Onkel Willi

Robert war gerade fünf Jahre alt geworden, als er Onkel Willi zum ersten Mal traf. Beinahe wäre dieses verhängnisvolle Zusammentreffen auch das letzte und Roberts fünfter Geburtstag, den er erst zwei Tage vor dem Ereignis gefeiert hatte, sein allerletzter gewesen.

Eigentlich war der Fuhrunternehmer Willi Sawallisch gar nicht sein Onkel, aber Robert glaubte es seit dieser ersten Begegnung für lange Zeit. Wenn er später Willi, hoch oben auf dem Kutschbock seines von den beiden schweren Belgiern gezogenen Pferdefuhrwerks sitzend, begegnete, rief er ihm schon von weitem zu:
“Onkel Willi, Onkel Willi, nimmst du mich ein Stück mit?”
Der Fuhrmann hielt an, Robert kletterte zu ihm hinauf, durfte neben ihm in der Schoßkelle Platz nehmen und los ging die Fahrt. Willi war Spediteur und lieferte die auf dem Güterbahnhof eingegangene Fracht an ihre Empfänger aus. Stolz nannte er sich ‘Fuhrunternehmer’ und diese Berufsbezeichnung war auch außer seinem Namen auf dem Schild zu lesen, das er an der Seite seines Pferdewagens angebracht hatte: ‘Wilhelm Sawallisch, Fuhrunternehmer’, stand dort.

Die beiden Pferde waren sein ganzer Stolz und er hatte viele Jahre im Hüttenwerk schwer arbeiten und einen Teil seines Lohnes zurücklegen müssen, bis er das Geld für den Kauf der schönen Tiere beisammen hatte. Und sahen sie nicht auch eindrucksvoll aus, die beiden großen, schwarzgepunkteten Rotschimmel mit den hellen, geteilten Mähnen? Die Arbeit an der Walzenstraße wurde zwar gut bezahlt,
aber es war auch nicht ungefährlich, wenn die an der Walze arbeitenden Männer mit langen Eisenstangen die fauchend und zischend aus der Walze kommenden Schlangen glühenden Stahls umlenkten und wieder in die Walze zurück dirigierten, wieder und wieder, bis sie schließlich zu Blechen gewalzt waren. Das erforderte volle Aufmerksamkeit und dabei war es dann auch passiert, der Unfall, der Willi den rechten Arm gekostet hatte. Der Kollege, der Willi nach der Nachtschicht an der Walze hatte ablösen sollen, war nicht gekommen und Willi hatte einfach weiter gearbeitet. Dem Meister war das nur recht, brauchte er so doch nicht lange nach Ersatz zu suchen. Aber es war nicht erlaubt, die Arbeitsschutzbestimmungen sprachen dagegen. Immer wieder war es zu Unfällen gekommen, weil die Männer übermüdet waren, sich am Abend zuvor ein Bier zuviel genehmigt oder sogar vor der Schicht ein Gläschen getrunken hatten. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf, Willis Schicksal, er hatte zwar nichts getrunken, aber er hatte nicht aufgepasst, zu spät hatte er die Eisenstange gepackt, um der Schlange eine andere Richtung zu geben. Die glühende Stahlschlange hatte sich aufgebäumt, hatte zugestossen, Willis Unterarm getroffen, und der war nicht mehr zu retten gewesen. Der rechte Arm mußte unterhalb des Ellenbogens amputiert werden. Willis Arbeitsleben im Walzwerk nahm ein jähes Ende, ganz anders als er geplant hatte. Zwei, drei Jahre hätte er noch gebraucht, um das Geld für die Pferde und den Wagen zusammen zu haben. Und nun? Sein Gespartes reichte doch noch nicht. Nachdem sein Arm verheilt war, kehrte er wieder ins Werk zurück. Die Leitung zeigte sich sehr besorgt und bot ihm verschiedene andere Jobs an, als Kranfahrer, als Gütekontrolleur, als Waschraumaufsicht. Aber Willi hatte auch seinen Stolz, die glühende Schlange zu bändigen, das war das Richtige für ihn gewesen, wie Jung Siegfried hatte er sich gefühlt, mit dem Drachen kämpfend. Und nun? Was war er noch wert, ein Einarmiger, ein Krüppel? Er überlegte lange hin und her. Aufgeben? Nein, das war der einfachste Weg und für einen Willi Sawallisch nur die allerletzte Möglichkeit. Warum nur zeigte sich die Werksleitung so besorgt? Aus sozialer Verantwortung, wie immer wieder betont wurde? Er konnte es nicht glauben. Man hatte ihn nach seiner Schicht weiter an der Walzenstraße arbeiten lassen. Sicher, er hatte es gewollt. Aber, man hatte ihn auch gelassen, und das widersprach den Arbeitsschutzbestimmungen. Nun sollten sie ihm den Arm bezahlen. Das war doch nur recht und billig, oder? Schließlich hatte er sich nicht geschont, während der ganzen Jahre. Mehrfach war er als Bestarbeiter ausgezeichnet worden und mehrfach war er Aktivist geworden. Dann hatte er sich gewundert, wie einfach alles ging. Es wurde gezahlt, viel gezahlt, die Versicherung zahlte ebenfalls, zusammen soviel, dass er die Pferde und den Wagen hätte kaufen können, um ein Fuhrunternehmen zu eröffnen. Aber wie sollte er nur schwere Lasten bewältigen, mit nur einem Arm? Selbst das Gespann mit nur einem Arm zu führen, könnte sich als Problem erweisen. Er ging ins Krankenhaus und sprach mit dem Chirurgen, der seinen Arm amputiert hatte. Eine eiserne Faust wollte er haben, an Stelle der verlorenen aus Fleisch und Blut, ob das ginge, fragte er. “Na und ob”, hatte der Doktor lachend geantwortet, “wie Götz von Berlichingen mit der eisernen Faust”. So war Willi zu dem Haken gekommen, mit dem er statt mit einer richtigen Hand zupacken konnte, um Pakete und Kisten aus seinem Wagen in die Häuser zu bringen. Wie sich bei einem Erblindeten die anderen Sinnesorgane entwickeln, um die Aufgaben des Auges, wenigstens teilweise, wahrzunehmen, so entwickelte sich
Willis eiserne Hand, sie wurde immer geschickter und sein Arm, der den Haken trug, immer stärker. Bald nannte man ihn überall in der Stadt und auch in den umliegenden Dörfern den ‘starken Willi’. Wenn Robert auf dem Kutschbock neben Onkel Willi saß, fühlte er sich sicher und geborgen. Ihm war so, als ob ein Teil der Stärke aus Willis Arm zu ihm hinüber floss und auch seinen kleinen Körper stärker machte. Die anderen Kinder hätten auch gern den Platz neben Willi eingenommen. “Onkel Willi, nimm uns mit!” rief die Schar der Kinder, die dem Pferdewagen folgten. Meist hielt Willi dann gutmütig lächelnd an, um noch weitere Kinder auf seinem Wagen mitzunehmen.

