Labyrinth der Extreme Teil 1

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Es regnet seit Tagen. Die Tropfen kommen wieder vom Himmel. Wieder und wieder. Wie unauslöschliche Erinnerungen. Sie prasseln auf das Dach der Menschen, die ein Dach haben. Die keines haben, hören nichts. Wer hört, der fühlt. Wer fühlt, der sieht.

Michael wird von seiner Freundin verlassen. Verlassen zu werden ist ein bisschen so wie sterben. Ihr gefiel es nicht mehr, dass er immer nur rumhängen und gar nicht mehr ausgehen wollte. Er zockt den halben Tag Videospiele, stopft sich ungarische Chips rein und trinkt Red Bull ohne Ende. Ein fauler Lappen. Er kümmert sich nicht mehr um die Beziehung. Sie ist für ihn so alltäglich geworden, wie die Fußmatte vor der Haustür. Alltag kann Sicherheit oder der Tod sein. Eins von beidem. Selten dazwischen. Wie ein Möbelstück, das einfach dazu gehört. Ein Sessel, geerbt von Oma und Opa. Michael hat die Bilder einer anderen auf Insta geliked. Liken heißt mögen, so munkelt man. Oder gar lieben? Und das waren Bilder, die viel Haut zeigen. Wer ein Bild zu mögen oder zu lieben glaubt, ohne den Menschen zu kennen, hasst sich meistens selbst. Hass ist der Bruder groß gewordener Angst. Daniela sieht es. Als sie es sieht, dreht sich ihr Herz in der Brust um, krampft sich zusammen. Es wird kleiner und atmet schwerer als zuvor. Enttäuschung ist so als ertränke man frohen Willen der Freiheit im stinkenden Sumpf der Lügen. Nach den Tränen folgt die Gewissheit. Sie hat genug. Sie gibt ihm den Laufpass. Endgültig. Ein für alle Mal. Per Whatsapp. Für ein echtes Gespräch fehlt ihr die Lust und die Zeit. Wer Zeit denkt, lebt nicht. Wer Zeit fühlt, stirbt nicht. Sie ist irgendwo dazwischen. Und vielleicht ist sie auch ein bisschen feige. Vor allem aber wiegt ihr Ego schwerer als es sollte. Sie weiß, dass Männer in der Warteschlange und wie Sand am Meer zur Verfügung stehen. Es gibt viele da draußen. Und wenige, die es wirklich wert sind. Erst als SIE geht, versteht ER was er verloren hat. Nun krampft der Schmerz sein Herz. Herzkrämpfe sind die Gleichberechtigung der Geschlechter, wenn es um echte Gefühle geht. Das leere Zimmer ohne ihre Stimme. Fußmatte und Möbel sind noch da. Der Wasserkocher funktioniert. Kein Lachen und keine Küsse. Die Gedanken laufen im Kreis und wiederholen sich. Die Spur im Sand wird tiefer. Runde für Runde. Trocken, kein Wasser, Totenköpfe am Rand. Verlustpanik, als hätte jemand etwas aus seinem Leib herausgeschnitten und irgendwo verbuddelt. Unwiederbringlich. Er ist am Boden zerstört. Er schafft es die ersten Tage kaum noch aus dem Bett, er beginnt depressiv zu werden. Nachts liegt er in seinem Schweiß. Die Matratze drückt, der Reißverschluss der Decke nervt. Die Nerven drohen zu reißen. Das Kissen verrenkt seinen Nacken. Die Luft ist schwer. Die Seele droht zu ertrinken. Und je weniger aktiv er ist, desto depressiver wird er. Selbst Kaffee kochen fällt ihm schwer. Obgleich der Wasserkocher funktioniert. Das Wasser im Kocher wird heiß, seine Haut ist kalt.
Sein Nacken versteift sich immer mehr, so dass er wie ein Roboter laufen muss. Zum Kühlschrank und von dort zum Bett zurück. Im Spiegel sieht er einen müden Menschen ohne Hoffnung in den Augen. Er macht auch keinen Sport mehr. Und er nimmt ab, 7 Kilo in nur einer Woche. Er trinkt Tee und Kaffee aus dem Kocher. Er mischt Tee und Kaffee mit Wodka. Er isst fast nichts mehr. Das Hungergefühl ist erwürgt von einem übermächtigen Gegner. Es ist, als werde er innerlich zerfressen von einem Parasiten. Hinter dieser grauen Wand aus Nebel ist alles erloschen. Er wird immer träger und trägt die Last der Steine seiner Seele nicht mehr. 2 Wochen später ist Daniela mit Jamal aus der Parallelklasse zusammen. Jamal ist ein Arschloch. Keine Beleidigung, sondern lediglich eine Feststellung. Sie küssen sich und laden die Bilder auf Insta hoch. Es zerreißt ihm sein Herz. Er will durch die Wand rennen. Aus Traurigkeit wird Wut. Er prügelt er auf den Boden, bis sich die Haut von den Fingerknöcheln schält und blutet. Er saugt daran.
