Sie sagten, es würde nicht wehtun.
Sie sagten, es würde aufhören.
Sie sagten, sie würden uns nicht verletzen.
Du hast gesagt, dass mir nichts passieren würde.
Alle sagten, es würde besser werden.
Doch sie haben gelogen. Sie alle lügen. Sie lügen immer.

Wusstest du das? Wusstest du davon? Wusstest du, dass sie lügen würden?
Ich höre Schreie, sehe verschwommen, versuche aufzustehen, doch ich schaffe es nicht. Ich schaue an mir herab. Meine Hände zittern und meine Kleidung ist von Flecken, in verschiedenen Farbtönen übersät. Ich sitze auf meinen bluteten Knien, auf einer völlig zerstörten Straße. Neben mir stehen und liegen kaputte Autos. Schwarze, blaue, rote oder silberne Autos. Um mich herum ragen hohe Häuserfassaden in den Himmel, teils sind die Fensterfronten völlig zerstört. Überall liegen Glassplitter, die in der Sonne glitzern. Sie sehen aus wie Edelsteine, wenn sie so glitzern. Sie glitzern wie die Halskette meiner Mama, die Papa ihr geschenkt hatte. Mein Papa liebt meine Mama sehr, weil er sie immer so liebevoll anschaut.
Was soll ich denn jetzt bloß tun?
Ich habe keine Chance.
Nicht alleine.
In meinem Ohr piept es und um mich herum rennen, humpeln, krabbeln Menschen. Alles geschieht in Zeitlupe. Dort hinten, ja dort, höre ich Schreie.
Hörst du sie auch? Nein? Warum hörst du sie nicht? Höre genauer! Vielleicht hörst du dann auch den Schrei der Frau dort vorn. „Last mich los! Bitte nicht. Ich flehe Sie an!“, schreit sie mit bebender Stimme.
Hörst du sie wirklich nicht? Dann bist du in Sicherheit. Ich bin es nicht und werde es auch nie sein.
Ich wiege mich leicht hin und her. Meine Mama singt mir immer was vor, wenn ich traurig bin. Jetzt darf ich nicht traurig sein. „Weine nicht“, hat sie gesagt und dann sang sie, oder viel mehr summte sie, wiegte mich in ihren Armen, damals als alles noch anders war.
Der schrille Schrei der viel zu jungen Frau erlischt nach einem lauten Knall. Wie alle anderen vor ihr musste auch sie sterben. Aber warum?
Wusstest du das? Weißt du jetzt davon? Warum unter nimmst du nichts? Wieso nicht?