Zu Hause wurde immer noch darüber gesprochen, was damals geschehen war und dass er es Onkel Willi zu verdanken habe, überlebt zu haben. Die Großmutter, Tante und Roberts Onkel wohnten in der Oberstadt. Robert selbst wohnte mit der Mutter und seiner Schwester auch in der Oberstadt, aber fast schon in der Unterstadt. “Die vornehmen Leute wohnen in der Oberstadt”, sagte die Mutter. Die an der Grenze gehörten schon ein wenig zu den Vornehmen. Die Grenzziehung war eindeutig. Südlich des Flusses in Richtung der Berge war die Oberstadt und nördlich davon die Unterstadt. Es war auf jeden Fall besser in der Oberstadt zu wohnen und die Kinder in der Unterstadt beneideten die der Oberstadt um ihre bessere Wohngegend. Wer in der Oberstadt wohnte, konnte während des Sommers im Gras des unbewaldeten Tannenkopfs spielen. Im Winter, wenn Schnee lag, wurde hier Schlitten gefahren. Die Kinder der Unterstadt spielten am Fluss. Im Sommer konnte man im flachen Wasser baden oder, von Stein zu Stein springend, ans andere Ufer gelangen. Aber das hatte die Mutter verboten. Robert durfte nicht an den Fluß. Die Erinnerung an die kleine Cousine, die vor vielen Jahren, noch vor Roberts Geburt, im Mühlengraben ertrunken war, spielte noch heute in den Gesprächen der Erwachsenen eine Rolle. Robert hielt sich an das Verbot, auch wenn es schwer war, der Verlockung und den Aufforderungen der Spielgefährten in der Straße zu widerstehen.

Obwohl erst Anfang April, war es schon warm in diesem Jahr. Der Frühling wollte sich nicht länger zurückhalten. Die Linden vor dem Haus zeigten schon zarte, hellgrüne Knospenspitzen und wenn Robert von seinem Bett aus durch das Fenster auf den Kirschbaum blickte, sah er schon die ersten weißen und rosa Blüten. Mit dem Frühling rückte auch sein fünfter Geburtstag näher. Zur Geburtstagsfeier durfte er seine Spielgefährten einladen. Die Mutter hatte auf dem Hof eine große
Tafel gedeckt, an der die Kinder saßen, gemeinsam Kuchen verzehrten und spielten. Nun war Robert schon fünf, ‘der Mann im Hause’, hatte die Mutter am Morgen spaßhaft gesagt, denn der Vater war im Krieg geblieben und Mutter trug die Bürden der Nachkriegsjahre und die Sorgen um die beiden Kinder ganz allein. Während die Kinder rings um die sonnenbeschienene Geburtstagstafel saßen, spielten und sich
unterhielten, tauchte immer wieder die Idee auf, zum Fluß zu gehen und am Ufer im Sand zu spielen, im klaren Wasser nach Fischen Ausschau zu halten oder auf einem der großen Steine, die im Fluß lagen, zu stehen. Dann senkten die Kinder ihre Stimmen und flüsterten, denn sie wussten von dem Verbot und achteten darauf,
dass Roberts Mutter nicht mitbekam, worüber sie sprachen.
Auch an den kommenden Tagen geisterten Gedanken an den Fluß, die Steine und die Fische durch den Kopf des kleinen Jungen. Das Wetter blieb warm und sonnig und drei Tage nach der Geburtstagsfeier war der brennende Wunsch, zum Fluß zu gehen, übergroß geworden, stärker als jedes Verbot, stärker sogar als Roberts ständige Sorge, er könne der Mutter weh tun, wenn er nicht nach ihren Ge- und Verboten handelte. Gleich nach dem Mittagessen brach er auf, niemand im Haus sollte sein Verschwinden bemerken, er wollte gar nicht lange bleiben, nur den Fluß sehen und dann gleich wieder nach Hause laufen, noch bevor irgend jemandem seine Abwesenheit aufgefallen wäre. Er kannte den Weg genau und hatte sich vorher ausgemalt, wie er zum Ziel seiner Sehnsucht gelangen würde. Auf der Hauptstraße bog er nach rechts ab, er mußte sie später überqueren, vor oder nach der Abzweigung zum Güterbahnhof. Während er darüber noch nachdachte, war er schon auf der abzweigenden Straße und blickte nach links, dort musste der Fluß sein. Aber von der rechten Seite, vom Güterbahnhof her, kamen die Pferde. Robert bemerkte sie nicht, er hörte sie nicht und sah sie nicht. Willi wollte die Kreuzung schnell überqueren und hob seinen Hakenarm, das Signal für sein Gespann, die Schritte zu beschleunigen. Da hörte er den durchdringenden Schrei. Eine Passantin hatte den Vorgang von der anderen Straßenseite her beobachtet, wie der kleine Junge die Kreuzung überquerte und wie die Pferde auf ihn zu galoppierten. Willi sah nichts, die Pferde verdeckten die Sicht auf das Kind, aber instinktiv riss er an den Zügeln. Es war schon zu spät. Die Pferde hatten den Jungen erreicht und schon bei der ersten Berührung war er umgefallen und lag nun zwischen den Pferden, über sich die Deichsel. Etwas riesengroßes, braunes tauchte über ihm auf, dann kam ein Riesenauge immer näher auf ihn zu. ‘Das ist doch
nur ein Traum’, dachte der Junge noch und schloss seine Augen. Alles rings um ihn verschwand. Noch viele Jahre danach verfolgte ihn das immer größer werdende Pferdeauge in seine Träume, er wünschte sich aufzuwachen, um der Bedrohung zu entgehen. Und wenn es ihm schließlich gelang, in die Wirklichkeit zurückzukehren, so fühlte er sich erlöst, denn er erinnerte sich daran, wie er damals etwas Hartes, Metallisches in seinem Rücken verspürte, etwas, das ihm Halt und Sicherheit versprach. Nachdem der Fuhrmann sein Gespann zum Stehen gebracht hatte, sprang er, so schnell es ging, von seinem Kutschbock herunter, zog den zwischen den beiden Pferden liegenden Jungen hervor und legte ihn auf seinen eisernen Arm, da er die gesunde Hand brauchte, um die Pferde am Halfter gefasst zu halten. Die Frau, die geschrien hatte, eine Nachbarin, erkannte Robert und konnte über die Wohnadresse des Kindes Auskunft geben. Trotzdem ging sie voran, Willi, den kleinen Robert auf dem Arm tragend, folgte ihr. Einige Kinder, sie hatten den Unfall von weitem beobachtet, liefen hinter den beiden. Bald hatte der Zug das Haus erreicht, denn Roberts Ausflug hatte ein frühes Ende gefunden und er war noch nicht sehr weit gekommen. Die Mutter bekam einen Heidenschreck. Willi beruhigte sie. Gottlob, es war nichts passiert, der Junge war unversehrt geblieben. Robert war nun wieder hellwach und schämte sich. Wie ein Baby hatte man ihn, den großen Jungen, nach Hause tragen müssen. Er hatte gegen das Verbot der Mutter verstoßen, was aber noch viel schlimmer war, seine Hose fühlte sich feucht an. Der Schreck war ihm nicht an die Nieren, wohl aber an die Blase gegangen. Die Mutter bemerkte die Nöte ihres Söhnchens und schalt nicht. Sie bedankte sich bei Willi, der immer wieder versicherte, er könne doch nichts dafür, er habe den Jungen nicht gesehen und derartiges wäre ihm vorher noch nie passiert. Nun war es an der Mutter, ihn zu beruhigen, nachdem sie sich nochmals davon überzeugt hatte, dass ihr Sohn wirklich unversehrt geblieben war.

