In unserer Stadt blieb nichts lange ein Geheimnis. Dafür war sie zu klein. Hier kannte man einander und nichts bereitete den Einwohnern so viel Vergnügen, wie die Befriedigung der menschlichen Neugier. Auch Nick hätte das wissen müssen und vielleicht tat er es auch. Es interessierte ihn aber nicht. Für ihn hatte es keine Bedeutung, so wie wahrscheinlich alles, was ihm hier widerfuhr.
Nick war zehn Jahre älter als wir und wohnte noch bei seinen Eltern in der Nachbarschaft. Jeden Tag sahen wir ihn, wenn er sich auf sein Motorrad schwang und den Motor aufheulen ließ, während er durch die Straße fuhr.
„Das ist ein Angeber. Haltet euch fern von ihm“, sagte unsere Mutter dann immer wieder.
Dabei war diese Mahnung völlig überflüssig. Auch wenn wir gerne Nicks Nähe gesucht hätten, er gab sich mit uns nicht ab. In seinen Augen mochten wir einer Streberfamilie entstammen und sowohl meine Schwester als auch ich blieben einzig die neugierigen Blicke, die wir von unserem Wohnungsfenster aus auf die Straße warfen, während Nick an uns vorbeiknatterte.
Marie war ein Jahr älter als ich und da sich seit neuestem ihr Körper zu einer Frau entwickelte, war sie der Meinung, mir überlegen zu sein. Meist äußerte es sich in einem Streit, den sie vom Zaun brach und mit dem Urteil „du bist noch viel zu jung!“ abschloss. Ich ärgerte mich über sie und sooft es ging, versuchte ich fortan, ihre Nähe zu meiden. Mutter meinte, das wäre die Pubertät und Vater sagte gar nichts dazu. Ich nahm mir jedenfalls vor, falls dieses Gehabe meiner Schwester für den Übergang zum Erwachsenensein normal sei, niemals in die Pubertät zu kommen.
Neben ihrer körperlichen Entwicklung war eine der Veränderungen, die ich an Marie entdeckte, ihr gesteigertes Interesse an Nick. Während wir früher gemeinsam aus dem Wohnzimmer spähten, um einen Blick auf seine Maschine zu erhaschen, blieb Marie nun meist oben in ihrem Zimmer und sah allein zu ihm hinunter. Dies war der Augenblick, in dem ich entschied, Nick nicht mehr zu mögen. Trotzdem lauschte auch ich weiterhin nach dem Geräusch des Motors.
Unsere Eltern waren beide Lehrer am örtlichen Gymnasium, was sowohl Marie als auch mir einige schwierige Jahre in der Schule bescherten. Wir beide waren verdächtig, Spitzel für unsere Eltern zu sein und da unsere Leistungen auch noch überdurchschnittlich waren, hatten wir an der Schule kaum Freunde. Für Marie war es nicht so schwer wie für mich. Dreimal in der Woche ging sie zum Ballettunterricht und hatte sich dort einen Freundeskreis aufgebaut, mit dem sie ihre Nachmittage verbrachte.
Ich hingegen hatte nicht solch ein Glück, war weder sportlich noch mit sonstigen Eigenschaften ausgestattet, die mich in eine spezielle Interessensgemeinschaft einführte. Meist blieb ich zu Hause und die übrige Zeit stromerte allein ich durch die Stadt und machte mir ein Vergnügen daraus, nach Nicks Motorrad Ausschau zu halten.
Lange brauchte ich nie zu suchen. Fast immer stand es vor der einzigen Billardhalle der Stadt. Nick hatte keine Arbeit und die meiste Zeit verbrachte er dort an den Pool Tischen. So wie man munkelte, sollte er ein guter Spieler sein und in meiner Phantasie sah ich ihn in seiner lässigen, unnahbaren Art um den filzbezogenen Tisch schlendern. Um uns abzuschrecken erzählte Mutter einmal, dass er die Schule abgebrochen und auch die Lehre nicht beendet habe. Sie konnte nicht ahnen, dass gerade diese Eröffnung ihn in meinen Augen äußert interessant machte.
Nick trug immer eine abgeschmackte Lederjacke, so wie ich es aus alten Filmen von Marlon Brando her kannte. In dieser Stadt, die sich entschieden entschlossen hatte, bürgerlich zu wirken, war er der unangepasste Außenseiter, was ihn ebenso verdächtig wie mich machte, wenn auch aus anderen Gründen.
Sobald ich sein Motorrad entdeckt hatte, trieb ich mich auf dem gegenüberliegenden Parkplatz herum und wartete, dass Nick die Billardhalle verließ. Manchmal wurde es dunkel, dass ich meinen Beobachtungsplatz unverrichteter Dinge aufgeben musste. Oft aber kam Nick früher heraus, schwang sich ohne Umschweife auf seine Maschine und knatterte auf der Straße davon.
