Es war das Jahr 1738. Paris war voller Menschen und dies ließ die Hitze des 17. Juli noch unerträglicher erscheinen. Eine kleine, zierliche Frau drängte sich durch die Menschenmassen, die sich auf dem Place Saints-Innocents versammelt hatten. Ihr Name war Marie Eugénie Bonnet. Sie war niemand, den man hätte erwähnen müssen. Sie war unscheinbar, besaß nichts, hatte weder eine angesehene gesellschaftliche Stellung, noch wusste sie sich gut zu benehmen. Sie hatte keine vorteilhaften Kontakte, keine Freunde, die sie ehrten und schätzten, ja nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Kurzum, sie war völlig unbedeutend. Und doch, trotz alledem, ist dies ihre Geschichte. Marie war 14 Jahre alt, als sie über den Markt ging, um einerseits sich irgendwie den Magen zu füllen, andererseits um sich die Zeit zu vertreiben, da sie nichts anderes mit sich anzufangen wusste. Sie suchte sich hinter einigen großgeratenen Menschen zu verbergen, um unbemerkt unter die Verkaufsstände zu kriechen. In den meisten Fälle war diese Methode ein Leichtes für Marie, doch es war ihr oft genug passiert, dass sie erwischt wurde und kurzer Hand hoch gehoben und in irgendeine Ecke geworfen wurde. Diese Vorfälle hätten für sie demütigend oder zumindest körperlich schmerzhaft sein müssen, doch Maries Geist war abgestumpft, ihr Körper so oft geschunden, dass sie nichts mehr zu spüren vermochte. So erhob sie sich dann, kam aus ihrer Ecke hervor und versuchte es erneut als wäre nichts geschehen. Man hätte meinen können, Marie wäre bloß noch eine kalte, leblose Hülle.
Auch an diesem 17.Juli versuchte sie ihr Glück und schaute sich nach einem lohnenswerten Stand um. Sie entdeckte einen mit einigen Brotlaiben. Neben diesem Stand hatte eine junge Frau ihre Fischwaren ausgelegt. Marie bemerkte, dass diese Frau ihr Gesicht krampfhaft verzog, so als erlitte sie Schmerzen. Doch es war nicht an Marie, sich um diese Fremde zu sorgen. Sie trat in den Schatten eines Mannes, der vor den Brotlaiben stand und wartete auf den rechten Augenblick, um sich unter den Stand zu verkriechen. Einige Sekunden vergingen, doch dann endlich fühlte sich Marie unbeobachtet und wagte es, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Sie ließ sich zu Boden sinken und huschte unter den Stand. Sie hatte Glück, denn sie war unbemerkt geblieben. Nun begann sie, langsam ihren Arm zu strecken und in besonderer Vorsicht einen der Laiber zu erhaschen. Auch dies gelang ihr und sie fiel über ihre Beute her, wie Wildtiere über ihr frisch gerissenes Fleisch. Ihre Sinne waren vernebelt und so bemerkte sie erst spät, dass auf einmal alle Aufmerksamkeit auf ihr zu lasten schien. Sie schaute sich um. Da erblickte Marie die junge Frau vom Fischstand auf dem Boden liegen. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen und ihre Röcke blutverschmiert. Sie sah aus, als sei sie einem brutalen Mord zum Opfer gefallen.
Da die Verkäuferin der Brote sich, wie alle anderen Menschen auf dem Markt, um die Ohnmächtige gestellt hatte, konnte Marie aus dem Blickfeld verschwinden und kroch hinter den Tisch in einen dunklen, nach Urin stinkenden Winkel und lehnte sich an die feuchte Hauswand. Man müsste annehmen, dass sich in ihr ein bitteres Gefühl, ähnlichen wie wenn man die stinkende Luft der Verwesung einatmet, ausbreiten müsste, doch sie verspürte eher etwas wie Freude. Denn sie hatte es geschafft, ohne jegliche Probleme an ihre Tagesmahlzeit zu kommen. Sie konnte es sogar wagen sich erneut zu bedienen, falls das Interesse an der jungen Frau noch nicht nachgelassen hätte. Diese Frau ermöglichte Marie, nach Jahren des Hungers, endlich satt zu werden.
Ihr Leid war Maries Segen.
Man möchte meinen Marie wäre ein Scheusal gewesen, eine Hexe, eine Ausbrut des Teufels, dass so handelte. Doch es war ihr vor Hunger sich krümmender Körper, der dies zu rechtfertigen schien. Marie versorgte sich mit genügend Broten und verschwand ohne sich umzudrehen.

