Jonas schob den Vorhang des Wohnzimmerfensters beiseite und sah hinunter auf die Straße. Der Regen brandmarkte den Asphalt und in der Dunkelheit des Nachmittages blitzten Autobremslichter wie gemorste Hilfeschreie aus dem Stau vor der Ampel zu ihm empor. Jonas beobachtete sie freudlos und er fühlte ihren Schmerz.
Lustlos zog er den Vorhang vor das Fenster und das kalte Licht der Wohnzimmerlampe kämpfte wirkungslos gegen jene Dunkelheit, an die er sich in den kommenden Wochen zwangsweise wieder gewöhnen musste. Einen Augenblick stand er unschlüssig in dem melancholischen Raum. Dann schlurfte er hinüber zu seiner Stereoanlage und suchte sich durch die CDs, bis er schließlich, wenig überzeugt, eine von ihnen aus dem Stapel herauszog. Er hatte sie lange nicht mehr gehört und einzig der Drang, nun etwas anders machen zu müssen, trieb Jonas dazu, sie einzulegen.
Auf dem Display des CD Players blinkte die Nummer des ersten Songs auf und kurz danach setzte das Handakkordeon ein. Der Zydeco Rhythmus tröpfelte glänzenden Firnis über das Wohnzimmerlicht. Jonas setzte sich in seinen Sessel und schüttete Bourbon ins Glas. Das penetrante Klatschen des Regens auf der Straße versank im Schlamm der Südstaatenfelder. Doch daran dachte Jonas nicht. Er träumte von schwülen Sommerabenden, während denen er durch die Straßen von New Orleans schlenderte. Durch die geöffneten Türen der Bars schwebten Musikfetzen wie verglimmende Aschereste zu ihm herüber. Und er dachte an die Frauen in Big Easy, in ihren luftigen Sommerkleidern, mit Cocktails in den Händen und das laszive Lächeln der Südstaaten auf den Lippen.
Jonas war noch niemals in New Orleans gewesen. Das wenige, was er wusste, kannte er aus dem Fernsehen und ganz besonders jener Film mit Dennis Quaid hatte sein Stadtbild geprägt. Spätestens seit damals wusste er, dass dieser Ort sein Lebensgefühl widerspiegelte und während Queen Ida „Big Mamou“ durch die Lautsprecher röhrte, vergaß Jonas die verzweifelten Bremslichter unten auf der Straße.

*

Corina saß am Küchentisch und rauchte eine Zigarette. Es war ihre vierte. Doch Corina erinnerte sich nicht an die vorherigen. Sie stierte durch das Fenster hinaus in den fahlen Schein der morgendlichen Sonne. Noch immer war es schwülwarm und Corina hatte nur ein T-Shirt als Alibi übergeworfen. Auch darüber dachte sie nicht nach. Sie überlegte, was sie tun sollte. Das Haus, in dem sie nun lebte, war recht hübsch und bot genug Platz. Aber es war nicht ihr Haus. Das hatte ihr Katrina genommen. Ein paar Jahre war das schon her, doch immer noch waren die Auswirkungen zu spüren. Der Hurrikan hatte Corinas Leben für immer verändert.
Damals wohnte sie kaum einen Kilometer von der Küste entfernt. Wenn sie in den kleinen Garten trat, konnte sie den Atlantik riechen und die Brise des Meeres strich ihr durch das Haar. Dann jedoch riss diese so angenehme Brise plötzlich ihre Fratze auf und verwandelte sich in einen Sturm, der so bösartig war, dass er sogar einen Namen erhielt. Katrina, die aus Freude über ihre Bekanntheit Corinas Haus als eines der ersten fraß.
Die Frau konnte rechtzeitig ins Louisiana Superdome flüchten. Für Katrina war es nicht weit genug und die Fluten, welche dem Hurrikan wie Wanderhuren folgten, umschlossen das Footballstadion, dass es wenig später ebenfalls evakuiert werden musste. Corina konnte sich nicht erinnern, wo sie an diesen Tagen übernachtet hatte. Als sie endlich wieder zu ihrem Haus zurückkehren durfte, war nichts mehr da.
Noch immer wusste sie die damaligen Gefühle nicht beschreiben. Es war mehr als ein Schock; etwas in ihr zerbrach. Doch das allein genügte Katrina nicht. Der Hurrikan verwüstete weite Teile von New Orleans und Corina verlor durch das entstehende Chaos sogar ihre Arbeit.
Sie war auf das Geld angewiesen. Ihr Mann hatte sie verlassen und lebte wahrscheinlich in Florida oder sonst wo. Die wenigen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht und Corina hatte eine Weile darüber nachgedacht, diese Stadt ohne Zukunft zu verlassen. Es war schwer gewesen, doch bevor sie auf der Straße landete, fand sie einen Job im Supermarkt. Er brachte kaum etwas ein, nur so viel, dass sie gerade leben konnte.
Nun saß sie hier in diesem fremden Haus, was sich bemühte, ihre Heimat zu werden. Katrina war gegangen. Doch Corina war sicher, dass viele Namen ihr folgten und einer von ihnen würde gerne auch dieses Haus in seiner unendlichen Gier fressen. Doch was konnte sie schon tun? Corina drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und legte sich auf das Sofa. Erschöpft schlief sie nach einer Weile ein.

*

Jonas saß noch immer in seinem Sessel und hatte die Augen geschlossen. Er schlenderte durch die belebten Straßen von New Orleans, in denen sich das einzig wahre Leben abspielte. Hier gab es keinen Regen, nur ein Dasein inmitten von Südstaatenfrauen in Sommerkleidern und während Jimmie „C“ Newman wieder einmal „Jolie Blon“ sang, hatte Jonas so eine Sehnsucht zum Big Easy.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Big easy"

Re: Big easy

Autor: noé   Datum: 02.12.2013 12:56 Uhr

Kommentar: Gute Schlüsselszenen. Da wird 'was in Gang gesetzt beim Leser (mir). So soll es sein.
Adventgrüße von noe

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