Als Elitesoldat beherrschte Leutnant Georg Mundi einen ganz besonderen Trick. Er konnte sich beispielsweise an jedem Wachposten vorbei schleichen, ohne dass er dabei bemerkt wurde. Niemand aus der gesamten Armee konnte ihm das nachmachen: schleichen wie eine Schlange, klettern wie ein Orang Utan, bewegungsloses Ausharren wie eine Raubkatze, stilles Robben mit angehaltenem Atem, ein leichtes, nicht hörbares Nachstemmen – so dicht am Wachposten vorbei, dass der Gegner auf ihn getreten wäre, wenn er sich gerührt hätte. Wenn ja? Klar, ein Todesurteil, aber nicht für Leutnant Mundi, sondern für den Feind, den er in solchen Fällen entweder lautlos mit dem Messer abmurkste oder auf andere Art und Weise brutal tötete.


Lt. Mundi lag mit dem ganzen Körper flach auf dem Boden, schlich im Schutz der Dunkelheit an dem hell erleuchteten Gebäudekomplex des Munitionsdepots heran und versteckte sich etwa 20 Meter vor dem streng bewachten Eingang hinter einigen hohen Büschen. Dort verharrt er eine Weile regungslos.

Dann warf er einen prüfenden Blick auf den mit Sträuchern und Bäumen dicht bewachsenen Hügel neben der Munitionsanlage, wo ein hoher Wachturm mit quadratisch angeordneten Wänden aus massivem Stahlbeton stand, der mit seinen überdimensionalen Scheinwerfern auf der Spitze des Flachdaches die Umgebung ringsherum taghell ausleuchtete.

„Es wird diesmal gar nicht so leicht sein, da unbemerkt vorbei zu kommen. Aber ich werde es schaffen“, murmelte Lt. Mundi leise in sich hinein und spähte mit zusammen gekniffenen Augen aus seinem Versteck hinüber zu dem bewaffneten Wachposten. Eine Weile später kam noch ein zweiter hinzu.

Während er so da lag, begannen plötzlich Erinnerungen und Bilder aus der Vergangenheit durch sein Bewusstsein zu kreisen. Vor seinem geistigen Auge wechselte in bunter Folge eine Szene nach der anderen, Schnappschüssen einer Kamera gleich, die ununterbrochen neue Fotos produzierte, auf denen er jedes Mal in einer anderen Gestalt zu sehen war. Eine Veränderung kündigte sich an, von der Mundi wusste, dass sie jetzt nicht mehr aufzuhalten war. Er wollte es so, genau in diesem Augenblick.

Der Leutnant hörte plötzlich ein Rauschen in seinem Kopf, das warnende Vorzeichen für einen beginnenden Schwächeanfall, wie er wusste. So war es immer, wenn es begann.

Von Sekunde zu Sekunde steigerte sich das nervige Geräusch in seinem Kopf. Dann, mit einem Schlag, ebbte es wieder ab und verschwand so schnell, wie es gekommen war. Stille breitete sich aus, nichts als Stille.

Die beiden Wachposten waren mit modernen Schnellfeuergewehren ausgerüstet, die sie vorschriftsmäßig auf dem Rücken trugen. Sie unterhielten sich gerade, als die Sprechanlage im Wachhäuschen eine Nachricht ausspuckte. Dann krächzte eine Stimme: „Hier spricht Oberst Krüger aus der Wachzentrale! Meldung über Sicherheitszustand am Tor 1 Munitionsdepot! – Kommen!“

„Hier Wachführer Uffz. Kaminsky. - Herr Oberst, ich melde keine besonderen Vorkommnisse am Tor 1. Wachsoldat Lehmann ist gerade vom Wachgang zurückgekommen. Nächster Kontrollgang in genau fünfundvierzig Minuten durch OG Bentheim. – Ende der Durchsage!“

„Hier Oberst Krüger, Wachzentrale. Verstanden und Ende!“

Der Wachführer Uffz. Kaminsky war erleichtert darüber, dass er dem Herrn Oberst keine Negativmeldungen übermitteln musste. Allerdings dauerte es bis zur nächsten großen Wachablösung noch ganze vier bis fünf Stunden und Uffz. Kaminsky wusste, dass in dieser Zeit noch viel passieren konnte. Dann schaute er prüfend zum Tor 1 rüber, das im grellen Licht der Halogenscheinwerfer ruhig wie immer da lag. Der wachhabende Unteroffizier nickte zufrieden.

Was er nicht sehen konnte war, dass sich unterhalb seines gedrungenen Wachfensterchens ein schlangenähnliches Gebilde lautlos über den kühlen Teerboden des Gehweges schob und vorsichtig versuchte, das Innere der gesicherten Anlage zu erreichen. Mit Erfolg! Denn schon kurze Zeit später hatte sich das seltsame Geschöpf, das eigentlich wie eine viel zu kurz geratene Pythonschlange aussah, in ein kleines Wäldchen unterhalb einer sanft abfallenden Böschung geschlichen, wo es bald im Unterholz verschwunden war.