Er fühlt den körperlichen Schmerz nicht. Die Dunkelheit hat ihn betäubt. Am selben Tag verliert Michaels Vater seinen Job beim Maschinenbauer. Er hört den Lärm aus Michaels Zimmer, geht rein und verprügelt seinen Sohn im Suff, bis er die Arme nicht mehr heben kann. Als er zu Atem kommt, redet er auf seinen Sohn ein, als wäre er ein Hund. „Bring mir ein Bier und halt bloß die Fresse. Heul nicht. Ich hatte einen Scheißtag. Das musst du aushalten können. Sonst bist du kein Mann“. Er hatte sich im Betrieb mit „so einem Kanacken“ angelegt und musste nun gehen. „Die eigenen Leute schmeißen sie raus. So weit ist unsere Bananenrepublik schon gekommen“. Er brüllt sich in Rage. Das Schwein habe ihn provoziert. „Wer um Schläge bettelt ist bei mir an der richtigen Adresse.“ Er packt sich sein Bier und leert es in einem Zug. Er rülpst. Es stinkt. Er knallt die Flasche auf den Tisch, dass es nur so scheppert. Das Scheppern scheint ihn zu animieren. Er schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Volksverräter“, geifert er und bestellt von seinem Sohn noch ein Bier. „Die denken wir sind alle Weicheier und sie könnten uns verarschen. Nicht mit mir. Nicht mit mir.“ Der Junge muss spuren, gehorchen. So zäh wie Leder, so flink wie ein Windhund und so hart wie Kruppstall soll er sein. Schweißperlen stehen im dunklen Schnauzbart des Alten. „Der hat mir ins Gesicht gespuckt, dieser kleine Bimbo.“ Der Schnauzbart zieht sich zusammen als wolle er abfliegen. Michael hört es, während er in den Kühlschrank greift. Zwischen den Bierflaschen stapelt sich Fertignahrung. Seit die beiden alleine waren, wurde nicht mehr wirklich gekocht. Wer nicht kochen kann, kann selten leben. Das nächste Bier hängt an den Lippen des Alten. Trockene Lippen, obwohl er doch so viel am Saufen ist. Während er trinkt, herrscht Stille. Lautlosigkeit. Ruhe. Wenn er absetzt, herrscht Hass. Lärm. Wut. „Heute tolerant, morgen fremd im eigenen Land. Wir sind so eine degenerierte Nation. Das wird noch im Bürgerkrieg enden“. Wer vom Ende redet, hat den Anfang nicht begriffen. Er hört jedes Wort seines besoffenen und nun arbeitslosen Vaters. Worte können den Geist vergiften. Vor allem dann, wenn sie Körner von Wahrheit enthalten, die sich zu einer Wüste sammeln. Eine Wüste, in der es nur noch Feinde gibt und das Wasser der Freundschaft nur eine Fata Morgana ist. Wer nur noch schwarz sieht, verliert den Blick für das Gute in den Menschen. Die Psyche gewöhnt sich an die Empörung und daran die Schuld für das eigene Leid einem Feindbild zuzuschreiben. Ein Feindbild, dass das Schicksal mit den tristen Farben von Wut und Trauer malt. Ein Feindbild, das Köpfe wäscht, bis nichts mehr bleibt. Aus jeder Sekunde ohne Struktur und Hoffnung und Orientierung schlägt es Kapital. Kapital künftiger Kriege. Der Alte sieht den Jungen an. Ein abfälliger Blick. Gering- statt Wertschätzung. Der Stoff aus dem der Terror ist. Der Junge sieht den Alten an. Ein leerer Blick, hinter dem sich die Saat des Bösen in einem Gewirr der Gefühle befruchtet. Körperliche Schmerzen fühlt er längst nicht mehr. Sie sind verschüttet unter der kalten Lawine von Liebeskummer und dem Virus der großen Verschwörung. Er teilt immer mehr die rasende Wut seines Vaters. Seine Fratze spiegelt sich in seiner drückenden Depression. Der Nebel wird durchzogen von Dunkelheit und Blitzen. Feuer über Land, Erdbeben im Meer. Er beißt auf die Zähne, ballt die Fäuste und der Funke in seinen Augen will brennen. Er hört es zu Hause immer wieder. Die Kanacken, die Ausländer. Die Volksverräter. Das Volk. Das Volk, das irgendwann aufstehen muss und dann werde aufgeräumt. Daniela, die er an Jamal verloren hat. Das verlorene Lachen, die verlorenen Küsse. Die verlorene Liebe. Und jeden Tag dieselbe Fußmatte, dieselben Möbel, derselbe Wasserkocher und dieselbe negative Energie. Ohne Liebe gibt es keine Freiheit. Und wer nicht frei ist, wird unberechenbar. Ein Getriebener. Eine Flucht vor sich selbst. Eine Flucht vor der Leere. Ein neuer Sinn im Ausleben von Gewalt wächst aus dem Boden ohne Liebe. Der Fernseher flimmert den halben Tag und saugt den Jungen aus. Ein wiederkehrender Vampir, der gierig Menschen verschlingt. Bilder und Sätze werden in den Stein der Köpfe gemeißelt. Ehrenmorde, Massaker im Namen Allahs, Vergewaltigungen und der Islam als Nährboden des Bösen. Das Buch des Teufels, das sich Koran nennt. Tötungsbefehle. Der in die Jahre gekommene Alevit, der friedlich Pfeife raucht und seiner Tochter die Ehe mit einem Christen erlaubt, verblasst hinter Bildern von Blut und Terror. Ein gemeinsames Gartenbauprojekt von Muslimen und Christen schafft es auf die letzte Seite des Münsteraner Tagblatts. Sie steinigen Frauen, sie verheiraten Kindern, sie misshandeln unsere Frauen. Von Köln bis Freiburg zieht sich die Blutige Linie des Schreckens der Männer aus dem Orient.
Sie sind es, die hier nicht hingehören. Der freundliche Gemüsehändler von Nebenan ist eine Ausnahme von der Regel. Hingegen lauert überall der Schlächter im Namen Allahs. Dabei kennen sie Gott nicht. Sie schneiden Köpfe ab. Je mehr Bilder in den Kopf kommen, desto stärker wirken sie, ohne dass sie sich dessen bewusst würden. Das Meer unter der Oberfläche verdunkelt sich und erkaltet Stück für Stück, Meter für Meter. Der Kampf der Kulturen und Völker, dem sich der Einzelne vermeintlich nicht zu entziehen vermag. Survival oft the Fittest.