Wieder dieses schreckliche Piepen. Es ist so laut. So laut. Bitte! Bitte, sag ihnen, dass sie aufhören sollen! Sag ihnen, dass sie es geschafft haben. Sag ihnen, dass sie gewonnen haben. Von weitem höre ich ein lautes marschieren von einer Soldatengruppe, ein eintöniges, gleichmäßiges Stampfen von Füßen. Alle im gleichen Takt. Links Rechts, Links Rechts, Links Rechts. Hörst du es auch hinter dir? Den gleichmäßigen Takt, den ich auch höre? Nein? Wieso nicht? Wieso hörst du ihn nicht? Wo bist du, wo es solch einen Takt nicht alltäglich zu hören gibt? Ich möchte auch dorthin…Holst du mich? Wirst du mich retten? Schließe kurz deine Augen. Du sollst sie schließen! Hörst du jetzt das eintönige stampfen? Hörst du die Kommandos, die einer lautschreiend von sich gibt?
Bald sind sie da. Sie werden mich retten. Ich lächle. Ja, Lachen hilft immer. Hilft es denn jetzt auch?
Weißt du mein Daddy ist auch Soldat, aber ein netter Soldat, einer der keine Menschen tötet, wenn dann nur die bösen. Ich bin stolz auf ihn. So stolz. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Hast du ihn gesehen?
Mama sagt, dass er mir zuschaut. Aber wie? Er kämpft doch noch tapfer im Krieg, oder? Wie kann er mir zuschauen, wenn er grade nicht daheim ist? Wie kann er mir zuschauen, wenn er nicht bei mir, nicht an meiner Seite ist? Sie sagt er ist jetzt an einem viel schöneren Platz und schaut auf mich herab, aber wo? Wo ist er? Ich habe ihn schon so lange nicht mehr gesehen. Zeig ihn mir, bring ihn zu mir. Ich will ihn sehen. Ich möchte meinen Papa umarmen. Ich möchte, nein ich will einen Kuss von ihm. Ich will mich in seine Armen kuscheln, dann fühle ich mich erst sicher.
Ein großes, schwarzes Loch breitet sich in meinem Herzen aus. Es tut so weh. Sie haben versprochen niemand würde uns angreifen, verletzen oder unterdrücken. Ich lausche weiter. Höre Schüsse von weit weg, auch Bomben die auf die Erde fallen, explodieren, ihre Umgebung zerstören. Wieso tun die Menschen so etwas Schreckliches? Ich höre wieder Schreie von Frauen, von anderen Kindern, die ihre Eltern suchen. Ich höre Menschen, die zu ihrem Gott beten, Menschen die noch Hoffnung haben, Menschen die noch an die Menschheit glauben. Ich höre die Erde um mich herum ein weiteres Mal stöhnen, als ein weiterer Kampfjet eine Bombe fallen lässt.
Du fragst dich, warum ich meine Mama nicht suche? Ich weiß es nicht. Ich finde sie nicht. Sie sagte, wir werden uns hier treffen. Sie sagte, sie würde mich holen kommen, doch sie ist nicht gekommen. Ich bin alleine. Nein, nicht alleine. Bei mir ist mein bester Freund. Weißt du wie er heißt? Nein? Das ist Hasi. Schau wie schön er ist. Wie heißt du eigentlich? Du bist wirklich hübsch, weißt du das? Warum schaust du so traurig? Nein bitte weine nicht. Sonst muss ich auch weinen. Eigentlich hat Mami gesagt, ich darf nicht mit fremden Leuten reden. Jedoch ist sie gerade nicht da. Also verrate ihr nichts. Das bleibt unser Geheimnis, ja?
Ich höre weitere Gebete, die von weit weg kommen. Flehen und um Vergebung bettelnde Menschen. Mama hat gesagt ich soll stark sein. Daddy hat das auch immer gesagt, bevor er gegangen ist. Rechts neben mir fällt etwas dumpf auf den Boden. Ich sehe nichts. Ich halte meine Augen geschlossen, möchte nichts sehen. Es ist wie ein Alptraum. Ein Alptraum der schlimmen Sorte. Ich weiß noch, immer wenn ich nachts aufgewacht bin, hat mich Papi oder Mami getröstet, aber jetzt ist niemand hier um mich zu trösten. Keiner ist hier um mir zu sagen, dass alles gut wird, dass die bösen Menschen uns wieder in Ruhe lassen. Wo sind sie? Willst du es mir nicht verraten? Wieso nicht? Weißt du ob Mama wieder kommen wird? Sie wollte doch nur schnell mit dem Soldaten mitgehen, der sie vorhin geholt hat. Sie sagte, wir würden uns wieder treffen, aber warum hat sie dann geweint? Sag du es mir. Sag, warum hat sie mir gesagt, wir treffen uns da wo auch mein Papa ist? Sag mir wo mein Papa ist. Ist es schön dort? Weißt du überhaupt wo er ist?
Endlich meine Retter, sie werden mir helfen. Unsere Retter sind da, Hasi, hast du gehört? Du! Hast du es auch gehört? Ich spüre sie vor mir. Da! Jemand stößt mich mit etwas kaltem an meiner nackten Schulter an. Es riecht nach Rauch. So hat Daddy auch immer gerochen. Ist er da um mich zu retten? Hat er mich nicht vergessen? Siehst du ihn? Willst du mir sagen, ob er es ist?
Steht er vor mir? Ist Mummy auch da?
Langsam öffne ich meine Augen, glücklich ihn wieder zu sehen. Mein Papa. Mein Held. Mein Retter. Unser Retter. Wieder lächle ich. Ich schaue ihm in die Augen. Nein, es ist nicht mein Daddy. Wieso hast du gelogen? Das ist nicht mein Papa. Hasi schau, das ist nicht unser Retter, oder kann uns dieser fremde Mann zu Mami bringen? Kann er es? Er ist jung. Jünger als mein Papi. Ich schaue ihm genauer in die Augen. Sie sehen kalt und traurig aus. Hat er auch jemanden verloren? Sucht er auch seine Mama? Vielleicht kann ich ihm ja helfen? Er fängt an zu lachen, aber das ist kein schönes Lachen. Es ist schrecklich. Es tut in den Ohren weh. Ich will es nicht hören, nein will ich nicht. Es macht mir Angst. Er ist schadenfroh. Hörst du das auch? Er lacht! Lass ihn verstummen. Ich will es nicht hören. Bitte. Bitte, lass ihn aufhören.
Er schaut mich so komisch an. Er hat einen hungrigen Blick. Er visiert mich wie ein Tiger seine Beute. Ich kralle meine Hand fester in das weiche Fell von Hasi. Kneife wieder meine Augen zusammen.