Es vergingen zehn Jahre, in denen sich Marie Eugénie Bonnet weiter als unscheinbares Wesen durchs Leben kämpfte. Sie war nun 24 Jahre alt und nach den vielen Jahren der Entbehrung, eine alte Frau. Ihr Körper war krumm geworden und Haare und Zähne besaß sie schon lange nicht mehr.
In ihrem Leben hatte sie 8 Kinder geboren, jedes wurde von ihr in die Seine geworfen . Marie hatte nichts gespürt.
Es war der 17.Juli. 1748 als Marie Eugénie Bonnet am Ufer der Seine entlang spazierte. Das heißt es war alles andere als ein Spazieren. Es hatte keinerlei Eleganz, noch hätte von Anmut die Rede sein können. Sie hatte nicht die Körperhaltung, derer es zum Spazieren bedarf und in ihren Augen strahlte kein Stolz und keine Freude. Dennoch hatte dieses Gehen den Zweck eines Spazierganges. Marie ließ ihren kalten Blick über das trübe, stinkende Wasser zu ihren Füßen schweifen. Sie nahm die schillernde Oberfläche war, als könne sie in den kleinen Wellen davon treiben und sie verlor den Blick für alles um sich herum. Sie sah nicht die Häuser, die neben ihr aufragten und sie für gewöhnlich erdrückten, nicht die vielen Menschen, die, erstickt von der Hitze, in den schattigen Seitengassen Zuflucht suchten. Sie nahm nicht einmal die Fliegen war, die seit ihrer Geburt um sie schwirrten. Nur ein Gefühl überkam sie. Es war so plötzlich gekommen, dass sie keine Möglichkeit gehabt hatte, es abzuwehren. Ein kalter Schauer lief ihren Rücken hinab. Sie konnte sich nicht rühren, um diesen Schauer abzuschütteln. Ihr war es nicht einmal möglich, sich um zudrehen, um sich zu vergewissern, was dieses Gefühl verursachte. So konnte sie den Jungen nicht sehen, der sich zum Wasser beugte und seine Eimer füllte. Das Wasser kräuselte sich auf seiner Oberfläche. In Maries Innerem breiteten sich die Wellen aus. Erst nur wie sanfte Schläge, die durch sie hindurch zuckten, dann immer stärker, bis sie zu zerspringen drohte. Wie eine gewaltige Macht drängten die Wassermassen gegen sie und schlugen gegen den Takt ihres Herzens. Marie wurde schwindelig und verlor die Welt um sich herum.
Der Junge richtete sich auf und ging.


© Nele


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Beschreibung des Autors zu "Ein Lebensausschnitt"

Diesen Text habe ich im Zuge eines Portfolios geschrieben. Es ist ein Paralleltext zum Buch "Das Parfum". In dem Roman wird die Hauptperson Jean-Baptiste Grenouille im Jahre 1738 auf dem Place Saints-Innocents von einer Fischhändlerin unter ihrem Stand geboren. Diese Szene habe ich in meinen Text einfließen lassen. Außerdem lebt Grenouille als Kind bei einem Gerber. Im Buch ist erwähnt, wie er zur Seine geschickt wird um dort Wasser zu holen. Auch das habe ich beschrieben.




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