Sie saß mit vorgeneigtem Kopf in ihrem Rollstuhl, der an einen Tisch nahe eines der zahlreichen Fenster hingeschoben worden war. Er wusste, dass sie immer ihren eigenen Tisch wollte, da sie keine Lust verspürte mit anderen zu sprechen oder mit ihnen zu spielen. Sie saß immer an diesem einen Tisch, da sie von hier aus in den Park sehen konnte. Ungestört an diesem Nachmittag, wie an allen anderen Nachmittagen der Woche. Selbst an Wochenenden erhielt sie keinen Besuch.

Zögernd ging der Junge zu ihrem Platz. Er hatte sich für den Zivildienst entschieden. Er wollte etwas Soziales machen, wollte helfen und vor allem wollte er nicht zur Bundeswehr. Nun stand er da als „ZIVI“ und betrachtete unbeholfen und ein wenig argwöhnisch die Frau im Rollstuhl. Sie schien zu schlafen, denn ihr Körper neigte sich weit über den Tisch, schwankte leicht. Die alte Frau war ihm unheimlich, eigentlich war ihm hier alles unheimlich. Die langen Gänge, die vielen alten Menschen. Manche schwiegen, andere brabbelten unverständlich, einige versuchten ihn ständig in ein Gespräch zu ziehen, das er nicht führen wollte. Es war skurril, aber was sollte er sich Gedanken darum machen? Er musste dieses Jahr hinter sich bringen. Irgendwie.
Also los, dachte er und machte sich selber Mut. Darüber straffte sich seine Gestalt. Er war schließlich jung und mobil, die da drüben war eine Alte, die im Rollstuhl saß, nichts mit ihm sprach, eine ständige Aura der Ablehnung um sich verbreitend.

Als er den Tisch erreichte schien sie ihn nicht zu bemerken. Zögernd legte er den Brief vor sie hin. Sie bewegte sich, zuckte leicht, die Finger zitterten und es schien sie große Kraft zu kosten, ihren Kopf zu erheben.
„Der Brief... ich meine...ich sollte..“ Er war ärgerlich über sich, da er keinen ganzen Satz zustande brachte. Immer wieder schüchterte sie ihn ein, obschon sie gar nichts sagte.
„Also ich meine, ich soll Ihnen den Brief geben....“
Sie sah ihn fragend an. Na also, sie konnte ja doch reagieren!
„Er wurde vorhin abgegeben... für Sie...“
Die Worte schwebten im Raum. Hatte sie ihn überhaupt gehört? Vielleicht war sie taub? Doch die Mimik der Frau hatte sich verändert. Eine gewisse Spannung war in ihr Gesicht getreten, als lausche sie einem Musikstück. Die Worte schwebten noch immer im Raum und sie versuchte, ihren Sinn zu erfassen.
„Soll ich ihn öffnen?“ bot er sich an. Wortlos nickte sie.
Er machte sich am Umschlag zu schaffen, nestelte an ihm herum, seine Finger waren zu ungeschickt, um in den dünnen Schlitz auf der Rückseite zu gleiten. Mit einem unschönen Geräusch zerriss plötzlich der Umschlag.
Er schob ihn über den Tisch zu ihr hinüber. Sie rührte ihn nicht an, musterte ihn erstaunt und machte keine Anstalten, das Kuvert zu öffnen. Schon wollte sich der Zivi erheben, als er ihre knarrende Stimme hörte, die schwer den Satz über die Lippen presste: „Bitte hol das Papier heraus.“
Seine Finger fanden ein Foto, er legte es auf den Tisch und öffnete den Umschlag weit um einen Gruß, etwas Erklärendes zu finden. Nichts. Er drehte das Foto um, nichts. Kein Wort. Merkwürdig!
Als das Bild wieder vor der Frau lag, trat er hinter sie und besah es sich. Im Hintergrund ein großes Gebäude, vielleicht eine Burg, davor in Reih und Glied Soldaten. Keine Soldaten, entschied er – es waren verkleidete Kinder. Kein schönes Bild.
Er trat neben sie um etwas zu sagen, doch ihre Augen starrten das Foto an, unbeweglich, fasziniert. Vielleicht auch erschrocken, gar schockiert?
Schweigen. Gänsehaut auf seine Armen, irgendwie war das hier nicht mehr skurril, das war furchterregend.
„Soll ich es wegbringen?“ bot er sich an.
Da schnellte, mit einer nicht erwarteten Heftigkeit, ihre Hand nach vorne und sie ergriff das Bild, presste es an ihre Brust: Die Augen hatte sie geschlossen. Er erhob sich. Oh man, die Alten hier sind echt schwierig, dachte er als er ging.