Der fremde Mann sieht vor sich ein kleines Mädchen.

Sie kann nicht alt sein. In ihrer rechten Hand hält sie einen kleinen kaputten und völlig dreckigen Stoffhasen. Ihr kleines Kleid ist so verschmutzt, dass man die Grundfarbe nicht mehr sehen kann. In ihrer linken Hand hält sie ein Kreuz. Wie sie mich angesehen hat. Mit Freude. Sie ist glücklich gewesen. Hatte gelächelt. Wieso hat sie gelächelt? Wieso? Soll sie doch!

Ich sitze hier, warte bis der komische Mann was sagt. Ich höre wieder sein schreckliches Lachen. Nein, bitte nicht. Bitte nicht. Er soll nicht lachen. Er ist nicht mein Daddy. Das Lachen ist so schrill, so grausam. Wieso lacht der Mann denn so? Kannst du es mir sagen? Kannst du mir nicht helfen? Wieso rührst du dich nicht? Wieso unternimmst du nichts? Wieso siehst nicht du diesen fremden Mann? Wieso hörst du ihn nicht? Wo bist du, dass du das alles nicht mitbekommst? Ich will auch dorthin. Hol mich. Ich möchte zu dir.
Ich öffne wieder meine Augen, langsam, sehe wie er eine große Waffe auf mich hält. „Sei stark!“, hat Mama gesagt. „Sei tapfer.“, hat Papa gesagt. Ich versuche es. Wieso tut der Mann das? Wird er mir nicht helfen? Sag es mir! Wird er mir helfen? Sag es! Sag es! Bitte. Bitte sag es mir. Ich schließe wieder meine Augen. „Nicht hinsehen Hasi, es tut nur kurz weh, ich verspreche es dir. Versprochen, ja?“, flüstere ich Hasi in sein langes, weiches Ohr. Eine Träne rollt über meine Wange. Jetzt weine ich doch. Ich zittere am ganzen Körper, er bebt wie die Erde um mich herum. Ich schluchze einmal und hole tief Luft, atme sie wieder aus.
Wieso lässt du das zu? Wieso hilfst du mir nicht? Warum schaust du denn bloß nur zu? Ich verstehe das alles nicht.
Ich will stark sein. Halte Hasi die kleinen Knopfaugen zu, damit er nicht sieht was gleich passiert. Ich selbst öffne aber meine Augen. Ich möchte stark sein, so wie Mami es immer gesagt hat. So wie Papa es gesagt hat, als er mich und Mama verlassen hat. Er kommt wieder, hat er gesagt. Er hat gesagt, er passt auf mich auf. Er hat es doch versprochen. Wo bleibt er nur? Wieso schaust du nur zu? Wieso ist Papi nicht da? Wo ist er? Bring mich zu Mami. Bitte.
Ich schaue dem Soldaten in die Augen. So welche hat mein Papi erschossen. Die Bösen. Nun bin ich an der Reihe, wie alle andere Frauen, Kinder und Männer vor mir auch. Ich werde sterben. Hasi wird sterben. Wir wurden alle belogen. Sie alle haben gelogen. Sie alle haben gesagt es würde nichts passieren. Sie haben gesagt es würde nicht wehtun. Doch ich weiß es besser. Es wird verdammt wehtun. Wieso hast du nicht gesagt, was passieren würde? Wieso sagst du nie etwas? Wieso bewegst du dich nie? Wieso rührst du dich nicht? Ich will nicht sterben. Jetzt weinst auch du wieder. Nein, bitte hör auf zu weinen.
Ich will bei Papi in den Armen liegen, von Mami ein Kuss bekommen, gesagt bekommen, dass sie mich beide lieben und stolz auf mich sind. Ihre Stimmen hören. Mit ihnen spielen. Wie früher. Bitte lass mich zu ihnen. Ich möchte in die Schule, meine Freunde sehen. Ich möchte noch so viel erleben. Ich möchte noch nicht sterben. Sie haben alle ihr Versprechen gebrochen.
Ich höre wieder das hässliche Lachen des feindlichen Soldaten vor mir. Er wird mich nicht retten. Er wird uns nicht retten, Hasi. Es tut mir leid. Ich konnte dich nicht beschützen. „Es wird nicht wehtun Hasi.“, hauche ich ihm noch ein letztes Mal in sein langes, flauschiges, kuschliges Ohr.
Plötzlich wird um mich herum alles schwarz, als ein lauter Knall ertönt. Ein stummer Schrei fällt von meinen Lippen. Ich halte Hasi fest umklammert. Ich fühle gar nichts mehr. Ich bin nicht besser wie alle anderen. Ich habe Hasi gesagt es würde nicht wehtun, aber das hat es. Es hat verdammt wehgetan. Es tut mir leid.