Seit diesem Tage nannte Robert den Fuhrunternehmer ‘Onkel Willi’. Die beiden begrüßten sich, sooft sie auf der Straße einander begegneten. Meist hielt Willi an und forderte den Jungen auf, neben ihm Platz zu nehmen. Wenn er gut drauf war, ging er sogar noch weiter. Das Höchstmaß seiner Gunstbezeigung war erreicht, wenn er mit dem Jungen die Plätze tauschte und ihn kutschieren ließ. So erlernte Robert den Umgang mit den beiden Pferden. Als er dann etwas älter war und schon
zur Schule ging, durfte er sogar eines der beiden Pferde ganz allein durch die Stadt bis zum Schützenplatz führen, auf dem zur Erntezeit eine Dreschmaschine stand und wo es dringend gebraucht wurde.
So war es viele Jahre lang und erst viel später, wenn der Halbwüchsige, der Siebzehnjährige, mit dem Moped durch die Straßen fuhr oder gemeinsam mit den Schulfreunden vor dem Kino stand, blickte er manchmal weg und tat so, als sähe er ihn nicht, wenn Willi mit seinem Gespann vorbei kam. Er wußte selbst nicht genau, warum er das tat. Er hatte jetzt ganz andere Interessen, als auf dem Kutschbock neben dem Fuhrmann zu sitzen, die Schule, die Freunde, seine Hausaufgaben, des Nachmittags mit dem Moped durch die Straßen brausen, zum Klavierunterricht gehen oder zu Hause auf dem Klavier
zu üben, wie es die Mutter von ihm verlangte. Er wollte sie doch nicht enttäuschen und den Klavierlehrer auch nicht, denn der gab sich redlich Mühe mit ihm und schließlich mußte das Geld für den Unterricht und das Klavier aufgebracht werden. Nicht mal ein eigenes Klavier besaßen sie, so wie seine Mitschülerin, die im Hause gegenüber wohnte. Im Gegensatz zu ihr, die immer jammerte, dass sie noch üben müsse, machte ihm das Klavierspielen meistens Spaß. Nur wenn der Winter besonders kalt war, bedurfte das Spielen im ungeheizten Wohnzimmer einer größeren Überwindung. Die klammen und kalten Finger weigerten sich beharrlich, in virtuose Bewegung umzusetzen, was das Auge auf dem Notenblatt gelesen und das Hirn zu tun ihnen befohlen hatte. Die geplante volle konnte sich dann unversehens in eine halbe Übungsstunde verkürzen und wie peinlich,
wenn er dann dem Lehrer in der folgenden Unterrichtsstunde als Stümper und Nichtskönner entgegen treten mußte. Das Klavier war gemietet. Monatlich lieferte Robert die Miete beim Besitzer ab, vorausgesetzt, es war Geld da. Sonst mußte er um Aufschub bitten oder den Klavierbesitzer dazu bewegen, sich vorerst mit einer Anzahlung auf den vollen Mietzins zu begnügen.

