Ursulas Sorgen im Advent (Copyright G.Greschke-Begemann)


Ursula war diese Nacht mit ihren Jüngsten unterwegs, den Zwillingen Urs und Uschi. Sie wollte den Kindern Bewegung verschaffen, weil die beiden noch so aufgeregt und zappelig waren. Sie hatten heute den Alten kennen gelernt, ihren Vater. So plötzlich hatte dieser groß und bärenhaft vor ihnen gestanden, dass die Kinder ganz erschrocken waren.
Auch Ursula war sehr überrascht gewesen, dass der Alte zu dieser Zeit des Jahres schon zu Besuch gekommen war, sonst kam er immer frühestens im Januar zu ihr zurück. Besonders ungewöhnlich war, dass der Alte mit seinen Jüngsten gesprochen hatte. Sogar die Geschichte der Ahnen hatte er ihnen erzählt !
Er kannte noch die überlieferten Erinnerungen an die Verschleppung seiner Vorfahren aus dem weiten Land hinter dem großen Meer. Dort waren die Winter besonders kalt und dauerten sehr lange, ihre Familien lebten dort in riesigen Wäldern. Und von dort stammte die Tradition ihrer silbernen Pelzmäntel, die sie seit unzähligen Generationen mit schwarzen Ringelstreifen am hinteren Ende trugen, weil eine Ur-ur-ur-Großmutter sehr eitel gewesen war und vornehmer aussehen wollte als die anderen Bewohner des Landes. Diese originelle Ur-Ahnin hatte es auch mit ihrem Makeup vielleicht etwas übertrieben, denn um die Augen herum hatte sie so viel Schwarz aufgetragen, dass eine maskenartige große Brille entstanden war im sonst weißen Gesicht. Diese Ahnin war nicht nur eitel, sondern auch besonders klug gewesen, darum hatten die Nachfahren zu ihren Ehren diese Färbung beibehalten. So wirkten die blanken Augen ihrer Sippe besonders neugierig und groß über der dunklen Nasenspitze.

Der Alte hatte erzählt, dass ihre Familien schon vor vielen Generationen in dieses Land gekommen waren. In vieler Hinsicht ließ es sich hier leichter leben als in der alten Heimat mit den schrecklich langen und sehr eisigen Wintern, wo sie gejagt und vertrieben wurden, wenn sie sich den Menschen näherten und wo es viel schwieriger war, satt zu werden. Zwar war es in diesem neuen Land weniger gefährlich, die Kinder groß zu ziehen, doch sie blieben Fremde und akzeptiert wurden sie auch hier nicht von den Alteingesessenen. Für ihre Sippen war noch kein Platz gefunden worden in der alten Gesellschaftsordnung. Sie wurden misstrauisch beäugt, weil sie eigene Bräuche pflegten, die die Alt-Eingesessenen nicht kannten. Es war sonderbar: obwohl diese Einheimischen selbst viele Wandel erlebt und ihre Wohnformen ebenfalls schon sehr verändert hatten, mochten sie die Eigenheiten der Zugezogenen nicht. Die Sitten und Gebräuche der Neuen schadeten zwar niemendem und beeinträchtigten die schon Ansässigen nicht, doch denen war alles Fremde unbehaglich, seien es auch nur die harmlosen anderen Ess-Manieren der Einwanderer. Die wuschen sich beim Essen häufig rituell die Hände, so etwas kannten die Einheimischen nicht.
Wahrscheinlich waren einige auch neidisch, weil die Einwanderer so attraktiv aussahen mit ihren modischen Pelzen und den großen neugierigen Augen in den hübschen kindlichen Gesichtern. Die Neuen waren vielseitig begabt: sie konnten gut schwimmen, laufen, klettern und waren mit den Händen besonders geschickt. Dazu waren sie sehr intelligent und lernten schnell. Alles das machte die anderen eifersüchtig.

Die Neuen versuchten, unauffällig zu bleiben. So hatten sie die späten Nachtstunden gewählt, um ihre Angelegenheiten zu erledigen. Doch selbst das wurde ihnen verübelt, obwohl sie sich ausgesprochen leise verhielten und von den Menschen überhaupt nur äußerst selten gesehen wurden. Mit Essen versorgten sie sich oft aus den vielen Abfällen, die in großen Tonnen oder Plastiksäcken bei den Häusern standen.

Mutter Ursula seufzte. Der Alte hatte seinen Kindern zwar von ihrer Herkunft und den Traditionen erzählt, doch wie sollte sie ihren Kleinen die Gründe dafür erklären, dass die anderen sie nicht mochten ? Die Zwillinge würden bald merken, dass sie Außenseiter waren und wie sollte Ursula verhindern, dass die Kinder deswegen traurig und wütend würden ?
Tief in Gedanken folgte sie ihren Kindern nach unten zum Bach, an dem die kleine Stadt lag. Uschi und Urs hatten sofort begonnen, die Steine dort zu greifen und neugierig darunter zu lugen, auch Ursula wusch sich aus alter Gewohnheit die Hände – genau genommen wusch sie sich die Vorderpfoten, sie konnte gar nicht anders, es lag ihr im Blut – sie war nun mal eine echte Waschbärin.

Jetzt war die Zeit der schönen langen Nächte, die allerdings auch viel kälter waren als im Sommer. Das war jedoch nicht Ursulas Problem, die silbergrauen Pelze schützten sie alle gut vor dem Frost, machten sie in der Nacht fast unsichtbar für neugierige Blicke. Ihre größte Sorge waren die Menschen, die in schnellen Autos unterwegs waren. Mit grell blendenden Lichtern kamen die Fahrzeuge unverhofft so schnell angerast, dass schon viele von ihrer Art gestorben waren, weil sie nicht schnell genug über eine Straße gerannt waren oder von einem Hund gejagt wurden und nicht auf herannahende Fahrzeuge gelauscht hatten.