Ich habe Nick nie in Begleitung gesehen, was in mir die Vorstellung nährte, dass er jenem einsamen Wolf glich, den Brando in den Filmen gespielt hatte und mir nicht ganz unähnlich schien. Trotzdem waren alle in der Stadt der Überzeugung, dass Nick in schlechte Gesellschaft geraten sei, ohne je eine Beweis dafür zu finden.
Marie hatte damit begonnen, sich mehr für Anziehsachen zu interessieren. Nun fand sie es passend, kurze Röcke zu tragen, was meinen Vater in den Wahnsinn trieb und zu einigen heftigen Auseinandersetzungen führte, was Marie jedoch nicht davon abhielt, sich stundenlang vor dem Spiegel zu schminken. Nur wenn sie zum Ballettunterricht ging, war es ihr nicht so wichtig. Dann zog sie ihre alte Jeanshose an, nahm ihren Rucksack und verschwand für ein paar Stunden in ihre eigene Welt. Sie ging immer zu Fuß, verbrachte nach dem Unterricht noch Zeit mit ihren Freundinnen und kam erst gegen acht Uhr nach Hause. Mutter meinte, es sei beruhigend zu wissen, dass sie sich für eine Sache weiterhin so begeistern könne.
Ich hingegen begriff nicht, wie man sich für das Ballett interessieren konnte. In solch seltsamen Trikot auf Zehenspitzen zu tanzen, war für mich unvorstellbar. Da stromerte ich lieber durch die Stadt und hielt nach Nicks Motorrad Ausschau.
Eines Tages fand ich es überraschender Weise vor einer Imbissbude und dies erweckte meine Neugierde umso mehr, da es wirklich selten vorkam. Immerhin, so dachte ich, würde Nick sicherlich dort früher als aus dem Billardsaloon herauskommen, was er auch wirklich tat. Doch dieses Mal war er nicht allein.
Ich hatte an der gegenüberliegenden Straßenecke Posten bezogen, doch erkannte ich sofort jene gewellten blonden Haare, die meine Schwester seit einiger Zeit so gern offen trug. Während Nick auf sein Motorrad stieg, blieb sie neben ihm stehen und beide redeten noch eine Weile miteinander. Glaubte ich auch, sie würden sich bald umarmen oder gar küssen, so geschah doch nichts von alledem. Nick senkte nur einmal zustimmend den Kopf und trat dann den Kickstarter herunter. Während er die Straße entlangfuhr, sah Marie ihm nach. Dann aber schlenderte sie den Bürgersteig entlang nach Hause.
Hatte ich für solche Romanzen auch noch keinen rechten Sinn, so weckte die Entdeckung doch meine Neugierde, zumal uns Mutter so eindringlich vor Nick gewarnt hatte. Trotzdem schwieg ich zu Hause darüber und auch Marie ließ sich nichts anmerken. Nach dem Essen ging sie hinauf in ihr Zimmer und hörte Musik.
Dies war der erste Augenblick meines Lebens, in dem mir ein Freund fehlte. Ich musste das gesehene mit jemand teilen und ahnte instinktiv, dass meine Eltern dafür nicht in Frage kamen. Es platzte fast aus mir heraus und ich wusste mir nur dadurch zu helfen, dass ich Marie des Abends fragte:
„Wie war denn heute dein Ballettunterricht?“
Meine Schwester stierte mich an.
„Seit wann interessierst du dich denn dafür?“ entgegnete sie forschend und ich glaubte, einen Zug der Unsicherheit in ihrem Gesicht zu erkennen.
Diese Erkenntnis tat mir gut. Endlich wusste ich etwas von ihr, was sie nicht mit ihrer Überheblichkeit abtun konnte und mit einem Male waren wir wieder auf Augenhöhe.
„Nur so“, zuckte ich mit den Achseln und lächelte dabei.
Marie sagte nichts weiter, aber ich bemerkte, wie sie mir noch einige verstohlene Blicke zuwarf, ehe wir zu Bett gingen.
Die Tage bis zum nächsten Ballettunterricht krochen dahin. Marie gab sich so wie immer. Doch wenn Nick mit seinem Motorrad an unserem Haus vorbeifuhr, wusste ich, dass sie ihn von ihrem Zimmerfenster aus beobachtete.
