Unsere Ich-Erzählerin lag atmend in ihrem Bett.
Wie so oft schon.
Sie schlief.
Der Wecker klingelte. Das war sehr laut.
Nicht mal annähernd so laut wie ein Vulkanausbruch, aber immer noch sehr laut.
Es war unangenehm.
Unsere Ich-Erzählerin hörte auf zu schlafen und wachte auf.
Ohne vorher darüber nachdenken zu müssen, hatte sie einen Gedanken. Das Gehirn hatte die volle Kontrolle über sie. Wie ein totalitäres Regime.
Totalitäre Regime sind blöd…
Wissend, dass sie keinen freien Willen hatte, stand unsere Ich-Erzählerin aus dem Bett auf, um der Frage auf den Grund zu gehen, was der Welt heute wohl neues zustoßen würde.
Sie brauchte keine Lottozahlen oder Weihnachtskalender um auf Überraschungen hoffen zu können, die Zeit tat alles, was Sie (die Ich-Erzählerin) brauchte.
Sie bewegte sich durchs Zimmer bis hin zum Fenster.
Eins Zwei Drei.
Drei Schritte brauchte sie dafür.
Ob das wohl Zufall war, redete ihr Gehirn sich selbst ein.
Oder glückliche Fügung?
Gestern hatte sie vier Schritte gebraucht.
Dennoch…
Ihre Müdigkeit ist das Subjekt dieses Satzes.
Am Fenster angekommen sah sie herunter auf die Welt.
Der Ausblick war klein und unbefriedigend.
Unsere Ich-Erzählerin erinnerte sich daran, wie es draußen ausgesehen hatte, als Schnee auf der Erde gelegen hatte. Von daher war es völlig unnötig gewesen, den Blick nochmal aus dem Fenster zu wenden.
Aber sie entdeckte etwas Neues.
Der Sommer zeigte sich.
Er kam über den Horizont geschlichen, wie ein Sensenmann um die Ecke.
Unausweichlich holte er sich, was ihm zustand.
Gnadenlos schien die Sonne.
Hätte Schnee gelegen, wäre er wahrscheinlich vor Schmerzen schreiend geschmolzen.
So dachte ihr Gehirn vor sich her.
Ohne Verkehr wirkten die Straßen sehr leer.
Diesen Eindruck hatte sie von dem, was sich anscheinend hinter der Fensterscheibe verbarg.
Ihrem Gehirn machte sein eigener Gedanke Angst, dass Sie niemals erfahren würde, was wirklich hinter der Scheibe war.
Sie hatte nur ein paar Optische Reize, die ihre Netzhaut kitzelten. Mehr nicht…
Eine schreckliche Vorstellung war das.
Gegenüber stand ein Haus.
So erzählten es die Sehrezeptoren jedenfalls.
Es standen auch andere Häuser da, auf der Straßenseite gegenüber, irgendwo auf der Welt,
aber die hätten genauso gut in der Hölle verrotten können, so egal waren sie.
Das Haus war allem Anschein nach schön.
Alt war es auch.
Sie sah es beinah täglich.
Es war eigentlich unausweichlich, es täglich zu sehen.
Es war, als wäre sie gezwungen, das schöne Haus jeden Tag sehen zu müssen, solange sie nicht aus dem Haus auszog, in dem sie gegenwärtig vegetierte.
Irgendwer wohnte auch in dem alten Haus.
Wer, war ihr völlig egal.
Vermutlich waren es irgendwelche Leute.
Mit Arbeit, und Hobbies, und so.
Mit Atemrhythmus.
Blut.
Sauereien auf dem Boden.
Manchmal rutscht Menschen das Messer nun mal aus der Hand.
Die Füllung des Kleiderschranks bedeckte bald schon ihren Körper, wie Wasser den Grund des Sees, der hinter dem Haus war, dass hinter der Fensterscheibe zu stehen schien.
Hoffentlich gab es den See, dachte die Ich-Erzählerin.
Sie verließ ihr Zimmer, um den Flur zu betreten, überquerte das Treppenhaus, wechselte die Etage und ging über in die Küche. Sie sollte sich kurz darauf auf den aus Holz bestehenden Stuhl setzen, der sich ihr anbot.
Vorher aber sagte sie:
„Guten Morgen.“
Die Personen im Raum antworteten.
Sowohl Eltern als auch Geschwister.
Was sie von sich gaben, war eine gesellschaftliche Konvention, so sinnlos wie die Opferung eines Erstgeborenen. Aber wenigstens ohne Blut.
Die Ich-Erzählerin empfand ihren Gedanken als erleichternd.
Ihr Bruder war behindert.
Das war weit weniger, als man über ihn wissen sollte, um über ihn zu richten,
aber mehr als genug, um sich ein Bild von ihm zu machen.
Das Bild des Lesers von dem Jungen war völlig falsch.

Sie liebte ihren kleinen Bruder am allermeisten in ihrer Familie.
In absteigender Reihenfolge liebte sie ihre Familienmitglieder wie folgt:

Berry
ihre Zwillingsschwester Luise
ihr Vater
ihre Mutter

Berry war ihr fast schon richtig ans Herz gewachsen, wie die poetischen Erwachsenen es manchmal idiotischer Weise ausdrückten. Machten sich über anatomische und andere Realitäten lustig, als wäre es ein Volkssport.
Erwachsene hatten nur Dummheiten im Kopf.
Redewendungen. Poesien. Vergewaltigungen.
Alles kontraproduktiv. Da konnte man unserer Ich-Erzählerin nichts vormachen.