„Denen stecken sie alles in den Arsch und für unsere Leute bleiben nur die Krümel“. Er umkreist mit einem farbigen Marker Zeitungsartikel und legt sie morgens auf den Küchentisch. Der Kaffee dampft und das Gift wirkt. „Wieder Krawalle in Asylbewerberunterkunft“. Früher dachte Michael sein Vater übertreibe. Jetzt nicht mehr. Auf Facebook liest er von Verschwörungen. Vom deutschen Volk soll nie wieder Krieg ausgehen. Deswegen muss es von außen zersetzt und von innen heraus degeneriert werden. Die Deutschen sind eigentlich das stärkste und das einzige Volk, das die internationale kapitalistische Ausbeutung stoppen könnte. Die Politik des Feminismus und der Heimatlosigkeit, der Entmännlichung und Negation aller ehrenhaften Werte durch eine kleine Elite in Hinterzimmern. Die Kastration der Germanen. Die Zerstörung der deutschen Familie als Keimzelle der Gesellschaft. Die Erinnerungen an seinen besten Freund Mehmet aus dem Kindergarten verblassen hinter der Gegenwart. Die Sandburg des Friedens zerfällt. Er fühlt sich schlecht, innerlich wie amputiert. Es fehlt etwas. Und er will sich nicht mehr länger schlecht fühlen. Er beginnt immer mehr so zu denken, wie sein Vater spricht. Eines Tages sagt er in der Klasse, dass, „die vielen Ausländer“ an allem schuld seien. „Die nehmen unseren Leuten die Jobs weg“. „Ohne die wären wir besser dran“. Die Deutschen müssten gegen die Ausländer zusammenhalten. Die Lehrer sind rat- und machtlos. Sie drohen dem Jungen, ohne sich mit ihm zu beschäftigen. Um Gottes Willen darf bloß die Presse nicht davon hören. >>Unsere Schule ist sauber>> "So etwas tolerieren wir hier nicht. Sag das nie wieder." Michael sagt es nie wieder in der Schule, aber er denkt es immer intensiver. Und er fühlt es immer stärker, je mehr ihm gedroht wird und je weniger man ihn versteht. Mit dem Mangel an Fürsorge wächst der Impuls der totalen Opposition gegen alles und jeden.
Michael schließt sich einer Gruppe an, die für den „Widerstand“ kämpft. „Die Wehrwölfe“. Sie kämpfen gegen die „Abschaffung“ des deutschen Volkes. „Wir verstehen dich“, sagt der Anführer zu ihm, als er ihn umarmt. „Wir sind Freunde, die zusammenhalten. Wir stehen für einander ein. Wir sind eine Gemeinschaft“. Die Kameraden führen ihn ein, empfehlen ihm Youtube Kanäle und Bücher. Er beginnt zu lesen. Politische Theorien des Anti-Marxismus, Vordenker der Rassentheorie. Er liest nichts, was seinen Feindbildern zuwiderläuft. Informationen, die sein neues Weltbild angreifen, sind Propaganda und Fälschungen. Die Mächtigen müssen vom Sockel gestoßen werden. Die Videos quetschen Bilder und Informationen in wenige Minuten und dringen mit emotionaler Musik ins Epizentrum von Michaels Hirn vor. Er befindet sich in einem Strudel der Emotionen, der ihn mitreißt. Die langweiligen Politiker der Mitte sagen nicht die Wahrheit, sie lügen. Marionetten. Volksverräter, wie sein Vater sagen würde und wie er selbst es heute denkt.
Und sie halten niemals ihre Versprechen aus dem Wahlkampf. Eine korrupte Elite, die den stolzen deutschen Adler im Käfig bei Wasser und Brot hält. Doch der Adler wird wieder fliegen. Wenn der germanische Stamm wieder erwacht, werden alle Völker still sein. Hier bei den Rechten werden die Probleme beim Namen genannt und kein Volksgenosse wird im Stich gelassen. Zeit für klare Kante. Michael fühlt sich stark und im Kreis auserwählter Menschen, die um die kommende Zeit Bescheid wissen und sich dafür rüsten. Im Video werden Frauen gezeigt. „Opfer von Merkels Politik“. Begrapscht, Belästigt, geschlagen, vergewaltigt und ins Koma geprügelt. Politiker, die von Einzelfällen sprechen und Bilder, die eine ganz andere Sprache sprechen. Eine junge blonde Frau, nur wenige Jahre älter als Michael erzählt unter Tränen: „Auf einmal waren so viele arabisch aussehende Männer um mich herum. Sie waren betrunken, haben gelallt und gelacht und irgendetwas gerufen. Ich hatte solche Angst. Eine Hand kniff in meinen Po. Eine andere schlängelte sich zwischen meine Beine.“ Die Frau hält beide Hände vors Gesicht und schluchzt. Ihre Wangen röten sich. Dann wird Merkels Gesicht eingeblendet, hinterlegt mit bedrohlich klingender Melodie und in grauen Tönen: „Wir schaffen das“.