Ich war fest entschlossen, die beiden heimlich zu folgen, doch wusste ich nicht, wie ich das anstellen sollte. Nick, auf seiner Maschine, war zu schnell für mich und wäre ich Marie nachgegangen, so hätte sie mich sicherlich entdeckt. Ich hoffte, dass sie den Imbiss als ihren geheimen Treffpunkt auserkoren hatten und kaum dass Marie mit ihrem Rucksack das Haus verließ, rannte ich durch die Stadt hinüber zu meinem Spähposten. Ich wartete eine Stunde, aber sie kamen nicht und als es dämmerig wurde, zog ich enttäuscht ab.
Abends glaubte ich ein Lächeln um Maries Mund zu erkennen. Sie musste gewusst haben, dass ich auf der Lauer lag und hatte sich mit Nick woanders getroffen. Es schmerzte mich zutiefst und für einen Augenblick dachte ich daran, sogar der Mutter etwas zu erzählen. Doch hatte ich ein neues, aufregendes Spiel gefunden und war nicht gewillt, es so leichtfertig aufzugeben.
In den nächsten Wochen bemühte ich mich, Marie und Nick wieder zu entdecken. Es gelang mir nicht. Wenn Marie keinen Ballettunterricht hatte, fand ich Nicks Motorrad vor dem Billardsaloon. Doch war Marie unterwegs, so tauchte es dort nicht auf. Auch vor dem Imbiss war es nicht mehr zu entdecken und nach einer Weile begann ich damit, die ganze Stadt zu durchforsten, immer in der festen Überzeugung, die Maschine irgendwo abgestellt zu finden.
Es dauerte bis in den Mai hinein, als ich sie schließlich an einer Scheune etwas außerhalb der Stadt entdeckte. Nick hatte sie seitlich unter einen Bretterverhau geschoben, dass sie von der Straße aus nicht zu sehen war und wäre ich meiner Vorliebe für Abkürzung durch das Gelände nicht gefolgt, so hätte ich sie niemals gefunden. Schon als ich sie erblickte, gab es keinen Zweifel. Während all meiner Zeit, in der ich sie durch das Fenster des Elternhauses und später vor dem Billardsaloon beobachtete, hatte sich die Maschine so in mein Gehirn eingeprägt, dass ich sie überall wiedererkannt hätte, auch wenn sie in dieser Gegend völlig unpassend schien.
Die Scheune gehörte zu einem der Höfe des Umlandes, wurde aber seit Jahren nicht mehr benutzt. Während meiner Erkundungstouren war ich nie so weit außerhalb der Stadt gewesen und so wusste ich nichts Genaues über sie. Nun aber sah ich, dass sie sicherlich über zwei Stockwerke lag. Das große Eingangstor war verschlossen. Drüber klebte eine kleine Luke an der Vorderfront, aus der früher die Heuballen eingelagert wurden. Dieses imaginäre Heu beflügelt die nun auch bei mir aufkeimende Phantasie. Das Holz der Scheune begann bereits langsam zu vermodern und Unkraut wucherte überall herum. Dies alles aber mochte der Bequemlichkeit des Heubodens nichts ausmachen.
Ich lief nach Hause. Es war schon spät geworden und für diesen Tag war die Entdeckung des Versteckes genug Triumph für mich. Beim nächsten Ballettunterricht aber würde ich direkt zu der Scheune eilen und sicherlich entdecken, was Marie und Nick dort trieben. An diesem Abend konnte ich kaum schlafen.
Marie war so wie immer. Das heißt sie ignorierte mich und hörte Musik in ihrem Zimmer. Vater hatte sich ob ihres Aufzuges langsam beruhigt und Mutter meinte, sie wäre ein so vernünftiges Mädchen. Sie beide wussten eben nichts von der Existenz der Scheune. Doch irgendwann, da war ich mir sicher, würde ich es ihnen schon unter die Nase reiben und dafür war es notwendig, die Marie und Nick zu beobachten.
So hatte ich meine Schuhe bereits angezogen, als Marie wieder einmal ihren Rucksack nahm und zum angeblichen Ballettunterricht loszog. Kaum war sie aus dem Haus, rannte ich so schnell es ging durch die Stadt. Doch als ich bei der Scheune ankam stand das Motorrad bereits in seinem Versteck. Ich wartete eine Weile im Gebüsch, damit ich nicht doch durch einen dummen Zufall entdeckt wurde und erst als ich sicher vermutete, Nick und meine Schwester würden längst schon die Leiter zum Heuboden erklommen haben, schlich ich mich vorsichtig an.
Die Dornen der wilden Ranken schlitzten meine Hose auf, während ich mich durch das Gebüsch schob und meine Haut begann nach dem Kontakt mit den Brennnesseln bereits zu jucken. Doch all diese Widrigkeiten konnten mich nicht von meinem Plan abbringen. Ich ließ mir Zeit, damit nicht ein verräterisches Geräusch in die Scheune zu dringen vermochte und langsam, erst nach einer Ewigkeit, erreichte ich die Bretterwand. Nun begann ich, einen Spalt zum hindurchschlüpfen zu suchen. So vermodert das Holz auch war, ich fand es nicht.
