Er kommt wieder. Wie jeden Tag. Der graumelierte Bart, die ruhige Art und der Bleistift in seiner Hand. Er legt den Stift auf das Band und fixiert mich. Es wird mir wie jedes Mal schnell unangenehm und ich schaue weg. Ich ziehe den Stift über das Band.
"Das macht eins zwanzig bitte."
"Einen Augenblick", sagt er lächelnd und kramt in seiner Manteltasche. Er zahlt mit einem Fünf-Euro-Schein, ich gebe ihm 3,80.
"Schönen Tag noch", sagt er und nimmt den Stift, geht an der Kasse vorbei, zu den automatischen Türen, nach draußen zum blauen Wagen mit dem Kennzeichen WFT WB 999 und fährt. Seit Ewigkeiten läuft das so. Ich weiß gar nicht, wann das angefangen hat. Und jeden Tag frage ich mich, warum? Warum dieser Stift? Warum jeden Tag?

Da steht er wieder. Stift in der Hand. Er legt ihn aufs Band. Sein Blick brennt auf mir. Ich schaue ihn an, entscheide mich.
"Warum dieser Stift? Warum kommen Sie jeden Tag wieder und kaufen diesen Stift?"
"Für dich, Süße", sagt er und lächelt breit. Ich bin so perplex, dass ich nicht direkt antworten kann. "Wie viel macht das?"
"1,20", murmele ich.
"Wie immer, wie immer", sagt er fast schon triumphierend. Er und sein Blick sind mir nicht mehr unangenehm, sie machen mir Angst. Ich gebe ihm sein Restgeld. "Danke, Ophelia." Was hat er gerade gesagt? "Woher kennen Sie meinen Namen?" Er lächelt und sieht mich an, eindringlich, starr. Ich halte seinem Blick einige Sekunden stand, aber es ist als er würde er soweit in mich hineinsehen, bis nichts mehr übrig bleibt. Ich muss mich abwenden. "Bis Morgen, Süße", sagt er. Dann nimmt er den Stift, geht an der Kasse vorbei und verschwindet draußen in seinem violetten Auto.

Die Tage verstreichen. Ich beeile mich, wenn er da ist, ertrage irgendwie den Blick und mache weiter. "Bis Morgen, Süße", sagt er nun jedes Mal, als hätte mein Ansprechen irgendetwas ausgelöst, irgendeine Grenze gebrochen. Jeden Tag ist es aufs Neue unangenehm. Jedes Mal überlege ich ihn zu fragen, woher er meinen Namen weiß und ihn zu bitten, mich nicht mehr Süße zu nennen, aber ich habe nicht das Gefühl, dass es irgendetwas ändern würde, sondern eher den gegenteiligen Effekt erzielen würde.

Es ist ein Tag wie jeder andere, nur tönt dieses Mal etwas aus der Sprechanlage. "Die Bleistifte sind ausgegangen. Die Bleistifte sind ausgegangen." Ich starre den endlosen Gang entlang und sehe wie er irgendwann auftaucht. Kein Stift in der Hand. Er sieht irritiert aus und irgendwie befriedigt es mich zu sehen, wie er seinen Zwang nicht ausleben kann. Kontrollverlust. Seine sonst so ruhige Art ist ins Gegenteil umgeschlagen. "Es gibt keine Bleistifte", stellt er fest. Ich nicke. Er sieht mich lange an, aber diesmal halte ich dem Blick stand. "Das tut mir leid für dich", sagt er schließlich. In seinen Augen liegt falsches Mitleid. Ich erstarre. Irgendetwas in seiner Stimme, irgendeine Geste, irgendetwas hat mich gelähmt. "Damit endet es wohl", murmelt er noch. Ich sehe ihm zu, wie er durch die automatischen Türen geht und in seinen roten Wagen steigt. Wie aus Stein, keine Chance. Ich atme und sehe, doch sonst nichts. Er verschwindet aus meinem Blickfeld.
"Der Supermarkt schließt in Kürze!" Nach einigen Momenten kehrt Kraft in meine Glieder zurück und ich löse mich aus der Starre. Ich stehe auf und verlasse meinen Arbeitsplatz. Niemand hindert mich, niemand sagt irgendetwas.
Ich gehe durch die automatischen Türen und alles wirkt fremdartig. Der Wagen ist nach rechts weggefahren. Ich sehe ihn am Ende der Straße, wie er abbiegt. Was wollte er? Warum hat er mich so angesehen? Ich beschleunige meinen Schritt, fange an zu rennen. Dann erreiche ich die Ecke und sehe wie der rote Wagen am Straßenrand geparkt wurde. Das Häuschen ist schmal und eine kurze Treppe führt zu der Tür. Ich bleibe auf dem Treppenabsatz stehen und sehe lange auf das Klingelschild. Arkenheim.
In dem Moment, in dem ich meinen Finger auf den Knopf pressen will, schwingt die Tür auf und er sieht mich an. "Natürlich musstest du kommen", sagt er. "Komm rein."
Ich folge ihm in seine Wohnung. Überfall hängen, liegen, stapeln sich Blätter, manche weiß, viele mit einer Zeichnung versehen. Wir bleiben in der Mitte eines runden Raumes stehen. Wände und Seiten von Zeichnungen übersät. Sogar an der Decke. Und dann sehe ich, dass jede Zeichnung mich zeigt. Wie ich dasitze am Kassenband und ihn treffe. "Was ist das?" "Deine Existenz." Ich sehe ihn verwirrt an. "Ich zeichne dich seit Jahren. Diese Szene, unser Treffen, alles, was du bist." "Mein Leben sind nicht nur diese Zeichnungen. Ich bin nicht nur Kassiererin." Alle Zeichnungen, die ich sehe, zeigen mich am Band. Er sieht mich lange an. "Wie bist du aufgewacht, wie war dein Morgen?" Ich denke nach, aber da ist ... Nichts.
Tränen. Leere im Kopf, aber Tränen. Existenzleere.
Und mir wird klar, dass da zwar ein Gefühl ist, mehr zu ein, eine Ahnung, die so grundsätzlich gewiss zu sein scheint, aber dass sich bei einem näheren Blick nur einer endlose Leere auftut.
"Du hast mich erschaffen?" Er nickt. "Warum so? Warum nur diese Szene?" Er sagt nichts. "Warum so langweilig, so leer, so zermürbend?" Er sagt nichts. "Warum hast du nichts aus mir gemacht?!"
"Weil ich es so wollte." Er betrachtet mich lange. "Ich habe keine Zeichnungen mehr, es hört gleich auf. Du hörst auf."
"Was passiert dann?"
"Das will ich ja sehen."
"Mach mir eine Zukunft, eine, die es wert ist zu leben."
Er grinst. "Nein, Süße."

Die Striche fließen von den Blättern und zu Ophelia hin, fließen in sie hinein. Und dann verblasst sie. Stück für Stück. In ihren Augen Entsetzen. Auch als sie verschwunden ist, scheint ihre Präsenz noch im Raum zu hängen. Die Präsenz von existenziellem Entsetzen.
Ich stehe allein im Raum. "Tut mir leid, Ophelia", murmele ich, nehme einen Bleistift und fange wieder an zu zeichnen.


© Daniel Spieker


0 Lesern gefällt dieser Text.

Diesen Text als PDF downloaden



Youtube Video



Kommentare zu "Bleistift"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Bleistift"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.