Einige Zeit später.

Wachführer Uffz. Kaminsky rief den Wachsoldaten OG Bentheim zu sich.

Dann sagte er zu ihm: „OG Bentheim, fertig machen zum Wachgang in fünf Minuten! Überprüfen sie ihre Pistole und das Sturmgewehr! Beide Waffen durchladen und sichern! Schalten sie das Funkgerät ein und nehmen sie die Taschenlampe mit! Ich sage ihnen Bescheid, wann sie gehen können.“

„Jawohl, Herr Wachführer! Verstanden!“ gab der Wachsoldat zackig zur Antwort, setzte mit der rechten Hand den militärischen Gruß an die Stirn, überprüfte seine Ausrüstung und wartete auf den Befehl, seinen Wachgang beginnen zu dürfen.

Ein paar Minuten später verließ OG Bentheim das gemütlich warme Wachhäuschen und trat den bevorstehenden Kontrollgang draußen in der Nacht an. Er hatte dabei einen präzise festgelegten Streckenplan mit ganz bestimmten Anlaufpunkten einzuhalten.

Es gab bestimmte Gebäude und andere wichtige Einrichtungen, die genau zu kontrollieren waren. Alle fünfzehn Minuten musste der Wachsoldat außerdem aus Sicherheitsgründen über sein mobiles Funkgerät einen kurzen Funkspruch absetzen, der wiederum vom Wachhabenden jedes Mal bestätigt werden musste.

Keine zehn Minuten später hallten einige kurze Gewehrsalven durch die Ruhe der Nacht. In der Wache am Tor 1 brach Hektik aus und Uffz. Kaminsky trommelte seine übrigen Leute aus dem Bereitschaftsschlaf. Die Männer waren auf derartige Situationen gut vorbereitet und innerhalb kürzester Zeit standen acht Wachsoldaten in voller Ausrüstung draußen vor dem Wachhäuschen. Sie warteten auf weitere Befehle ihres Wachhabenden.

Unteroffizier Kaminsky rief derweil über Funk nach OG Bentheim. Der antwortete auch gleich: „Hier OG Bentheim am Anlaufpunkt 04. - Herr Unteroffizier, ich bestätige einen Kontakt. Ich kann allerdings nicht sagen, um was es sich hierbei genau handelt, aber es sieht aus wie ein Tier, besser gesagt, wie eine große Schlange. Dieses komische Etwas lag da im Dunkeln mitten auf dem Weg und bewegte sich auf mich zu. Ich habe natürlich sofort geschossen und einige Feuerstöße auf das seltsame Viech abgegeben. Sieht aus, als ob es tot wäre. Würde sagen, sie schauen sich das einmal selbst aus nächster Nähe an! – Kommen!“

„OG Bentheim, bleiben sie, wo sie sind! Ich bin gleich bei ihnen und bringe Verstärkung mit“, sagte Uffz. Kaminsky und ging sofort los. Draußen ließ er vier Soldaten aus dem Glied hervor treten, die er mitnehmen wollte. Die restlichen Wachsoldaten mussten Stellung beziehen, um den Eingang des Munitionsdepots zu sichern.

OG Bentheim stand breitbeinig auf dem holprigen Kiesweg, der an einem kleinen Wäldchen vorbeiführte. Sein Sturmgewehr hatte er schussbereit im Anschlag. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe auf einen blutigen Fleischberg direkt vor ihm, als der Wachhabende Uffz. Kaminsky mit der versprochenen Verstärkung am Ort des Geschehens eintraf.

Alle richteten sie jetzt den Lichtkegel ihrer Handlampen auf den zerschossenen Kadaver, der vor ihnen im blutverschmierten Gras lag.

Dann ging Uffz. Kaminsky auf den tot daliegende Körper zu und untersuchte ihn etwas näher.

„Mmh, sieht tatsächlich aus wie eine Schlange, besser gesagt wie ne’ Art von Python oder so. Genau kann ich das auch nicht sagen. Ein Mensch ist es jedenfalls nicht. Ich sehe keinen Kopf, keine Arme, Hände oder Beine mit Füßen dran. - Haste noch mal Glück gehabt, Bentheim! - Trotzdem, ich würde gerne wissen, wie dieses seltsame Kriechtier hier rein gekommen ist.“

Eine Weile dachte Uffz. Kaminsky nach. Plötzlich sagte er: „Zum Teufel noch mal! Männer, hört mal her! Wir schaffen den stinkenden Fleischklumpen von hier so schnell wie möglich weg, laden ihn auf unseren LKW und werfen ihn einfach in den nah gelegenen Fluss. Die Fische werden sich freuen! – Wenn wir jetzt den Vorfall melden, bekommen wir garantiert eine Menge Ärger. Feierabend gibt’s dann auch nicht. Das will doch keiner von euch – oder?“

Eigentlich war ja auch nichts Großartiges geschehen. OG Bentheim hatte lediglich ein Tier unbekannter Herkunft erschossen. Na und? Wen juckt das schon! Hätte ja auch ein streunender Hund oder ein ganz normales Wildschwein sein können. Und weil’s im Prinzip ja doch keinen kümmert, ist jede Meldung an den nächst höheren Vorgesetzten überflüssig. So sah Uffz. Kaminsky jedenfalls die Lage.