Ich hoffe, auf der Rückseite mehr Glück zu besitzen und kroch vorsichtig ich die Wand entlang. Doch das einzige, was ich bemerkte, war ein fauliges Astloch. Auch wenn ich sicher war, dass die beiden sich längst schon auf dem Heuboden befanden und es von hier aus nichts zu sehen gab, konnte ich meine Neugierde nicht unterdrücken und lugte hindurch.
Da sah ich Marie. Sie stand in der Mitte der Scheune und hatte ihre Jeans und Sweatshirt ausgezogen. Stattdessen trug sie Leggins und Trägershirt, mit der sie auch im Ballettunterricht tanzte. Sie stand auf einem Fuß, hatte die Hände hoch über ihren Kopf gefaltet und schaute verzückt zu ihnen empor. Nun lugte an ihrer Taille ein Kopf hervor und gleichzeitig fassten sie Hände an den Hüften. Sie hoben Marie empor und drehten sich mit ihr im Kreis.
Der Mann trug ebenfalls Leggins und ein T-Shirt. Ohne seine Lederjacke erkannte ich ihn fast nicht wieder. Es war Nick. Er schaute zu Marie hinauf und setzte sie nun sanft wieder auf den Boden, ergriff ihre Hand und beide Körper wiegten sich sanft in der leisen Melodie, die durch das Astloch hinüber zu mir schwebte.
Dann unterbrach Marie die Bewegung und redete auf Nick ein, der ihr aufmerksam zuhörte. Es war, als erkläre sie ihm etwas und kaum hatte sie geendet, begann sie von neuem die Figur zu tanzen.
Ich war starr vor Entsetzen. Alles was ich mir vorgestellt oder vielleicht auch nur vage ausgemalt hatte, war nichts gegen das, was ich nun sah. Mein wilder Bursche tanzte Ballett. Es war mehr, als mein junges Herz ertragen konnte und ich vergaß alle Vorsicht. Unvermittelt sprang ich aus meinem Versteck und rannte durch das Unkraut hindurch zurück zur Stadt.
Ich muss wohl recht zerlumpt ausgesehen haben, als ich zu Hause ankam und meine Mutter fragte mich sofort besorgt, was denn geschehen sei. Ich war noch zu verwirrt, als dass ich mir eine Geschichte auszudenken vermochte und erzählte ihr, was ich gesehen hatte.
Meine Mutter verzog keine Miene.
„Geh nach oben und wasch dich ordentlich“, befahl sie mir.
Als ich aus der Dusche kam, hörte ich die Haustür schließen und wusste, dass es Marie sein musste. Ich wollte zum Treppenabsatz schleichen und hören, wie Mutter mit ihr schimpfte, aber da kam meine Schwester schon die Treppe hinauf und ich blieb im Badezimmer.
Den ganzen Abend über wurde über den Vorfall nicht gesprochen. Doch als ich ins Bett gehen wollte, folgte mir mein Vater. Er setzte sich auf den Rand des Bettes und sagte:
„Man spioniert niemanden nach.“
Ich konnte nichts darauf erwidern. Mein Vater strich mir über den Kopf und murmelte:
„Gute Nacht“.
Dann stand er auf und verließ das Zimmer. Nun hörte ich leise Stimmen unten aus dem Wohnzimmer. Aber ich traute mich nicht mehr, aufzustehen.
Am anderen Tag sah Marie mich boshaft an, aber auch sie sagte nichts, wie dieser Vorfall überhaupt nicht mehr in unserem Hause erwähnt wurde.
Eine Weile noch hörte ich Nick mit seinem Motorrad an unserem Haus vorbeiknattern. Aber ich beobachtete ihn nicht mehr durch das Fenster. All jene Vorstellungen, die ich mit seiner Person verband, hatten sich nach der Entdeckung in der Scheune in Luft aufgelöst und mein Interesse an ihm war erloschen.
Dann, eines Tages, aber kam er nicht mehr und meine Mutter erzählte mir, dass er nach Berlin gegangen sei. Er hatte sich an einer Tanzschule beworben und sei angenommen worden. Marie war es gewesen, die ihm den Mut gegeben hatte, seiner wahren Bestimmung nachzugeben. Nick habe schon immer diese Leidenschaft besessen, doch sich nicht getraut, in der Ballettschule anzumelden. In unserer Stadt blieb nichts lange ein Geheimnis.


© Mark Gosdek


3 Lesern gefällt dieser Text.




Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Der Ballettunterricht"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Der Ballettunterricht"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.