Die Tour mit dem Rad, am 12. August 1961, lag hinter mir.
Den Doppelposten an den Einfallstraßen zur Hauptstadt der DDR maß ich keine Bedeutung bei, tischte ihnen, da sie mich immer wieder stoppten, jedes Mal die gleiche Geschichte auf: Ich komme aus Karl-Marx-Stadt (früher und später wieder Chemnitz) und fahr an die Ostsee in Urlaub, und trete im Herbst in die Nationale Volksarmee ein. Das klang bieder genug.
Aber einmal, als ich bei einer LPG hielt (das waren die Zwangszusammenschlüsse bäuerlicher Betriebe) weil ich Durst hatte, wäre mir das um ein Haar zum Verhängnis geworden. Gerade als mir die Bauersfrau ein Glas Milch geben wollte, kam ein Mann mit Hut und glänzendem Ledermantel auf uns zu. Die Milch durfte ich noch trinken. Glücklicherweise übergab er mich, der ich ihm verdächtig erschien, einem älteren NVA-Offizier und übernahm das Ausfragen nicht selber.
Die NVA hatte in dieser strategisch günstig gelegenen LPG eine mobile Kommandantur eingerichtet, deren Zweck mir später erst klar wurde. Der Offizier empfing mich aber freundlich, was meine Angst ein wenig verdrängte. Er fragte mich nach Ziel, Zweck, Woher, Alter und dergleichen. Bereitwillig gab ich Auskunft, schmückte aus, wo ich es für notwendig hielt, zeigte ihm meinen Facharbeiterbrief, den ich bei mir trug und setzte mein unschuldiges Gesicht so überzeugend auf, dass der Offizier mir die Geschichte mit dem Ostseeurlaub und dem Zwischenstopp in Berlin glaubte.
Am meisten freute ihn meine Entscheidung, zur NVA zu gehen. Darüber vergaß er, in Karl-Marx-Stadt anzurufen, um sich meine Angaben vom dortigen Rat der Stadt bestätigen zu lassen. Davor hatte ich große Angst, denn so wäre bekannt geworden, daß meine Eltern Republikflucht begangen hatten; das hätte mein Schicksal in eine für mich gefährliche Richtung gelenkt. Am Ende seiner Befragung suchte er auf einem Stadtplan sogar noch die entsprechende Straße in Berlin, und wie ich am besten dorthin käme. Der Ledermantel blickte sichtlich enttäuscht, als ich ihn, erleichtert in Begleitung des Offiziers, passierte.
Müde von der Aufregung fand ich nach Stunden die Adresse und läutete bei der Familie, die mit meiner Mutter seit langem befreundet war. Der Mann arbeitete als Pilot bei der Lufthansa der DDR. Zum letzten Mal erzählte ich mein Märchen mit wachsender Perfektion. Ich freute mich auf den kommenden Tag, den ich gedachte, in Ruhe mit einem ausgedehnten Spaziergang in der Hauptstadt zu verbringen. Dabei wollte ich mir die nächsten Schritte zur Flucht überlegen. Ich hatte ja nun eine Bleibe bei einer Pilotenfamilie und Piloten waren natürlich in der Partei, also genoss ich sogar eine Art Schutz.
Ein kleines Problem, das sich allerdings später als Segen herausstellen würde, lag in dem Umstand, dass diese Familie just am nächsten Morgen in aller Frühe in Urlaub fahren wollte, was mich bereits um 6 Uhr auf die Straßen Ostberlins zwang. Ich musste wohl schneller als gedacht in den Westteil der Stadt gelangen, hatte aber keine Ahnung, wo der der Westen überhaupt begann. Dass viele S-Bahnen kreuz und quer durch Berlin fuhren, wusste ich allerdings und so suchte ich nach dem großen S.
Das fand ich bald und nahm somit Abschied von meinem Fahrrad, meinem einzigen nennenswerten Besitz. Ich schloss es an das Eisengeländer des S-Bahneingangs und fühlte ich mich einen Moment lang wie ein Verräter an meinem Drahtesel.
Jemand mochte sich wenigstens erst mal plagen, wenn er schon mein Fahrrad bekäme.
Ich betrat den Bahnhof, dessen Namen ich vergessen habe. Wie weit soll ich fahren, und in welche Linie einsteigen? So nahm ich die Erstbeste, von Mut und Angst gleichermaßen gedrängt. Ich vermied es, mich zu setzen, das hätte im Notfall Zeit gekostet. Mit einer großen Stadt hatte ich nicht die geringste Erfahrung, außerdem befürchtete ich, man würde mich wegen meines jugendlichen Alters bestimmt festnehmen oder wenigstes überprüfen. Die Fahrt mit vielen Haltestellen schien kein Ende zu nehmen. Irgendwann stieg eine Gruppe Junger Pioniere ein, die zu einer Veranstaltung wollten. Auch ich war ein Pionier gewesen.
Über das Unbeschwerte ihrer Unterhaltung hinweg fing ich den Blick eines Mannes auf, dessen spiegelnde Brille ich noch als Bild vor mir sehe. Ich ließ meinen Blick aber betont gelangweilt zu den Pionieren wandern, die ein Lied zu proben begannen, welches ich mit zu summen begann. Der Mann aber lächelte nicht. Natürlich vermutete ich in ihm einen "Ledermantel". Zu Recht. - Noch heute denke ich, hätte mir damals, an diesem 12. August, jemand verraten Berlin würde morgen früh von einer Mauer zerschnitten werden und alle Staatsdiener und die halbe Volksarmee seien längst in höchster Alarmbereitschaft, wäre ich bestimmt gar nicht erst aus meiner Heimatstadt losgefahren. -
Aus Westzeitschriften, die ich manchmal heimlich zu lesen bekam, kannte ich verschiedene Zigarettenreklamen, wie die von Zuban oder Salem, letztere zeigten ein grünes Feld mit weißer Schrift. Oder Bärenmarke. Äußerlich so gelangweilt blickend wie es einem Provinzler möglich war, überflog ich während jeder Einfahrt bereits die Wände am Bahnsteig und hatte nach quälenden Minuten Glück. SALEM bewegte sich auf mich zu. Als ob ich zögerte auszusteigen, schob ich mich Richtung Ausgang. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie mein Beobachter ebenfalls aufstand. Die wenigen Meter zur Tür zogen sich endlos, ich zwang mich, nicht schneller zu werden. Wir stiegen als einzige aus. Unbewusst aber hellwach vollzog ich diesen ersten Schritt vom Waggon auf den Bahnsteig, der mich von meinem Heimatland in ein fremdes springen ließ. Damit hatte ich Geschichte geschrieben, wenn auch nur meine eigene.
Der Bahnsteig war leer bis auf den Fremden und mich. Da rannte ich los, nicht achtend was hinter mir geschah.
"Halt! Stehen bleiben, Stehen bleiben oder ich schieße!" schrie der Mann.
Ich flog; nicht zuletzt war ich recht gut in Leichtathletik, flog die Treppe hoch, auf den hellen Ausgang zu, über eine Straße, auf der zum Glück gerade kein Auto fuhr, eine Wahrscheinlichkeit, die damals größer war als heute. Erst auf der anderen Seite drehte ich mich um und sah den Mann, der heftig schnaufend die Faust in meine Richtung schüttelte aber keine Anstalten machte zu folgen. Ich stand auf Westberliner Boden.

