Jetzt, da er nicht mehr im Dienst war, schlenderte er einmal wieder ziellos durch ein Kaufhaus. Aha, auch so eine Bücherkiste, alles für 3,99 €. Mal. Tatsächlich, es gab zwei seiner neun Biographien über Kinder und Enkel von Nazi-Größen. Jetzt wird alles verramscht, auch gut.

Bis vor kurzem war er Lehrer für Deutsch und Geschichte an einer Realschule. Als Kind schon hatte er leidenschaftlich gern geschrieben. Die Freude am akribischen Recherchieren kam während des Studiums hinzu. Zwei Tätigkeiten mit eigentlich unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Schreiblust treibt das Tempo, Recherchieren geht langsam. Man muss aber immer den Langsamsten siegen lassen, sonst wird es nichts, auch wenn es mal keinen Spaß macht.

Das Interesse an den Nachkommen der Nazis hatte er schon immer. Wieviel von den Tätern steckte in ihnen? Gar nichts – ein wenig – oder doch mehr? Wie viel haben sie direkt erfahren? Wie ist es ihnen damit ergangen? Was haben sie damit gemacht? Gibt es gespaltene Verhältnisse, ein Pendeln zwischen Nähe und Distanz, zwischen familiären Banden und moralischer Befremdung?

Er hatte viele Interviews geführt. Mit seiner angenehm ruhigen, sanften Stimme ist es ihm gelungen, Dinge ans Tageslicht zu bringen, sonst niemals bekannt geworden wären.

Sein letztes Buchprojekt hat er aufgegeben. Seine Schreiblust hatte ihn verlassen, ganz einfach so, ohne Ankündigung. Es war kurz nach seiner Pensionierung. Es ging einfach nichts mehr. Nicht dass er es entschieden hätte. Es fühlte sich fast an, als ob man ihm zwei Liter Blut entnommen hätte. „Akzeptiere es“, hatte ihm ein guter Freund geraten. „Das kann sich wieder einrenken. Das hängt bestimmt mit deinem Ruhestand zusammen.“

Aber es wurde nicht besser. Und jetzt auch noch die vermaledeite Bücherkiste.

Er blieb noch ein bisschen stehen und tat so, als würde er ein bisschen stöbern.

„Entschuldigung, darf ich mal?“, fragte eine ältere Dame. Mit ihrem zu stark gekalkten Gesicht wirkte sie etwas aus der Zeit gefallen. Sie nahm eines der Bücher, die er geschrieben hatte.

„Darf ich Sie was fragen?“, wandte er sich leise an sie.

Sie blickte ihn erstaunt an, als hätte er etwas Unanständiges gesagt. Und dann:„Ja, fragen Sie, junger Mann.“

„Warum gerade dieses Buch?“

„Was ist denn so Schreckliches daran? Man muss sich doch interessieren, verstehen Sie?", sagte sie mit einem seltsam bedeutungsvollen Unterton.

„Ich glaube, ich verstehe Sie. Und darf ich Ihnen was dazu sagen?“

Sie schaute ihn leicht spöttisch an.

„Ich bin der Autor!“

„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Das glaube ich nicht, so sehen Sie nicht aus. Wenn das wirklich stimmt, würde ich Sie auf eine Tasse Tee einladen. Und vielleicht erzähle ich Ihnen auch etwas, was Sie interessieren könnte."

Er kramte umständlich eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie heraus und gab sie ihr.

„Morgen um die gleiche Zeit im Café hier?“, fragte sie.

Er lächelte sie an und nickte.

Aber am nächsten Tag kam sie zur vereinbarten Zeit.

Eine Stimme in ihm sagte: Das wird ein neues Buchprojekt.


© Glaser


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