Michael hat keine Freunde mehr in der Schule. Er denkt sie nicht mehr zu brauchen. Sie sind unwissende Kinder, schlafende Schafe. In einfältigem Bewusstsein gefangen, umzäunt von bösen Mächten und nichts ahnend. Er hält den Schlüssel der Wahrheit in Händen. Nichts ist wertvoller. Er fühlt sich wie ein Gigant. Die Depression ist erloschen. Gelöscht mit Feuer. Er wird ein Wolf sein, kein Schaf. Sie bleiben zurück. Er geht voran. In eine neue Zeit. Eine Zeit, in der Menschen wie er und sein Vater die Anerkennung bekommen, die ihnen zusteht. Keiner, keiner wird ihm jemals wieder die Freundin ausspannen. Er fühlt sich mächtig. So mächtig wie nie zuvor. Macht ist was jeder Mann in der Tiefe seines Instinktes will. Macht und Dominanz. Und der Verlass auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Aufrecht zu stehen und nicht zu fallen und nicht zu kriechen und nicht zu weichen. Keinen Zentimeter. Die Befreiung des deutschen Volkes von den Parasiten, die ihm das Blut aus den Adern saugen. Die Auferstehung aus den Trümmern des linksliberalen Gesinnungsfaschismus, zu Ehre und Stolz zurückzufinden. In seiner Freizeit ist er mit der Gruppe des Widerstandes unterwegs. Sie erleben viel zusammen und sie halten zusammen. Diesen Zusammenhalt hatte er nie zuvor gespürt. Michael fühlt sich dazugehörig und nicht mehr länger als ein Versager. Er beginnt Vertrauen zu fassen. Sein Herz wird wieder leichter. Es ist wie eine Droge, die ihm den Weg aus dem Labyrinth seiner Krise zeigt. Nicht mehr zu leiden ist für den Depressiven das größte Gefühl, da er doch eigentlich schon alle Hoffnung hatte fahren lassen. Jetzt geht es bergauf. Er fühlt sich sicher. Er fühlt sich respektiert und gesehen. Dieses Gefühl spornt ihn an, radikaler zu werden. Er will es allen zeigen. Er träumt davon eine Legende des Widerstandes zu sein. Auch sein Vater würde stolz auf ihn sein. Er trainiert in einem rechtsradikalen Sportkader MMA. Hinter jedem Gegner stellt er sich einen Moslem oder eine linke Bazille vor. Er will ihnen einheizen, ihnen die Scheiße aus dem Hirn prügeln. Seine körperliche Kraft wächst. In den sozialen Netzwerken liest er nur noch Nachrichten, die sein Feindbild bestätigen und hört Musik, die ihn zum „Kampf für Freiheit“ motiviert. Michael ist ein Träumer. Doch um ihn herum wird es dunkel.



