Der Dichter

Einst glaubte ein Mann, ein großer Dichter zu sein. Ja, er war bis ins Innerste davon überzeugt, ein von aller Welt sehnlichst erwarteter, begnadeter Poet schlummere in ihm.
Und so kritzelte er hier ein Blatt voll, machte sich da und dort und über alles Notizen, las viele gute und wichtige Bücher und liebte es, mit seinen Anmerkungen die Seitenränder unsterblicher Romane zu vervollkommnen.

Und so schrieb er und schrieb und versuchte sich bisweilen auch an Eigenem.
Seine Frau vertröstete er von einem aufs andere Jahr, jetzt sei sein Durchbruch nahe, stände unmittelbar bevor und bald werde ihm die Welt zu Füßen liegen, sein Werk werde die Bestsellerlisten anführen.

Und dichter und enger wob er an seinem Kokon, schrieb weiter und notierte und recherchierte und kam doch zeit seines Lebens nicht über Anfänge hinaus.

Seine Frau aber saß eines Abends an seinem Sterbebett. Sie küsste die erkaltende Stirn, wärmte seine Hände mit den ihren und flüsterte dicht an seinem Ohr:
„Ich glaub an dich, mein Liebster.“

Da überzog ein fernes Lächeln sein Antlitz. Die hellen Augen glänzten, tauchten in die tränennassen seiner Frau und mit einem tiefen Seufzer verschied er. ---

Nach einer angemessenen Trauerzeit gaben Freunde des Verstorbenen der Witwe, mehr oder weniger durch die Blume, zu verstehen, an dem Hingeschiedene sei – Gott hab ihn selig – bei allem Respekt nicht einmal ein Dilettant verloren gegangen.

Ruhig erwiderte diese:
„Ich wusste schon lange, dass aus meinem Mann nie ein Dichter würde. Doch wer hätte mir das Recht gegeben, seine Welt zu zerstören, indem ich ihm diesen Traum nehme? War uns beiden doch viel wichtiger, miteinander glücklich gewesen zu sein.


©HF/12/91


© Hans Finke


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Kommentare zu "Der Dichter"

Re: Der Dichter

Autor: noé   Datum: 21.12.2013 15:32 Uhr

Kommentar: DAS ist Liebe, den anderen so sein zu lassen, wie er ist.
Vorweihnachtsgrüße von noé

Re: Der Dichter

Autor: Michaela Thanheuser   Datum: 03.02.2014 21:43 Uhr

Kommentar: So schreibt Hans von wahren Werten in einer Beziehung...

Im Wissen darum, was Respekt, Loyalität und Zusammenhalt bedeuten.
Liebe kann nur gedeihen, wenn diese Werte gelebt werden.
Ohne sie kann Liebe nicht Bestand haben.
Und ohne Rücksichtnahme aufeinander, ohne Achtung. Wertschätzung und Toleranz, ohne stille Träume - verkümmert (man selbst und) alle Liebe.
Es ist eine Sache, eine Beziehung zu haben.
Es ist eine ganz andere Sache, ein ganzes Leben zu teilen.
All diese Facetten hast du in diese wirklich wundervolle Geschichte gepackt.
Diese Geschichte ist eine wahre Perle, die ich hier finden durfte.
Mein großes Kompliment an einen sehr klugen und lebenserfahrenen Mann.
Danke.
LG
Michaela

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