„Junge.... Junge!“ Welch seltsam klingende, laute Worte in diesem Haus für alte Menschen.
Erstaunt drehte er sich um. Die Alte hatte ihren Rollstuhl in seine Richtung bewegt, versuchte ihm zu folgen.
„Junge...“ sagte sie und ihre Hilflosigkeit rührte ihn mit einem Male. Er ging zurück, kniete sich neben sie. So aufgeregt hatte er hier noch keinen erlebt. Sie zitterte und ihre Finger, lang wie Krallen, packten mit ungeahnter Kraft seine Hand.
„Wo ist der, der dir das Bild gab?“
Drängend die Frage, ihre Augen starrten in seine.
„Was ist mit dem Bild? Wer ist da drauf? Sind das Söhne von Ihnen?“
Ihre Augen lösten sich von ihm, musterten das Bild wieder.
„Sind nur Buben auf dem Foto?“ fragte sie.
Die Stimme nicht mehr knarrend, aber noch immer schwerfällig. Sie streckte es ihm erneut mit einer rührenden Geste entgegen.
Er nahm es, betrachtete es genauer. Neun kleine Jungen in Uniformen wie zu Kaisers Zeiten. Jeder hatte etwas in der Hand. Ein Horn, Degen, eine Fahne. Je genauer er es ansah, umso mehr verlor das Bild seinen Schrecken. Eines der Jungen hatte nichts in der Hand. Die Hände an die Seiten gepresst, wie ein Soldat. Die kerzengerade Gestalt des preußischen Adels, ein hübscher Junge.
Er zeigte auf den Buben: „Das ist ein schöner Junge, der wirkt fast so, als sei er schon ein richtiger Soldat.“
Die Frau strahlte auf. Das abweisende Gesicht erhellte sich, die pergamentdünne Haut wurde von tausend Falten durchzogen, während sich ihr Kopf nach oben bewegte, bis er aufrecht selbstbewusst auf dem Hals zur Ruhe kam. Wie selbstsicher sie plötzlich wirkte!
„Das war ich,“ verkündete sie stolz.
Er lächelte und war auch stolz. Auf sich selber, er hatte es geschafft, diese Frau heute glücklich zu machen.
„Wirklich?“ Er fand gefallen an diesem Plausch.
„Mit diesem Foto fing alles an!“ Ihre Stimme wurde leichter. Offensichtlich mussten sich ihre Stimmbänder an das ungewohnte Sprechen gewöhnen.
„Was fing damit an?“
„Der Zorn... der Zorn, der mich mein ganzes Leben vorantrieb.“
„Aha,“ er war ratlos, konnte den Triumph in ihrer Stimme nicht zuordnen.
„Was hat das mit dem Foto zu tun?“
„Sie wollten mich nicht fotografieren. Ich war ja ein Mädchen und die habe keine Hose an. Jedenfalls damals noch nicht. Aber ich wollte auf das Bild! Was gab es für einen Kampf! Ich war so wütend! Und schließlich setzte ich meinen Kopf durch, der Fotograph gab auf, meine Mutter schlich nach Hause, mein Vater stand mit hochrotem Gesicht bei den anderen. Aber ich war mit Hosen auf dem Bild!“
Er musterte das Kindergesicht.
„Die Haare hatte ich unter der Mütze versteckt, das war die Idee meines Bruders, das ist jener, der ganz links am Rade steht.“
Er reichte ihr das Foto zurück.
„Und wohin trieb Sie Ihr Zorn noch?“ erkundigte er sich.
„Über all wo es Missstände gab, mischte ich mich ein. Oft unnötig, viele Dinge, die mich gar nichts angingen. Aber wenn wir alle immer nur zusehen, ändert sich doch nichts! Wenn sich jeder immer nur um sich selber kümmert, dann kann doch nichts bewegt werden.“
Mann, die Alte konnte tatsächlich sprechen. Und offensichtlich konnte sie sich auch wunderbar verstellen. Warum saß sie dann jetzt hier so untätig Tag für Tag, Woche für Woche herum?
„Natürlich haben Sie recht,“ sagte er beschwichtigend.
„Und warum sitze ich jetzt immer hier herum, fragst du dich?“
Hilfe! Konnte sie auch noch Gedanke lesen?
„Ja, das frage ich mich schon,“ gab er unumwunden zu. „Wenn Zorn Ihr Antriebsmotor war, frage ich mich, was passiert ist, dass Sie nun so untätig herumsitzen. Entschuldigung,.... ich kann das ja nicht beurteilen, Sie sind ja schon...“ Er war überrascht über sein ernsthaftes Interesse an ihr.
„Trotzdem ich damals schon über fünfzig war, fieberte ich mit der Studentenbewegung mit. Ich demonstrierte gegen Atomkraftwerke und war auch im Widerstand gegen Gorleben. Weißt du was über Gorleben, du schaust mich so fassungslos an?“
„Ähm, nein, ich glaub... irgendwann mal haben meine Eltern etwas erzählt...“
„Na ja, du kannst dich ja mal informieren..Aber Alice Schwarzer, die kennst du doch?“
„Oh ja, die grässliche Alte, die immer so blöde Sprüche macht.“
Es rutschte schneller heraus, wie er sich Gedanken machen konnte.
„Junger Mann, Sie sollten etwas mehr Interesse für die Geschichte der nahen Vergangenheit entwickeln und Menschen nicht so schnell verurteilen.“
Sie schwieg, ihr Körper hatte seine Kraftreserven aufgebraucht, sackte wieder in sich zusammen.
Schade, es hatte Spaß gemacht, sich mit ihr zu unterhalten.
„Soll ich Sie auf ihr Zimmer bringen?“
Sie nickte, seufzte, war erschöpft.