Jamals Vater ist Alkoholiker. Sein Blut scheint nach dem Stoff zu rufen. Mit aller Macht. Es ist als brauche er ihn zur Zirkulation des roten Saftes. Der Saft, ohne den es kein Leben gibt. Mit dem Trinken hat er vor zwei Jahren begonnen. Damals hat er seine Arbeit bei einem Maschinenbauer verloren. Die Branche war wegen Corona in eine Krise geraten. Und eine Umschulung wollte er nicht machen, da er seinen Beruf liebte. Weit weg ziehen wollte er auch nicht, da hier seine Heimat ist. Und er hat noch viel mehr verloren zu dieser Zeit. Aber darüber redet er nicht. Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Schweigen kann Gnade sein. Gnade, um weiter auf dem Weg des Lebens zu gehen.

Er schämte sich vor seiner Familie, die er doch ernähren wollte und tat alles, um wieder Arbeit zu finden. Auf seine Bewerbungen bekam er aber immer nur Absagen. Jeder Brief schien im Seriendruck gefertigt mit denselben Buchstaben, die ihm Wut und Angst zugleich bescherten. „Wir wünschen Ihnen auf ihrem Lebensweg alles Gute und viel Erfolg“. Er zerknüllt oder verbrennt das Papier wahlweise. Einmal hat er sich damit sogar den Hintern abgewischt. Ich scheiß auf euch Dreckschweine.

