Heute ist Nikolaustag! Es wird ein besonderer Abend. Die Grosseltern und Paten werden da sein. Die Kinder Werner, Robert und Helene helfen beim Schmücken. Das Tischtuch mit Advents-Stickereien wird nur zu besonderen Gelegenheiten hervorgeholt. So wie heute.
Die Kinder sind schon zappelig, ganz besonders die Jüngste, Eva. Sie wollen dem Sankt Nikolaus ein Lied vorsingen und ein Sprüchlein vortragen. Aufgeregt plappert Eva ihr Verslein vor sich hin.

Auch die Nachbarn sind mit ihrem Buben Fredy da. Bei ihnen sei der Sankt Nikolaus noch nie gekommen, sagen sie. Das kann doch nicht sein! Ob der heilige Mann den Fredy nicht kennt? Nun, jetzt ist Fredy da und Nikolaus kann ihn unmöglich übersehen! Aber Fredy ist nicht glücklich. Er fühlt sich überhaupt nicht wohl in seiner Haut. Der Nikolaus habe einen Gehilfen, der die Kinder in den Sack stecke und mitnehme, haben ihm die Nachbarskinder erzählt. Und manchmal benütze er auch seine Fitze, um den unartigen Kindern den Hosenboden zu versohlen. Fredy kriecht unter den Tisch und drapiert das herabfallende Tischtuch zum Sichtschutz. Hier wird ihn der Schmutzli nicht finden. Doch ganz so sicher fühlt er sich doch nicht.

Eva kann ihr Sprüchlein auswendig. Sie ist stolz und freut sich darauf, es dem Nikolaus endlich vortragen zu dürfen. Die Zeit vergeht. „Wann endlich kommt der Nikolaus?“ Immer wieder rennt Eva zum Fenster und späht erwartungsvoll in die Nacht. „Bald.“ Auch die Erwachsenen werden langsam ungeduldig: Die Bäuche knurren. Das Essen muss warten bis nach dem Besuch, so will es der Brauch.

Eva mag nicht mehr warten. Sie rennt zum Garderobenkasten und holt ihren Mantel. „Nein, Eva, du bleibst hier!“ Eva denkt überhaupt nicht daran, die warme Stube zu verlassen. Nein, wenn der Nikolaus nicht kommen will, so spielt sie eben selber den heiligen Mann: Sie knöpft sich ihren roten Mantel verkehrt herum zu und bindet sich das Pelzkrägelchen um das Kinn und hinter den Ohren zusammen. Das ist ihr Bart. Jetzt fehlt nur noch eine Bischofsmütze, Mutters roter Hut und ein Bischofsstab, der schwarze Regenschirm. So stolziert sie ins Wohnzimmer, baut sich vor den Gschwistern auf und ruft mit tiefer Stimme: „Kinder, seid ihr immer brav gewesen? Wollt ihr mir ein Sprüchlein aufsagen?“. Ihre Geschwister lachen nur. Da wendet sich Eva Fredy zu, der immer noch unter dem Tisch hockt: „Fredy, sag dein Sprüchlein auf, sonst muss ich dich in den Sack stecken.“ Und da bricht das ganze Elend aus Fredy heraus. Er weint wie ein Schlosshund. Evas Mutter ist nicht erfreut und schimpft mit Eva: „Das ist nicht lieb von dir, unseren Gast derart zu plagen. Und wenn der Nikolaus sieht, wie du ihn ausgemacht hast, wird er dies gewiss nicht lustig finden!“ Eva schleicht kleinlaut zurück zur Garderobe und versorgt Mantel, Hut und Regenschirm.

Da endlich klopft es an der Tür. Der Nikolaus ist da! Er ist in Begleitung vom Schmutzli und von zwei Engeln. Der Schmutzli ist wahrlich erschreckend gross und russig und er trägt einen grossen Sack. Der kleine Engel trägt eine Laterne, die stellt er jetzt zu seinen Füssen ab. Der zweite Engel ist so gross wie der Nikolaus. Er trägt ein dickes Buch. Das reicht er nun dem Nikolaus und übernimmt dafür den Stab. Der Nikolaus schaut in die Runde, er fixiert jeden einzelnen und donnert dann: „So, da bin ich nun! Könnt ihr mir ein Sprüchlein aufsagen?“ Dieser Nikolaus scheint nicht sehr lieb zu sein! So hat sich Eva den Nikolaus nicht vorgestellt! Eva steht eingeschüchtert vor ihm und schaut zu Boden. Sie sagt kein Wort. „Was ist mit diesem verstockten Kind? So benimmt man sich nicht!“ Der Nikolaus tadelt Eva. Da kommt ihr Fredy zu Hilfe. Er krabbelt unter dem Tisch hervor, stellt sich vor den Nikolaus hin und sagt fehlerfrei sein Verslein auf. Danke, Fredy! Du hast die Familie gerettet!

Als der Nikolaus endlich gegangen ist, atmen alle auf: Auf diesen griesgrämigen Nikolaus hätte man gut verzichten können.

Oder ist etwa doch Eva mit ihrem Nikolaus-Theater Schuld an seinem groben Benehmen?


© Pia Koch-Studiger


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