reinkommen, auf einen Kaffee“, bat er.
Die kleine saubere Stube enthielt nur wenige, bejahrte Möbel. Peter dachte an seine Großmutter.
„Der Kaffee ist gleich fertig, den brauchen wir jetzt beide bei der feuchten Kälte.“
Peter blickte sich um, während der Alte trotz der Krücken geschickt hantierte.
Auf dem Tisch standen bereits zwei Kaffeegedecke. Der starke Kaffee weckte wirklich alle Lebensgeister. In einer Plastikbox bot der Alte Plätzchen an, alles schmeckte frisch. „Jetzt esse ich Frau Webers Plätzchen weg“, sagte Peter. –
„I wo, nehmen Sie nur. Leider hab ich nichts anderes, wusste ja nicht…“
Peter erhob sich.
„Vielen Dank für den Kaffee; ich denke, ich muß jetzt…, oder kann ich noch was für Sie tun“, fragte er.
Der Alte drückte ihm lange die Hand.
„Es wäre mir eine große Freude, wenn Sie mich noch einmal besuchen würden, vielleicht an einem der Feiertage, ohne Tiefschneewanderung. Ich möchte mich doch richtig bei Ihnen bedanken. Es ist ja Weihnachten!“
Peter spürte die Wärme in den Worten des Alten und versprach, sich zu melden.
„Sie kommen doch?“ Der Alte freute sich über seine Idee. „Und natürlich: wie heißen Sie denn, ich muß ja wissen, wen ich einlade.“
„Peter Sauer“.
„Und ich bin der Friedrich Bergmann, die Leute hier nennen mich den Alten Fritz aber der hat heute Telefon.“ Er reichte ihm einen Zettel. Beide grinsten. –

Am frühen Nachmittag des zweiten Weihnachtstages wählte er die Nummer. Eine weibliche Stimme sagte „Hallo, wer spricht?“
„Sauter hier. Sind Sie die Frau Weber? Ich wollte Herrn Bergmann sprechen.“
Am anderen Ende kicherte es, dann die bekannte Stimme:
„Das ist schön, Peter, daß Sie meine Einladung nicht vergessen haben. Ich freu mich auf Sie.“
Eine halbe Stunde später läutete Peter an der Haustür.
Das junge Mädchen, das ihm öffnete, lächelte freundlich und ging vor ihm her in die weihnachtlich geschmückte Stube. Ein angenehmer Duft von Zimt und Kerzen weckte in ihm Erinnerungen an seine Kindheit.
Der Alte Fritz saß in seinem bejahrten Sessel und streckte ihm die Hände entgegen. Auf dem Tisch lagen zwei medizinische Fachbücher, deren Schutzumschlag Wasserflecken aufwies.
„Darf ich vorstellen, meine Enkelin Franzi – Peter Sauter, der junge Mann, der mich aus dem Schneechaos gerettet hat.“
„Sie sind… also nicht die Frau Weber?“ Die Überraschung in Peters Gesicht war echt.
„Da bin ich ganz sicher“, antwortete Franzi und ließ Peter einen Blick in große graugrüne Augen tun.
Der Großvater schmunzelte ein wenig, sein Gesicht schien plötzlich glatt und jugendlich. Es wurde ein sehr fröhlicher Abend...


© Hans Finke 2010


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Kommentare zu "Eine Weihnachtsgeschichte"

Re: Eine Weihnachtsgeschichte

Autor: noé   Datum: 21.12.2013 15:46 Uhr

Kommentar: Toll, wieder so lebendig, und Ende offen - oder doch nicht so ganz... Schön!
Kerzenduftgrüße von noé

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