Wieso hast du nichts getan? Wieso hast du nur zu geschaut, als er abgedrückt hat? Wo bist du, dass du nicht eingreifen kannst? Hast du denn nichts gesehen? Hast du denn nichts gehört?
Ich sehe Daddy. Er steht an einem großen, goldenen Tor. Wie schön es hier ist. Siehst du ihn auch? Warum weint er denn? Freut er sich denn nicht mich zu sehen? Wieso freut er sich nicht? Sag es mir! Sag warum er so schrecklich weint und „Nein“ schreit. Erklär es mir. Ich verstehe es nicht. Wieso hörst du es nicht? Wieso nicht? Wieso bist du so weit weg? Wieso unternimmst du nichts?

Schließe bitte noch einmal deine Augen, vielleicht kannst du ja dann auch hören und sehen, wie sie schreien und schießen. Ich habe es deutlich genug gehört, gesehen und am eigenen Leib erfahren, um zu sagen, dass es schrecklich und grausam ist. Ich habe es nicht überlebt genau wie viele andere vor mir auch.
Meine Augen sind für immer geschlossen.

„Ich werde dich weiter beschützen Hasi. Ich werde an deiner Seite sein. Jetzt da wo ich wieder bei Mama und Papa bin. Ein Versprechen, dass ich hoffentlich halten kann.“


© Violet E.


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Beschreibung des Autors zu "Sie sagten..."

Versprechen zu geben ist eine Sache, aber diese einzuhalten eine Andere.
Hast du schon einmal Versprechen gegeben? Ja, hast du bestimmt.
Konntest du sie aber auch alle einhalten? Nein.
Denn manchmal verspricht man etwas, das einfach unmöglich ist, aber einem so leicht über die Lippen geht.

Ein Mädchen und so viele Versprechen...

Viel Spaß mit meiner Geschichte!
Violet

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Kommentare zu "Sie sagten..."

Re: Sie sagten...

Autor: Vergissmeinnicht   Datum: 02.05.2020 21:38 Uhr

Kommentar: Wow....eine Geschichte die länger im Kopf bleibt...gern gelesen...
Lg.Vergissmeinnicht.

Re: Sie sagten...

Autor: Violet   Datum: 18.05.2020 20:28 Uhr

Kommentar: Vielen Dank, für dein Kommentar, liebes Vergissmeinnicht!

Liebe Grüße
Violet E.

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