Jetzt erst merkte ich wie meine Knie zitterten, oder war es der Hunger? Die Pilotenfamilie hatte mir in der Eile nur einen Kaffee machen können. Ich fühlte nach meinem Ostgeld in der Tasche. Die Geschäfte waren noch geschlossen. Ich sah mich um und fand ein großes Schild "Wechselstube" über einer der Türen eines flachen langen Baus. Auf einem Pappschild darunter stand
"Täglich ab 8 Uhr geöffnet - Umtausch 1 : 4".
Das 1 : 4 war auf Klebestreifen darunter geschrieben. Noch eine Stunde Zeit.
Ein Obst- und Gemüsehändler stellte mit ruhigen Handgriffen seine Auslagen auf. Die unglaublich gelben Bananen stachen mir ins Auge. Er musste mich bereits taxiert haben. Wie ich ihm so zuschaute, winkte er mich heran und schenkte mir zwei große Exemplare.
"Dankeschön!" sagte ich und hatte bereits die erste von der falschen Seite her abgeschält.

"Nu verschluck dir man nich gleich, da, haste noch eene. Un nu, allet Jute, Kleener."
Damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.

Diese drei Bananen, am 12. August 1961 um halb sieben Uhr morgens in Berlin werde ich nie vergessen.
Noch heute bringe ich Bananen immer mit Berlin am Morgen in Verbindung - und mit Hunger.

© Copyright connemara


© Hans Finke


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Beschreibung des Autors zu "Berlin - Berlin"

Meine Reise von Deutschland nach Deutschland

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Kommentare zu "Berlin - Berlin"

Re: Berlin - Berlin

Autor: simon   Datum: 08.07.2013 21:47 Uhr

Kommentar: sehr ergreifend!
Solche Geschichten erzählen Außerirdische Ihren Kindern, damit diese Philosophie studieren...
LG Simon

Re: Berlin - Berlin

Autor: noé   Datum: 21.12.2013 15:59 Uhr

Kommentar: Was für ein Erlebnis! So hautnah, connemara (kommt da Irland durch - oder die Liebe zu Irland?)!
Wenn meine Mutter eine Tante in Ostberlin besuchte, wurde sie während des gesamten Besuches von Volksarmee-Autos "beschattet", sogar auf dem kurzen Weg, seifigen Kuchen um die Ecke zu kaufen. Sie hatte jedesmal die Angst, die Straßenbahn nicht wieder erst im Westen verlassen zu können.
Liebe Vorweihnachtsgrüße von noé

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