„Es gibt ein Land, wo der Schnee geboren wurde; und manche würden es als nördlich bezeichnen. Aber das stimmt nicht. Es liegt an einer Grenze, hinter der das Wort Norden nur ein geschriebenes Wort ist, das seine Bedeutung verloren hat. Verloren, als – weil es gefunden wurde.
Niemand, der dieses Land je betreten hat, ist wieder von dort zurückgekehrt. Aber das ist nicht von Bedeutung, weil nie jemand dieses Land besucht hat.
Wer dort geboren ist, wird nie etwas anderes sehen. Wer nach einem Ausweg sucht, scheitert daran, dass man im nicht-nördlichen Land keine Grenzen findet. Man kann laufen und laufen und laufen und taumeln und stolpern und fallen. Und wenn man fällt, fällt man in einen bodenlosen Abgrund, der dort endet, wo er anfängt.
Einmal, so erzählt man sich, ist jemand gekommen, der die Grenzen kannte und der sie zu überschreiten wusste.
Er sprach von Spiegeln, die die Grenzen zeigen und sie suchten danach. Er sprach vom Himmel, der hinter den Spiegeln liegt und sie träumten davon. Er erzählte vom Licht, das dort leuchtete und sie verleugneten die Schatten. Er sagte auch, dass hinter den Mauern ihres Gefängnisses die Sonne tausendmal so hell schien – und sie begannen ungeduldig zu werden. Sie suchten nach den Spiegeln und fanden nur Glas. Sie suchten nach dem Licht und sie sahen es nicht.
Es dauerte – es ist falsch, von Stunden zu sprechen, wenn Jahre für das Volk im nicht-nördlichen Land vergingen – und es dauerte lang.
Und als die Spiegelwände endlich gefunden waren und man den Reisenden holen ließ, bat er darum – denn es war tiefste Nacht – auf die Sonne zu warten, die ihr Vorhaben segnen sollte. Aber die Menschen, denen nach den Erzählungen vom Licht hinter den Spiegeln das der Sonne freudlos erschien, wollten nicht warten. Sie waren ungeduldig – nennt es Angst vor dem, was vergeht; nennt es Hoffnung.
Also zerschlugen sie die Spiegelwand. Mit einem Schlag. Ein Schlag; und die Wand brach in tausend Stücke, die mit dem Klirren von verwelkten Träumen zu Boden fielen.
Zurück blieb nur ein Echo.
Aber die Freiheit, nach der sich alle gesehnt hatten, war nicht greifbar. Freiheit lag nicht hinter den Spiegeln. Hinter der Spiegelwand lag eine Wand aus Spiegeln, hinter der Wand aus Spiegeln eine Spiegelwand. Wie viele die Menschen auch zerschlugen, dahinter war immer eine Neue.
Und ein Echo vom Lied der Scherben.
Der Reisende war verschwunden- niemand hat ihn mehr gesehen.
Aber als die Sonne aufging, leuchteten die Spiegelstücke auf. Genug Licht, um die Schatten zu vertreiben und aus dem nicht-nördlichen Land einen Himmel zu machen. Genug Licht, um die Sonne wieder zu verjagen. Genug Licht, um zu verstehen, dass die Sterne Scherben sind.“

Und Scherben bringen Glück.


© Stefanie T.


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