Eines Tages auf dem Weg von der Schule nach Hause überraschte ihn seine Mitschülerin vom Haus gegenüber, die stolze Besitzerin eines Klaviers, wie Robert meinte, mit der Frage “Willst Du mein Klavier haben?” Robert wußte zunächst nichts zu antworten und hielt das für einen Scherz. Sein Erstaunen wurde noch größer als Helga, jene Mitschülerin, hinzufügte: “Du kannst es geschenkt haben.”
“Warum willst Du es denn nur verschenken? Es ist doch ganz neu und war doch bestimmt teuer.”
“Ich habe keine Lust dazu und wahrscheinlich fehlt mir auch das musikalische Talent. Und diese Quälerei, nur um meiner Mutters Wunsch zu erfüllen. Immer dieses ‘Schielen nach Hofrats Töchtern, französisch parlieren und Klavierspielen’, und so”, zitierte sie etwas unsicher und völlig frei aus dem Werk, das sie im Literaturunterricht gerade lasen. “Ich habe das so satt, und außerdem gehen wir weg, in den Westen, auch so eine Idee meiner Mutter. Die Möbel müssen ohnehin hier bleiben.”
Sie blickte Robert erschrocken an. Nun war es heraus und sie hatte ihren Eltern doch versprechen müssen mit niemandem darüber zu reden, denn ihre Familie beabsichtigte, das Land illegal zu verlassen. “Ich schenke es Dir”, wenn Du mir schwörst, dass Du niemandem von unserem geplanten Umzug erzählst”. Nun wußte Robert, dass Helga es ernst meinte und versprach, die Pläne der Nachbarsfamilie für sich zu
behalten. “Sieh es Dir doch gleich einmal an”, schlug Helga vor, als sie vor ihrem Haus angelangt waren. Robert stimmte zu. Helgas Mutter forderte ihn gleich auf, das Klavier auszuprobieren und etwas vorzuspielen, sicherlich ein weiterer Versuch, ihre Tochter davon zu überzeugen, wie schön es sei, Klavier spielen zu können. In diesem Moment wußte Robert, das elegante, in schwarzem Schleiflack glänzende
Klavier, vom ersten Augenblick an hatte es ihm ausnehmend gut gefallen, mußte bald ihm gehören. Dennoch zögerte er zunächst zu spielen und sah zu Helga hin. Ja, er hatte es erwartet, Helga würde sein Vorspiel nicht besonders schätzen und sie verzog auch schon ihren Mund. Tag für Tag war sie von ihrer Mutter mit der Aufforderung
Klavier zu üben, traktiert worden, und sie haßte das doch so, ebenso wie die altjüngferliche, strenge Klavierlehrerin. Die hatte ihr neulich doch tatsächlich, ihr, der Siebzehnjährigen, mit einem Lineal auf die Finger geschlagen, nur, weil ihre Finger partout nicht tun wollten, was ihr Kopf allerdings auch nicht wollte. Sie erwartete nichts anderes, Robert würde natürlich mit seinem Spiel glänzen, ihre
Mutter würde sie bedeutungsvoll ansehen und sagen: “Siehst du, so geht es auch”. Robert gab auf. Der Wunsch, täglich auf diesem wunderschönen Klavier spielen zu dürfen, war stärker als die Rücksicht auf seine Mitschülerin. Er spielte zwei Stücke aus den ‘Kinderszenen’ von Schumann. Helgas Mutter gefiel sein Spiel sehr gut. “Siehst du”, sagte sie mit bedeutungsvollem Blick auf ihre Tochter, “so geht es auch”. Das war zwar wie erwartet, ihr aber doch zu viel. “Am besten, du nimmst das Klavier gleich mit”, sagte Helga schnippisch.
“Würde es Ihnen Morgen passen?” fragte Robert schnell.
“Ja”, antwortete Helgas Mutter zögernd, und dann, “na, du siehst und hörst ja selbst ....”.