Die Soldaten nickten mit dem Kopf. Sie waren mit der vorgeschlagenen Aktion ihres Wachhabenden Offiziers natürlich einverstanden.

Eine Stunde später warfen zwei kräftige Soldaten aus der Wachtruppe den undefinierbaren Fleischkörper von der Ladefläche des Militär LKW’s über das brusthohe Brückengeländer runter in das vorbeifließende Wasser des rauschenden Flusses. Man hörte noch ein lautes Klatschen, dann war alles vorbei.

Für Uffz. Kaminsky und seine Männer war die Sache damit erledigt. Schwamm drüber! Aus und vergessen. Um sieben Uhr war große Wachablösung und jeder der Wachsoldaten wollte nur rechtzeitig nach Hause. Es winkte ein verlängertes Wochenende. Das war ihnen auf jeden Fall wichtiger als alles andere.


***

Im Offiziersheim der Kampfkompanie 5/193 hatte man in Bierlaune eine Wette mit Leutnant Georg Mundi, dem Elitesoldaten, abgeschlossen. Wegen seiner außergewöhnlichen Fähigkeit, sich an jedem Wachposten unbemerkt vorbei zu schleichen, war man bei einer Feier auf die Idee gekommen, dass er sein legendäres Können auch mal am nah gelegenen, besonders gut bewachten Munitionsdepot ausprobieren sollte.

Man einigte sich auf das schwierige Tor 1, dem Haupteingang, mit seiner besonders starken Halogenbeleuchtung, die diesen wichtigen Bereich in der Tat die Nacht zum Tage werden ließ.

Gesagt getan.

Lt. Mundi hatte sich auf die vereinbarte Wette eingelassen und war noch am nächsten Tag gegen Abend los gezogen. Als Beweis für den Erfolg seiner Aktion sollte er einen ganz bestimmten Gegenstand vom Gelände des Munitionsdepots mitbringen, von dem nur die anwesenden Offiziere etwas wussten.

Doch es kam alles ganz anders.

Leider hat man seit der Zeit vom Elitesoldaten Leutnant Mundi nie wieder etwas gehört. Er ist bis auf den heutigen Tag nicht mehr aufgetaucht. Er blieb verschwunden.

Erst 15 Jahre später, nach meinem altersbedingten Ausscheiden aus dem Militärdienst, erzählte mir auf einem Veteranentreffen Hauptfeldwebel Kaminsky völlig ahnungslos von einer eigenartigen Begebenheit, die er während seines Dienstes als Wachhabender Uffz. im nahgelegenen Munitionsdepot erlebt hatte. Er sprach von einer ungewöhnlich aussehenden Kreatur, einer Schlange ähnlich, die von einem seiner Wachsoldaten erschossen worden war und die man später gemeinsam in den nah gelegenen Fluss geworfen hätte. Der seltsame Vorfall wurde nie gemeldet und niemand von den übrigen Wachsoldaten hat je wieder davon gesprochen. Schon bald war über die ganze Sache Gras gewachsen.

Ich ahnte in diesem Moment, was damals mit Leutnant Mundi wirklich passiert sein musste. Die Wette hatte einen tödlichen Ausgang für ihn genommen. Ich behielt die grausame Wahrheit für mich und verriet keinem etwas davon. Niemand wird je überhaupt etwas davon erfahren.

Ich kannte Leutnant Mundi persönlich nämlich sehr gut. Ich war fast acht Jahre lang sein Fahrer gewesen. Wir waren eng miteinander befreundet.

Ich wusste auch als einziger von seinem streng gehüteten Geheimnis.

Leutnant Georg Mundi war ein Metamorph gewesen, der die Gestalt von Tieren annehmen konnte, besonders die von Schlangen. Er war ein Elitesoldat und hatte schon unzählige gefährliche Unternehmungen erfolgreich hinter sich gebracht. Tja, dass er mal so enden würde, das war eigentlich seiner Stellung nicht würdig. Aber er hatte ein Wette angenommen und dummerweise verloren, noch bevor er sie richtig zu Ende führen konnte.

Welch eine Ironie. Seine eigenen Leute haben ihn erschossen und niemand ahnte etwas davon, wer er wirklich war.

Ich werde den Elitesoldaten Leutnant Georg Mundi, den Metamorph, trotzdem nie vergessen.





Ende


© Heiwahoe


© (c)Heiwahoe


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Beschreibung des Autors zu "Der Elitesoldat Leutnant Georg Mundi"

Leutnant Georg Mundi hat als Soldat ganz besondere Eigenschaften. Er kann sich in jedes beliebige Tier verwandeln.

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