Irgendwann begann Jamals Vater aggressiver zu werden. Er hatte keine Struktur mehr und keine Ventile für Gefühle. Nur eines: Gewalt. Zuerst hat er nur geschrien, doch gestern hat er seine Frau, Jamals Mutter, mit einem Toaster geschlagen und schlimm verprügelt. Sie war grün und blau am ganzen Körper. Jamal wollte helfen, doch er ist zu schwach. Er flüchtet nach draußen. Zwischen den Straßenlaternen des Gehwegs fliegen Fledermäuse. Die Luft ist kalt. Er geht immer schneller, als könne er wirklich vor allem davonlaufen. Da begegnet ihm plötzlich ein Mann. Ein großer Mann. Ein Mann mit langem Bart und ruhigen Augen. Ein Mann, der ein feines Gespür für die Psyche von Menschen hat. Am Gang von Jamal erkennt dieser Mann, dass seine Zeit gekommen ist. Hängende Schultern, anliegende Arme, schlurfende Schritte.


„Junge, warte doch mal einen Augenblick. Was ist passiert? Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht.“


Jamal bleibt stehen, hebt langsam den Blick vom Boden. Den Mann kennt er nur vom Sehen her. Außer normalem Grüßen hatten sie nie Kontakt. Eigentlich will er nicht mit einem Fremden reden. Doch Herr Amadi, so heißt der Mann, wirkt wie ein Mensch, der versteht. Seine Stimme weckt Vertrauen, da sie aus großer Tiefe zu kommen scheint. Amadi zeigt seine offenen Handflächen, als wolle er ihm etwas schenken oder ihn zu etwas einladen. In Jamal herrscht Chaos. Und er muss mit jemandem reden, sonst platzt er noch. Die Gedankenspiralen zerfressen ihn.

„Mein Vater schlägt meine Mutter. Er trinkt einfach viel zu viel und es wird nicht besser.“ Die Stimme von Jamal überschlägt sich. „Es wird nicht besser“, wiederholt er mit zitternder Stimme und brüllt wütend seine Verzweiflung in die Nacht hinaus. Ohnmacht ist ein Gefängnis ohne Kerkerschlüssel.

Er weiß, dass Familienangelegenheiten eigentlich niemanden etwas angehen.

„Ich liebe meine Eltern und würde nie schlecht von Ihnen reden. Aber ich weiß einfach nicht mehr was ich tun soll“. Er vergräbt seine Hände im Gesicht.
Stille. Dann boxt er wild in die Luft:
„Ich drehe noch komplett durch“.

Herr Amadi packt Jamal mit beiden Händen am Kopf.
„Jamal, Jamal! Hör mir zu! Hör mir zu! Du musst jetzt stark sein. Stark für deine Familie. Du bist kein Kind mehr. Du bist jetzt ein Mann!"
Die starke Stimme Amadis verleiht den Worten eine besondere Glaubwürdigkeit.


Amadi nimmt Jamal in den Arm. Er drückt ihn fest an sich. Jamal bekommt Gänsehaut. So einen Moment hat er schon lange nicht mehr erlebt.

„Weißt du, Jamal. Allah wird uns führen und alles wird gut werden. Hab Vertrauen. Er wird dir die Kraft schenken, die du brauchst. Ich kenne deinen Vater. Wenn er zu Allah zurückfindet, wird alles wieder gut werden. Kümmere dich um deine Eltern. Gib Ihnen das Gefühl, dass du sie immer lieben wirst. Du bist kein Kind mehr. Du bist ein Mann, jetzt bist du ein Löwe“.

Die beiden reden noch eine Weile über Jamals Probleme in der Schule. Von dem Lehrer, der es auf ihn abgesehen habe und von dem Schüler, der ein Nazi sei. Amadi ist ein guter Zuhörer. Er belebt das Gespräch mit einzelnen Erinnerungen seiner eigenen Schulzeit und wie schön es damals gewesen sei in Adana. Schöne Erinnerungen sind wie Träume der Zukunft. Als Jamal schweigt, lauschen beide der Stille.

Als Jamal sich verabschiedet, fühlt er sich erleichtert. Er fühlt sich verstanden.