Am Abend erzählte Robert seiner Mutter die Neuigkeit: “Morgen haben wir ein eigenes Klavier”. Ohne sich länger mit Einzelheiten und Hintergründen seiner überraschenden Mitteilung aufzuhalten, ging er gleich zum praktischen Teil über: “Wo wollen wir es aufstellen und wer kann uns beim Transport helfen?”
“Nun mal sch¨on langsam und der Reihe nach”, unterbrach ihn Mutter. “Wieso und von wem bekommen wir ein Klavier?” Robert berichtete von Helgas Angebot und vom Gespräch mit Helgas Mutter.
“Aber wieso wollen sie das Klavier schon wieder loswerden, sie haben es doch vor nicht allzu langer Zeit erst bekommen?” erinnerte sich die Mutter.
“Sie haben ihre Gründe,” antwortete Robert bedeutungsvoll ohne jedoch sein Versprechen zu brechen.
“Ach so”, sagte Mutter. Sie hatte sofort verstanden, was nicht verwunderlich war, denn in jenen Tagen gingen nicht wenige, mitunter Hals über Kopf in den Westen, darunter auch Ärzte und Lehrer. Das hinterließ Lücken, die nicht sofort zu schließen waren. Unter den Dagebliebenen sorgte das nicht nur für Gesprächsstoff, sondern
wurde mit Bedauern gesehen. “Das Klavier wird natürlich oben im Wohnzimmer stehen”. Vielleicht dachte die Mutter daran, dass ein solches Klavier die Wohnstube zieren würde. Dieses Zimmer wurde eigentlich nur zu Feiertagen und zu besonderen
Anl¨assen genutzt und deshalb wurde es im Winter in der Regel nicht beheizt. Sie sah darin kein Problem, denn das gemietete Klavier stand ja auch dort. Nur Robert hätte es sich an einem wärmeren Ort gewünscht. “Unten haben wir auch wirklich keinen Platz dafür”, ergänzte er dennoch. Unten gab es nur eine Küche, ein wirklich
ungeeigneter Stellplatz für ein schwarzes Schleiflackklavier, und dahinter ein winziges Zimmerchen, vollgestellt mit dem großen Bücherschrank, einem Schreibtisch, einer ausladenden Couch und einem kleinen eisernen Ofen mit langem Ofenrohr, über die Türöffnung hin zum Schornstein. Hier war es im Winter warm und gemütlich, die
kleine, vaterlose Familie, Robert hatte nur noch eine etwas ältere Schwester, die aber auch schon zum Studium außer Haus war, rückte enger zusammen und man fühlte sich geborgen. Damit war Roberts erste Frage auch schon beantwortet. Die Lösung warf, wie es häufig geschieht, gleich ein neues Problem auf. Zur oberen Etage führte eine schmale Treppe hinauf, zunächst in leichtem Bogen bis zu einem
Treppenabsatz, von dem aus man durch ein kleines Fenster zum Hof sehen konnte und dann in entgegengesetzter Richtung weiter bis zum nächsten Absatz. Die Treppenstufen waren durch die Krümmung der Treppe vor dem ersten Absatz links und rechts von unterschiedlicher Breite. Links waren einige der Stufen so schmal, dass man auf ihnen nicht gehen konnte. Für Leute, die ein schweres, schönes, schwarzes
Schleiflackklavier unversehrt über die Treppe nach oben transportieren sollten, war sie eine echte Herausforderung. Robert hatte zunächst gar nicht an ihn gedacht, die Mutter war wieder einmal viel praktischer als er: “Willi Sawallisch”, sagte sie und sofort fiel Robert der zweite Stein vom Herzen. Er begab sich sofort auf den
Weg, um den ‘starken’ Onkel Willi um Hilfe zu bitten. Er dachte nicht einmal mehr daran, dass er sich in den letzten Jahren um den Kontakt zu ihm nicht besonders bemüht hatte. Wie immer begrüßte Willi ihn herzlich, als hätten sie sich erst gestern getroffen und sagte ihm sofort seine Hilfe für den kommenden Tag zu. Robert hatte es nicht anders erwartet, denn er konnte sich nicht daran erinnern, dass Willi in früheren Zeiten jemals ihm oder einem anderen Kinde einen Wunsch abgeschlagen hätte.

Das große, schwarz lackierte Instrument sollte am nächsten Vormittag über die Strasse und dann nach oben in das Wohnzimmer gebracht werden. Willi kam zur verabredeten Zeit mit seinem Fuhrwerk vorgefahren. Statt des fehlenden Arms ragte der stählerne Haken bedrohlich aus dem, wie überflüssig, lose herabhängenden Ärmel seiner blauen Arbeitsjacke hervor. Er hatte noch jemanden mitgebracht; ein klapperdürres, schon betagtes Männchen kletterte umständlich vom Kutschbock herunter, nachdem Willi den Wagen angehalten hatte. Trotzdem war Robert in gutem Glauben, dass die Transaktion gelingen würde. Noch nie hatte Willi versagt, wenn es um schwere Lasten ging und sein Urvertauen zu Willi hatte ja auch einen realistischen Hintergrund. Waren es doch Willis Pferde gewesen, die den kleinen Jungen nicht verletzt hatten, als er hingefallen war und unter ihnen gelegen hatte und war es doch der Fuhrmann selbst, der ihn auf seinem Stahlarm getragen und unversehrt zu Hause abgeliefert hatte. War auch der Kontakt zu ihm nicht mehr so eng wie in seiner Kindheit, aus den Augen und aus den Ohren hatte er ihn nicht verloren. Die Körperstärke des Spediteurs war Anlass für viele Geschichten, die man sich über ihn und sein Pferdegespann erzählte. Robert war es wirklich nicht bange um das neue Klavier, wenn auch dem Begleiter von Onkel Willi dem Augenschein nach keine besonderen Körperkräfte zuzutrauen waren. Die Männer packten die Tragegurte aus, nahmen das Klavier auf und trugen es aus Helgas Haus über die Straße, durch den langen Hausflur auf den Hof bis zur hinteren Eingangstür, wo sie es erst einmal absetzten, um zu verschnaufen. Nun begann das härteste Stück Arbeit,
das enge Treppenhaus. Aber bisher war alles erstaunlich gut verlaufen. Auch Willis spirrlicher Begleiter hatte sich wacker geschlagen, besser als man ihm seiner zierlichen körperlichen Beschaffenheit wegen zugetraut hätte. Roberts Hilfsangebot
war bisher abgelehnt worden. Nun begannen sie, das Instrument durch das enge Treppenhaus nach oben zu wuchten. Willis Begleiter und Robert übernahmen das untere Klavierende, während Willi oben ging. Die beiden Enden des Tragegurts, der unter dem Klavier hindurchgezogen worden war, hatte er sich über die breiten Schultern gelegt. Der Stahlarm kam vorläufig noch nicht zum Einsatz. An der
Treppenkehre stellte sich das hölzerne Geländer als ernst zu nehmendes Hindernis heraus. Sosehr man sich auch bemühte, der Platz reichte nicht aus, um das Klavier zu drehen. Die Männer hatten keine Wahl. Sie versuchten, das Instrument über das Treppengeländer zu heben, um es in die Richtung der weiterführenden Treppe zu bewegen. Das wollte nicht gelingen, der Platz reichte nicht aus. Man stand sich
gegenseitig im Wege, es war auch kein Raum, um das Klavier abzustellen und über eine neue Strategie nachzudenken. Der schwarze Kasten schien schwerer und schwerer zu werden, fand Robert. Seine rechte Hand schmerzte, die Kante, um die er sie gelegt hatte, schnitt tief in die Haut ein. Er durfte nicht aufgeben, nicht loslassen,
obwohl es ihm immer schwerer fiel, seinen Teil der Last zu tragen. “Geh mal zur Seite!”, hörte er Willi noch sagen. Dann fühlte er sich an die Wand gedrückt. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er konnte nicht sehen, was mit dem Klavier geschah. Er glaubte, es würde nach unten rutschen. Gleich würde er den Aufprall hören, wenn das Klavier unten aufschlug und nun hörte er auch die Mutter, die unten stand,
laut aufschreien. War es schon geschehen? Aber das Geräusch, das ein Aufprall des Klaviers verursacht hätte, blieb aus. Nun war sein Blick wieder frei, das große, schwarze Instrument versperrte ihm nicht mehr die Sicht. Er blickte nach oben und sah das Klavier. Es schien über dem Treppengeländer zu schweben und drehte sich dabei in der Luft. Das Manöver war gelungen, auch ohne sein Zutun, aber das Klavier schrammte an der Wand entlang und der kostbare Schleiflack trug dabei die ersten Schäden davon. Dann stellte Willi, der seinen Eisenarm eingesetzt hatte, wie Robert bemerkte, das Klavier auf dem oberen Treppenabsatz ab. Auf der Treppenseite kroch der unscheinbare Helfer unter dem Klavier hervor. Offenbar hatte er es mit seiner Schulter gestützt, während Willi das Instrument gedreht hatte. Das letzte
Stück war einfach. Bis auf den Übergang über die Türschwellen, wo man es anheben mußte, konnte das Klavier an den vorgesehenen Platz gerollt werden. Nachdem das Klavier an Ort und Stelle stand, verschnauften die beiden Männer und Onkel Willi sagte: “Uff, das war schwere Musik, hast du uns auch etwas leichteres anzubieten?”
Während die Mutter einen kleinen Imbiss zur Stärkung der Spediteure vorbereitete, spielte Robert einige Operettenmelodien und Onkel Willi begann, seinen schweren, starken Körper im Takt der Musik zu wiegen. Er liebte Musik, das verband ihn mit seinem berühmten Namensvetter in Berlin. Als er noch beide Arme hatte, spielte er gern auf seinem Akkordeon und manchmal wurde er gebeten, auf Hochzeiten zu spielen. Das war nun alles lange vorbei, aber die Liebe zur Musik war geblieben.