Die Zwillinge wollten schnell weiter in den Ort, es war ihnen aufgefallen, dass viele der Häuser beleuchtet waren, sie wollten sich das aus der Nähe ansehen. „Vergesst bloß nicht, auf die Autos zu achten!“ ermahnte Ursula die beiden wohl schon zum Hundertsten Mal.
Die beleuchteten Häuser kannte sie schon: Wenn die Nächte am längsten wurden, begannen die Menschen, ihre Häuser und Gärten zu schmücken mit weißen und bunten Lichterketten, mit Kerzenleuchtern, Sternen und Engeln, dazu kamen viele dicke rote Männer mit weißem Bart. Tierfiguren gab es ebenfalls. Besonders schienen die Menschen jetzt ein Tier aus Ursulas alter Heimat zu lieben: Elche waren vor Schlitten gespannt, meist saß der dicke rote Mann darauf und hatte eine Sack und Kisten dabei. Waschbären gab es nicht, höchstens mal Pinguine, Rehe, Hirsche oder Rentiere.
Die Waschbären hatten sich weit in die kleine Stadt gewagt und Ursula beobachtete stolz ihre beiden Jüngsten, die völlig glücklich waren. Sie standen vor einem großen beleuchteten Fenster, ihre schwarzen Näschen berührten das kalte Glas, wie verzaubert schauten sie auf die bunte Welt hinter der Scheibe: eine kleine Eisenbahn rollte auf Schienen, Gruppen von niedlichen Bären saßen herum, die aber breitere Gesichter hatten als Uschi und Urs, ganz viele Bücher waren ausgestellt mit bunten Bildern darauf und an einer Leine waren quer durch das Fenster prächtige glitzernde Bilder aufgehängt. Diese Bilder hatten kleine Türchen darin, einige waren aufgeklappt und in den Löchern waren wieder neue, andere Bilder. Dann sah Ursula, wie sich Uschis vorher so entzücktes süßes Gesichtchen veränderte:
„Alle sind sie da auf den bunten Bildern, ein Menschenbaby und alle anderen Tiere. Warum sind wir nicht dabei ?“ Sie versuchte, ihre Tränen zu verstecken und schluckte mühsam. Ihr Bruder hatte das noch nicht bemerkt, weil ihn die Eisenbahn so interessierte. Ursula legte den beiden die Arme um die Schultern und drückte sie: „Es wird Zeit für uns, wie müssen gehen“ sagte sie. Schweigend und vorsichtig huschten sie den Hang hinauf. Kurz vor ihrem Dickicht am Hochwald stoppte Ursula, sie sah Licht an ihrem Wohnplatz. Die Kinder drängten sich ängstlich an sie, dann hörten sie den Alten von oben brummen: „Kommt her, ihr sollt auch einen Adventskalender haben !“
Die drei liefen weiter. Da lehnte ihr großer Vater an dem dicken Stamm der umgefallenen Kiefer, unter dem ihr Schlafzimmer war. Neben ihm brannte eine Kerze in einem Gurkenglas. Doch das Schönste war ein buntes Bild, das er hinter dem Windlicht aufgestellt hatte, das hatte sogar Türchen zum Öffnen! Uschi und Urs fanden erst keine Worte vor Überraschung und Freude. Dann durften sie ein Türchen öffnen und waren verzaubert von dem Bild eines Teddys, das hinter der Tür erschien. Der brummige Alte schien fast ein wenig zu lächeln, Ursula und die Kinder strahlten vor Freude. Dann griff der Große hinter sich und legte einen Beutel mit Essen in die Mitte: Äpfel, Mandarinen, Katzenfutter, ein paar Kekse und ein halbes Brot hatte er mitgebracht. Der fröhliche Urs hüpfte vor Freude und griff sich ein Plätzchen, auch Uschi war wieder ganz und gar glücklich.
Ursula wollte wissen, wie der Alte das geschafft hatte. „Die Menschen werfen doch immer ihre Sachen weg. Alles, was ich brauche, finde ich leicht in ihren großen gelben Plastiksäcken“ brummelte er verächtlich. Den Adventskalender hatte er schon im letzten Jahr eingesammelt und versteckt. „Er ist eben ein besonders weiser Waschbär“ dachte Ursula stolz.
Auch die Kinder bewunderten ihn, doch der Vater knurrte nur verlegen:
„Ich bin kein Weihnachtsmann. Ich komme nicht jedes Jahr wieder! Merkt euch das!“

Als der Alte vor dem spät anbrechenden Morgen gegangen war, kuschelten sich die Zwillinge warm an ihre Mutter und schliefen sofort ein. Der optimistische Urs träumte von der Zukunft: Alle anderen Tiere hatten begriffen, dass die eingewanderten Waschbären jetzt zu ihnen gehörten. Auf allen Adventskalendern waren nun auch putzige Waschbären mit geschickten Pfötchen zu sehen. Sie waren diejenigen, die nicht nur herumstanden und staunten, sondern sie packten die Päckchen, kauften und verkauften an den Marktbuden und auf den Krippenbildern hielten sie Kerzen oder Laternen und sorgten für Licht im dunklen Stall. Das war auch gut so, denn das Baby im Futtertrog hatte natürlich keinen leuchtenden Kringel am Kopf !


© Gerda Greschke-Begemann


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Beschreibung des Autors zu "Ursulas Sorgen im Advent"

Ironische Geschichte von einer ungewöhnlichen Einwandererfamilie, ihren Sorgen und ihren Träumen - und ihrer Perspektive.

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