Am folgenden Nachmittag begegnet Jamal auf dem Nachhauseweg erneut Herr Amadi. Sie grüßen sich herzlich. „Danke, dass Sie mir gestern zugehört haben“.

Er legt die Hand auf die Schulter des Jungen.

„Ich sehe etwas in dir, Jamal. Du bist ein Bruder und Brüder lassen sich nicht im Stich“.

Amadi lädt Jamal auf eine Tasse schwarzen Tee zu sich ein. Das Zimmer strahlt eine schlichte Schönheit aus. An der Wand hängt ein Bild von Salahuddin al-Ayubi. Die Kaaba in Miniaturformat steht auf dem Tisch. Die Kanne glänzt in der durch die seidenen Vorhänge dringenden Sonne. Amadie gießt den Tee in die Gläser. Es sieht aus wie flüssiger Bernstein.


„Bruder, weißt du, das mit deinem Vater…Dein Vater hat einen guten Kern. Er ist ein guter Mensch. Was glaubst du wohl, warum er seine Arbeit verloren hat und keine neue findet? Ich werde es dir sagen…“

Amadi nimmt einen Schluck Tee und schaut aus dem Fenster, als suche er in der Ferne nach Worten. Er rückt mit dem Stuhl ein Stück näher an Jamal heran. Er legt ihm die Hand auf die Schulter. Dann sieht er Jamal direkt in die Augen. Die Pupillen scheinen größer zu werden.

„Er hat schwarze Haare, genau wie du und ich. Er hat dunkle Augen, genau wie du und ich. Sein Name ist nicht Deutsch, genauso wenig wie deiner und meiner. Seine Religion, die auch deine und meine ist, macht den Kuffar Angst. Sie sind gottlos. Sie verstehen uns nicht. Was erwartest du da? Sie sind rassistisch. Sie werden uns niemals akzeptieren. Nur wir selbst können uns helfen, wenn wir uns bewusst werden.“
Die letzten fünf Worte sprach er mit einem Mix aus Kraft und Ärger, der appellieren soll, nicht länger passiv zu bleiben.

Jamal ist immer noch emotional aufgewühlt wegen der Situation zu Hause. Zwischen den Scheuklappen der Krise verengt sich sein Blick. Jetzt verändern sich seine Gefühle. Die Worte von Amadi klingen in seinem Kopf nach. Es scheint ihm, als habe er endlich die Lösung gefunden. Allah ist der Weg und die Kuffar sind schuld am Unglück seiner Familie. Amadi lädt ihn zu sich in die Moschee ein und danach reden sie wieder. Und wieder und wieder. Aus Verachtung gegenüber den Kuffar wird irgendwann Hass. Eines Tages droht Jamal in der Schule einem deutschen Mitschüler namens Michael, er werde ihm den Kopf abschneiden und seine ehrenlose Schwester vergewaltigen. Jamal ist ein Träumer. Doch um ihn herum wird es dunkel.


© Copyright J. Renner 2022


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Beschreibung des Autors zu "Labyrinth der Extreme Teil 1"

Kurzgeschichte zur Radikalisierungsprävention. Hinter Menschen stecken Geschichten und Schicksale. Wie würdet ihr mit Jamal und Michael reden? Was würdet ihr tun?


Der Hintergrund der Geschichte ist Radikalisierung im politischen und religiösen Sinne. Das soll Religion im Übrigen nicht pauschal als gefährlich darstellen.
Im Gegenteil kann Religion Menschen Halt und Werte vermitteln. Extremistische Strömungen bauen aber bewusst Hass auf Ungläubige auf, indem sie ein "Wir gegen die" Schema etablieren.


Im nächsten Teil: Jamal hat Michael beleidigt. Michael ist wütend...

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Kommentare zu "Labyrinth der Extreme Teil 1"

Re: Labyrinth der Extreme Teil 1

Autor: Angélique Duvier   Datum: 02.02.2022 14:48 Uhr

Kommentar: Die Geschichte ist sehr berührend und regt an nachzudenken. Grenzen haben die Menschen gebaut, ebenso wie Religionen erschaffen.

L.G.

Angélique

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