Wer nun glaubte, alle Arbeit wäre getan, sah sich getäuscht, denn da war ja noch das gemietete Klavier, das nur an die gegenüberliegende Zimmerseite gerollt worden war. Robert hatte das gemeinsam mit der Mutter noch am Vorabend getan. Bei seinem Gespräch mit Willi hatte er vergessen, es zu erwähnen, aber dieser sah es als seine selbverständliche Pflicht an, auch diesen zweiten Teil der Arbeit zu erledigen. Nachdem man also wieder zu Kräften gekommen war, sollte der zweite Teil des Abenteuers seinen Verlauf nehmen. Dieses Mal ging es in die entgegengesetzte Richtung, abwärts, mit dem etwas kleineren Mietklavier. Auch jetzt war Willi vorn und trug die halbe Last des Klaviers auf dem Hakenarm und dem gesunden, während Robert und der unscheinbar aussehende Helfer die obere Hälfte an dem unter das
Instrument hindurchgezogenen Gurt hielten. Willi drehte das Klavier in der Luft oberhalb des Treppengeländers und dann ging es in anderer Richtung weiter. Alles ging gut. “Übung macht den Meister”, sagte Willi. Offenbar war er auf diesen zweiten Akt gut vorbereitet, denn nachdem das Klavier auf der Straße abgesetzt worden war, lud er eine hölzerne Rampe von seinem gummibereiften Pferdewagen ab. Zu dritt rollten sie das Klavier über die Rampe auf den Wagen und brachten es
dem Besitzer zurück. Nun besaß die Familie endlich ein eigenes Klavier. Es war beim Transport nicht ganz unbeschädigt geblieben und hatte einige Kratzer hinnehmen müssen, es hatte gelitten und nun stand es in seiner verletzten Schönheit im kleinen Wohnzimmer im
Obergeschoß und litt weiter. Wie schön wäre es gewesen, wenn die schnellen und geschickten Finger eines Virtuosen über seine elfenbeinernen Tasten gehuscht wären, um dem Klavier die allerschönsten Melodien zu entlocken. In Roberts Hirn erklangen
sie, die allegros, die prestos und vivaces, die adagios, lentos, largos und graves, aber die Finger weigerten sich beharrlich umzusetzen, was das Hirn ihnen befahl, soviel er auch übte. Mit den langsamen ging es ja noch so leidlich und wenn er betrübt war und seine Stimmung gedrückt, konnte er sein Gefühl in die langsamen Stücke
einfließen lassen, dem Klavier seinen Kummer anvertrauen und das half, ihn wieder aufzuheitern. Anders, wenn er fröhlich war, das mochte sein Klavier scheinbar nicht, denn die zu langsam gespielten, fröhlichen Stücke klangen auch ein wenig traurig und Roberts Stimmung sank. So ging es Tag für Tag und Woche für Woche, das Klavier mußte erdulden und leiden. Als Roberts Schulzeit dann zu Ende ging und
die großen Prüfungen vorzubereiten waren, kam noch Einsamkeit hinzu, denn nun konnte Robert nicht mehr so oft Zwiesprache mit dem großen, schwarzen Instrument halten, und es stand allein und ungespielt im nur selten benutzten und im Winter ungeheizten Wohnzimmer.

Als Robert dann die kleine Stadt verließ, um das Studium in der entfernt liegenden Großstadt zu beginnen, begannen schwere Zeiten für das immer noch im schwarzen Schleiflack prunkende Instrument. Als die Mutter einmal Fuhrmann Willi traf und der sich nicht nur nach Robert, sondern auch nach dem Klavier erkundigte, konnte sie nur traurig sagen: “Da oben steht es nun und niemand spielt darauf”. Robert
hingegen hatte seinen alten Freund aus Kindheitsjahren beinahe vergessen. Vieles andere wurde nun wichtiger, die neue Wissenschaft, deren Pforten sich ihm langsam öffneten, die Vorlesungen, das Studentenleben, Freunde.