Als er Feierabend hatte, zögerte er und schlich dann doch zu ihrem Zimmer. Sie lag im Bett, der Fernseher lief, die Tabletten taten bereits ihre Wirkung. Schachmatt jeden Abend, dann gibt es eine ruhige Nacht im Seniorenstift.

Er ergriff ihre Hand, sie war ganz weich und leicht in seiner jugendlichen Warmen.
Er sah zu ihr, sie hatte die Augen geöffnet.
„Warum haben Sie den Zorn verloren?“ fragte er unbeholfen. „Das Leben sollte doch bis zum Schluss aufregend sein. Ich will nicht so enden wie Sie. Nur noch alleine sein, schlafen, schweigen.“
„Ach Junge, du hast doch nur dieses eine Bild gesehen... ich habe so viele andere in mir, in meinem Herzen. Wie unwichtig ist doch das Leben das du siehst.“
„Wann verloren Sie den Zorn?“ wiederholte er eigensinnig.
Ihre Augen wurden weich, es schimmerte in ihnen, ein dicker Tropfen Wasser löste sich und rollte einsam auf das weiße Kopfkissen.
„Das war, als ich lernte zu lieben.“


© Heike Kunst


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Beschreibung des Autors zu "Bilder-Geschichten"

Kurzgeschichte über die Begegnung eines jungen Zivis mit der zornigen Alten, die die Liebe fand.

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