Luise war vor ihr geboren.
Das tat absolut nichts zur Sache für diesen Roman, war aber eine Tatsache.
Unsere Ich-Erzählerin lauschte, während das Frühstück langsam und
ansonsten unwahrscheinlich langweilig verging,
Berry´s ununterbrechbaren Monologen mit heller Begeisterung.
Laut ihrer persönlichen Meinung hätte Berry Hitler große Konkurrenz gemacht, was sein Charisma, und seine Redekunst generell anging.
„Ein Naturtalent“ nannte sie ihn in ihren Selbstgesprächen oft.
Luises Meinung bezüglich des Behinderten war davon zwar leicht zu unterscheiden,
diese war an unsere Ich-Erzählerin allerdings auch während
all der Zeit, von der dieses Buch handelt, nicht ein einziges lausiges Mal herangetragen worden.
Die Ich-Erzählerin wäre ihr vermutlich fast an den Hals gesprungen, hätte Luise ihre Meinung ausgesprochen. Sie hätte auf jeden Fall vehement widersprochen, und Berry verteidigt,
wodurch sie ihr eigenes Dilemma mit der Sprache überwunden hätte:
Sie redete nämlich immerzu so:
Entweder sie sprach von Dingen, nach denen man sie fragte,
oder sie sprach gar nicht.
Beides hatte nichts damit zu tun, was relevant war.
Weder die Frage danach, was der Lehrer aus ihr herauskitzeln wollte,
ob man Pippi Langstrumpf trauen sollte,
noch die Frage, ob sie sich nicht mal mit anderen „Mädchen“
in ihrem noch ach-so-jungen alter treffen wollte,
konnte mit der Erklärung beantwortet werden,
dass ein kleines Mädchen nun mal auf den Tod wartete.
Ihrer Mutter hätte sie gerne zu erklären versucht, dass die meisten Menschen nun mal gerne Leben, weil das einfach ihr Ding ist. Sie haben eben alle diesen Lebens-Fetisch.
Aber unsere Ich-Erzählerin fand das nun mal blödsinnig.
Sie hatte keinen Lebens-Fetisch. Ihr lag mehr am Tod sein, als am rumlaufen. Wozu soll ein Mensch immerzu umherlaufen?
Das macht er, damit er Essen kaufen kann.
Und dann isst er, damit er wieder herumlaufen kann.
Aber noch viel mehr Zeit vergeudet er mit Schlaf.
Und mit Gesprächen, Freundschaft, Sex, Fernsehen, Denken.
Und dabei wird er von anderen Menschen dauerhaft konfrontiert, als wäre Existenz ein einziger Streit darüber, wer den Streit gewinnt. Ob mit Sinn oder ohne.
Sogar im Schlaf läuft der Mensch herum, hat manchmal dabei so schlimme Träume, dass er davor flieht, indem er aufwacht, und dann in der echten Welt weiterläuft.
Warum bleibt der Mensch denn nicht einfach Tod?
Das begriff unsere Ich-Erzählerin nur bedingt.
Zwar hatte sie die Biologie bereits ausgiebig kennengelernt, und verstand sich angenehm mit ihr, doch entsprang ihrer Seele, auch wenn diese nicht vorhanden war, diese rhetorische Frage.
Warum nicht der Tod?
Es war ihr auch ein Rätsel, warum man Mörder bestrafte.
Mörder waren zwar wie alle Menschen so dumm, und blieben am Leben, doch waren sie immerhin so nett, einem anderen Menschen das rumzweifeln zu ersparen und ihn einfach selbst zu ermorden.
Die Ich-Erzählerin wusste, dass nicht alle Menschen sich fühlten, als ob sie permanent gefoltert werden.
Doch war ihr Gehirn nicht frei von Fehlern, und so projizierte sie nahezu GERNE ihren Weltschmerz auf alles, was sich in der Welt befinden mochte. Ob Fisch oder Käfer. Menschen schon vom Prinzip her.
Und eben darum fand sie, dass ein Mörder wie ein Arzt war.
Er tötete den Schmerz, indem er den Menschen ermordete.
Was ist ein Mörder denn anderes als ein Auto?
Ein Auto bringt uns schneller ans Ziel.
Tut der Mörder das denn nicht?
Ich frage sie:
WAS können SIE einem Mörder schon VORWERFEN!???

Propaganda war etwas Faszinierendes.
Menschen, die andere Menschen wie Knöpfe benutzen, schmutzig, widerlich, abscheulich.
Es fielen einem viele pejorative Adjektive ein…
In etwa zwanzig Jahren würde die Ich-Erzählerin feststellen, dass sie fast selbst nicht herausgefunden hätte, dass sie verarscht wurde.
Von einem Mann, der sie angeblich liebte, in Wahrheit aber nur ficken wollte.
Zum Glück war es nie dazu gekommen.
Schäm dich, du! Rief sie ihm zu.
Interessanter Weise reimte sich das.
Die Ich-Erzählerin hätte so etwas nie gerufen.
Sie behielt den Gedanken daran in ihrem Gehirn, neben einem Gehirntumor in der Größe eines Staubkorns.
Aber all das hatte ja noch Zeit.

Und so blieb sie bei ihrem mittlerweile von jedem auswendig gekannten,
von Schweigen belebten Monolog, den sie den Tag hindurch vor sich hinredete, manchmal melodiös dahinpfiff,
und manchmal in sich dachte.
Dabei besaß sie auch noch die Frechheit zu nuscheln, wenn sie schwieg.
Ein Unglück war das.
Ein Unglück von der schrecklichen Sorte.


© David Uerlings


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Beschreibung des Autors zu "Die Ich-Erzählerin"

Hatte mir das anfangs als Anfang für einen Roman überlegt, bisher hab ichs aber dabei gelassen...




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