Als es aber Sommer wurde, er alle Prüfungen geschafft hatte und es in der Großstadt fast unerträglich heiß wurde, hielt es ihn dort nicht länger. Er sehnte sich nach Hause, nach der Kühle der alten Buchenwälder, nach dem Fluss und nach den felsigen Bergen, durch die sich das Wasser im Verlaufe der Jahrtausende seinen Weg ins Tal gebahnt hatte. Er wollte wandern, auf Felsen steigen, den Blick ins Vorland richten, die Weite der Landschaft in sich aufnehmen und seinen Geist aus der Enge der Studierstube heraus treten lassen. Ja, das wollte er und er machte sich sofort auf die Reise, keinen Tag länger wollte er den Großstadtstaub schlucken müssen. Erst als der Zug sich den Bergen näherte und er deren höchsten Gipfel, um den sich so viele Sagen rankten, aus dem Gesamtmassiv herausragen sah, fühlte er sich besser. Wie hatte er es nur so lange ohne die Berge, die Wälder und den Fluss in der Fremde aushalten können, fragte er sich in den nächsten Tagen immer wieder, wenn es ihn hinaus in die sommerliche Natur zog. Wenn die Luft sich am Abend abgekühlt hatte,
öffnete er die Fenster der Wohnstube weit, setzte sich an das Klavier, das ihm nun gar nicht mehr so groß und düster erschien, wie es in seiner Erinnerung gewesen war und entlockte ihm alle die Melodien, die er früher darauf gespielt hatte. Und dann erinnerte er sich auch wieder der Geschichte des Instruments, wie es zuerst ungeliebt im Nachbarhaus gestanden hatte, wie es ihm geschenkt wurde, an den aufregenden Transport und an den starken Willi mit seinem Eisenarm. Wie kühl mußte sich der stählerne Haken jetzt, in der Sommerhitze, wohl anfühlen, ein seltsamer Gedanke. Nie hatte er es als Kind gewagt, den Eisenarm zu berühren, höchstens hin und
wieder einmal einen vorsichtigen, scheuen Blick darauf geworfen.

Am nächsten Tag, die Sonne stand schon hoch am Himmel und hatte die Thermometersäule in beachtliche Höhe getrieben, zog es Robert an den Fluss. Er hatte ein Buch mitgenommen und wollte darin lesen, auf einem der großen Steine sitzend, die der Fluss bei einer der zahlreichen Überflutungen mit ins Tal gerissen hatte. Als er sich
der Brücke näherte, bemerkte er eine Menschenmenge dort stehen und flussabwärts auf das Wasser blicken. Was gab es dort nur Interessantes zu sehen? Obwohl er nicht zu denen gehörte, die sich durch jede Menschenansammlung angezogen fühlen, sondern lieber weiter ging, wissen wollte er doch gern, was dort geschah. Als er sich
den neugierig zum Fluss hinunter Schauenden so weit genähert hatte, dass er deren Gesichter ausmachen konnte, erblickte er ihm bekannte Gesichtszüge von ehemaligen Spielkameraden, nun Erwachsenen seines Alters. “Was gibt es denn dort zu sehen?” fragte er, nachdem man sich wieder erkannt und begrüßt hatte. “Sieh doch nur den eisernen Willi dort im Wasser”, war die Antwort. Und nun gewahrte Robert, was hier geschehen war und so viele Neugierige angelockt hatte. Willi hatte seine Pferde ausgeschirrt, um sie am flachen Flussufer zur Tränke zu führen. Dabei war eines seiner Tiere ungeduldig und voller Erwartung des kühlen Trunkes durchgegangen, zum Fluss getrabt, stand nun im flachen Flussbett und hörte nicht auf, das kalte Wasser des Gebirgsflusses zu saufen. Weder durch gute Worte, noch durch lautes
Schimpfen konnte der Besitzer, der mit dem anderen Pferd noch am Ufer stand, sein Tier dazu bewegen, den Fluß zu verlassen. Schimpfen aus Willis Mund hörte sich für Robert merkwürdig an. Nie hatte er früher den sonst so ruhigen, gutmütig lächelnden Fuhrmann schimpfen hören. Aber sonst war er es, der eiserne Willi, so wie er sich am Vortag an ihn erinnert hatte, etwas älter vielleicht und mit einer Schirmmütze auf dem Kopf, die er früher nie getragen hatte, stand er ganz allein,
breitbeinig und kraftvoll am Ufer. Mit der gesunden Hand hielt er das zweite Pferd, das seinem Geschirrkameraden nur zu gern ins Wasser gefolgt wäre, sich aber aus Willis festem Griff nicht zu lösen vermochte. Den eisernen Arm hatte er hoch erhoben, während er dem ungehorsamen Pferd mal beschwörend, und dann und wann auch mal schimpfend Kommandos zurief. Das hatte die Schar Neugieriger angelockt, um dem Schauspiel, das schon länger als eine Stunde andauerte, beizuwohnen. Sie erteilten dem Kutscher gutgemeinte Ratschläge und feuerten ihn durch Zurufe an, andere lachten schadenfroh. Viele von ihnen waren, so wie Robert, als Kinder dem
Fuhrwerk nachgelaufen. “Onkel Willi, nimm uns mit”, hatten sie gerufen und so lange gebeten und gebettelt, bis Willi sie zu sich auf den Kutschbock genommen hatte, einen nach dem anderen. Und nun standen sie hier oben, der einsame, eiserne Willi mit seinem Pferd am Arm unten und niemand, nicht einer von denen, die als Kinder nur zu gern mit ihm gefahren waren, kam auf den Gedanken, ihm zu helfen. Der Pferdebesitzer stand unter Zugzwang. Sein Pferd fand kein Ende,
das kalte Wasser zu saufen. Das würde ihm schaden, das könnte zu einer Kolik führen. Seine zahlreichen Zuschauer, ihre Zurufe, ihr Gejohle, sie interessierten ihn nicht. Er war es gewohnt, seine Probleme allein und ohne die Hilfe der anderen zu lösen. Aber hier schien selbst er machtlos. Würde er das Pferd loslassen, dem
Unfolgsamen ins Wasser folgen, um es gewaltsam herauszuziehen, so würde das Erste es seinem Gefährten gleich tun und ihm den Gehorsam verweigern. Würde er es hingegen nicht loslassen und es mit sich ins Wasser nehmen, so hätte er statt eines sogar zwei Probleme. Was sollte er tun? Er bat niemanden um Hilfe, nicht er, der eiserne Willi. Er reckte den eisernen Arm empor, nicht seinem Publikum
entgegen, sondern seinem eigensinnigen Pferde drohend, obwohl es Robert nun so schien, als würde sich die Drohung auch gegen die schadenfroh Gaffenden richten.

Robert hatte bisher, ebenso wie die anderen, nicht geholfen, anders als Willi ihm, dem fünfjährigen damals geholfen hatte, vielleicht hatte er ihm sogar sein Leben zu verdanken. Er hatte überlegt, vielleicht hatte er zu lange nachgedacht, anstatt seinem alten Freund gleich zur Seite zu springen, aber er war sich nicht sicher, ob er
wirklich würde helfen können. Und sollte er sich ebenfalls dem Gespött der Menge aussetzen? Nun erkannte er aber plötzlich, worin das Problem bestand. Es war der hochgereckte eiserne Arm, das ungehorsame Pferd hatte wohl Angst vor dem drohend in die Höhe ragenden Stahlarm, so wie er selbst als Kind größte Ehrfurcht,
beinahe sogar Furcht, vor Willis eisernem Hakenarm empfunden hatte. Vielleicht trank es gar nicht von dem kalten Wasser, sondern hielt Kopf und Blick nur ins Wasser gesenkt, um seinen drohenden Herrn und Meister nicht sehen zu müssen?

Robert lief los, zum Ufer hinunter, um das dort stehende Pferd zu übernehmen. Willi erkannte ihn sofort. “Na endlich hilft mir mal jemand”, sagte er anstatt einer Begrüßung, denn inzwischen hatte er die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannt und übergab Robert das Pferd. Er wußte, Robert würde den ungeduldigen Vierbeiner in die Schranken weisen können. Bevor dieser mit dem Pferd ansWasser ging,
um es auch saufen zu lassen, griff er mit seiner freien Hand nach Willis stählernem Arm. Das Metall fühlte sich so an, wie er es sich vorgestellt hatte, kühl, trotz der Hitze des Tages. Willi blickte ihn erstaunt an. “Es hat Angst vor deinem Haken”, sagte Robert. Willi begriff, senkte den Arm und folgte dem ungehorsamen Pferd ins Wasser. Er packte es am Halfter und versuchte, es aus dem Wasser ans Ufer
zu ziehen. Das Pferd widersetzte sich und leistete immer noch Widerstand. Robert blickte zur Brücke hinauf. Noch mehr Menschen hatten sich angesammelt. Aber es war ganz still geworden, keine Zurufe, keine Ratschläge und kein Johlen mehr. Willi redete begütigend auf das Pferd ein, er zog es wieder, aber es rührte sich nicht von der Stelle. Dann stand er ganz still, ebenso wie die vielen Zuschauer, reckte sich, streckte seinen stählernen Haken unter den Bauch des Pferdes, holte mehrere Male tief Luft und unter Hinzunahme des gesunden Arms hob er das Pferd empor und trug es ans Ufer. Das Pferd wusste nicht, wie ihm geschah. Verdutzt leistete es keinen
weiteren Widerstand, ließ sich willenlos einspannen, und zog, in seiner Pferdewürde tief gekränkt, mit gesenktem Kopf gemeinsam mit seinem neben ihm trottenden Kameraden, den Robert inzwischen wieder aus dem Fluss ans Ufer zurückgebracht und eingespannt hatte, den Wagen, angefüllt mit Kisten und Paketen, die noch auszuliefern waren, an den nun applaudierenden Zuschauern vorbei. Willi hielt sein
Fuhrwerk noch einmal an und blickte zurück. Er schien noch etwas vergessen zu haben. “Willst du ein Stück mitkommen?” rief er dem noch am Fluß stehenden Robert zu. Robert lief zur Brücke und kletterte auf den Kutschbock, während die Pferde wieder anruckten und ihre Last in Bewegung setzten. “Onkel Willi, nimm uns auch mit”, hörte man von der Brücke her, die sie nun schon überquert hatten,
rufen. Robert faßte nach Willis Stahlarm und fühlte das kühle Metall. Nun war er wirklich wieder zu Hause angekommen.


© Klaus Denecke


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Beschreibung des Autors zu "Onkel Willi"

In der kleinen Stadt am Fuße des Gebirges erzählt man sich viele Geschichten über den Fuhrunternehmer Willi Sawallisch. Der bärenstarke Mann, soll, obwohl er statt des rechten Arms nur eine Stahlprothese hat, damit sogar eines seiner Pferde aus dem Fluss ans Ufer getragen haben. Für den heranwachsenden Robert hat die Freundschaft zu `Onkel' Willi beinahe schicksalhafte Bedeutung.

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Kommentare zu "Onkel Willi"

Re: Onkel Willi

Autor: noé   Datum: 23.02.2014 20:24 Uhr

Kommentar: Eine lange Geschichte - aber sie hat sich gelohnt! Vielen Dank dafür.
noé

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