Ein Mädchen wanderte durch die Trümmer. Sie konnte kaum sieben Jahre zählen.
Sie war barfuß, ihr Kleid war zerissen. Ihre Augen irrten umher. Ihre Haut war von vielen kleinen Wunden übersät.
Dass sie überhaupt noch lebte, war ein Wunder.
Das einzige Wunder in einem ausgebrannten Land.

Sie stieg über ein Stück Mauer, an dessen Seite noch ein Wandteppich hing.
Dieses Haus musste herrschaftlich gewesen sein. Noch mehr Wandteppiche hatten im Flur gehangen, eine Treppe hatte in die oberen Stockwerke geführt. Denn natürlich hatte es mehr Stockwerke gegeben; drei vielleicht, die Bewohner hatten ganz oben geschlafen, in Himmelbetten vielleicht, im Schein eines Kaminfeuers.
Wenn die Sonne durch ihre Fenster geschienen hatte, waren sie wohl aufgewacht. Vielleicht hatten sie noch ein wenig die Augen geschlossen und gewartet, bis sie wirklich aufstehen mussten. Dann waren sie wohl die breite Treppe hinuntergegangen – ein Kronleuchter, der an der Decke gehangen hatte, hatte goldenes Licht gespendet – und an einen Frühstückstisch, der reich gedeckt war mit allem, was man sich verstellen konnte, getreten. Guten Morgen!, hatten sie dann gesagt. Und es war ein guter Morgen gewesen. Ein Morgen mit Kaminfeuer und Frühstückstisch und Wandteppichen und Kronleuchtern, ein Morgen, an dem sie alles gehabt hatten, was sie gewollt hatten.

Denn wer in Häusern mit Wandteppichen und Kronleuchtern und Kaminen wohnte, musste nicht barfuß durch Trümmer wandern.
Aber das Mädchen hatte kein Haus. Kein Haus, in dem sie, wenn sie aufwachte, eine breite Treppe hinuntergehen und an einen Frühstückstisch treten konnte. Die Zeit, in der sie ein solches Haus gehabt hatte, war vorbei. Es gab keine schönen Häuser mehr.
Es gab keine guten Morgen mehr.

Das Mädchen taumelte und fiel hin. Sie war schon zu weit gelaufen. Zu viel.
Sie weinte nicht – sie hatte keine Tränen mehr. Am Anfang hatte sie geweint. Hatte sicher nicht begreifen können, warum das Haus weg war. Das Haus, in dem es vielleicht breite Treppen und Kronleuchter gegeben hatte. Und jeden Morgen einen gedeckten Frühstückstisch. Jeden guten Morgen ein Frühstückstisch.
Und jeder Morgen war gut gewesen.

Das Mädchen wanderte durch die Trümmer. Und vielleicht wusste sie selbst nicht, wohin sie flüchtete. Menschen lassen sich immer antreiben, immer dorthin, wo es besser ist, immer vor- und nie zurückschauen. Das Mädchen wollte nicht nach vorne. Sie wollte zurück, wo ein Haus gewesen war und wo sie warme Kleider gehabt hatte und vielleicht einen Kronleuchter über einer Treppe.
Auf dem Boden lag jetzt ein Stück einer Treppe. Vielleicht kannte das Mädchen diese Steine; war selbst oft darübergelaufen und so manches Mal gefallen. Und da – neben der Treppe – ein Stück Glas. Natürlich hatte das schöne Haus auch Fenster gehabt. Und Spiegel. Das Mädchen trat auf eine Spiegelscherbe. Vielleicht hatte die Scherbe früher einmal Schmuck aufgefangen und Licht und ein Lächeln, hatte es wiedergegeben an den, der gelächelt hatte.
Das Mädchen lächelte nicht.

Wie die Scherbe jetzt auf dem Boden lag, fing sie auch kein Licht mehr ein. Sie zeigte Himmel. Aber der Himmel war grau und düster, im Spiegel und über dem Kopf des Mädchens gleichermaßen.

Weiter vorne am Boden lag ein Stück Stoff. Er war grau. Vielleicht war er mal weiß gewesen, wie Licht sein sollte oder blau, wie der Himmel sein sollte oder grün, wie eine Pflanze es sein sollte. Jetzt war alles grau. Das Licht war grau; Himmel und Pflanzen waren grau. Grau war die Farbe der Dämmerung, aber diese Dämmerung dauerte zu lange. Nach der Dämmerung sollte ein neuer Morgen folgen.
Und der Morgen sollte gut sein.

Auf dem Stoff lag ein Kristall. Aber es war kein Kristall, es war nur geschliffenes Glas. Es war grau.
Aber es war einmal rein gewesen, es war einmal wirklich ein Kristall gewesen, ein reiner Kristall, ein Glaskristall, der an einem Kronleuchter gehangen hatte und das Licht der Kerzen gebrochen hatte. Der Kronleuchter war über einer breiten Treppe gehangen, die zu Schlafzimmern führte, wo Menschen schliefen und auf den Morgen warteten, auf die Sonne, die durch die Fenster schien; sie warteten auf das warme Licht, das sie weckte.
Sie warteten schon zu lange.

Aber da war keine Treppe mehr. Da war auch kein Kronleuchter mehr, da war nur ein grauer Stoff und ein grauer Glaskristall. Und der Glaskristall war kein Kristall, er war nur ein Stein, ein schwerer grauer Stein auf einem grauen Stück Stoff.

Das Mädchen wanderte durch die Trümmer des Hauses. Vielleicht waren es auch zwei Häuser gewesen, vielleicht zwei Häuser mit zwei verschiedenen Familien und zwei verschiedenen Frühstückstischen jeden Morgen. Vielleicht hatte das Mädchen im Ersten dieser Häuser gewohnt und hatte dort geschlafen, ganz oben, hatte sich von der Sonne wecken lassen und war noch liegen geblieben, wenn der Morgen kam.

Vielleicht war das andere Haus mein Haus gewesen, mein Haus, mein Leben, das jetzt in Trümmern lag. Vielleicht bin ich mit meinem Haus untergegangen. Vielleicht saß ich nicht hier und sah dem Mädchen zu, das barfuß durch die Trümmer wanderte.

Der Himmel lag grau über mir, in der Richtung, in die ich blickte, waren nur Wolken. Graue Wolken. Dies war kein guter Morgen.

Ich spürte etwas an meiner Wange. Es war etwas, dass ich schon so lange nicht mehr gefühlt hatte, seit die guten Morgen vorbei waren.
Wärme.
Ich wandte mein Gesicht der Sonne zu, denn wahrhaftig, dort ging die Sonne auf.
Ich sah in die andere Richtung. Da waren die grauen Wolken. Sie waren immer noch da. Aber dort drüben war die Sonne.

Ich merkte, dass sie sich gegenüberlagen, das Hell und das Dunkel dieser Tage.
Ich merkte, dass immer Sonne da war, hinter den Wolken.
Ich merkte, dass es immer noch Licht gab, egal wie weit man gehen musste.
Und ich begriff:
Man hätte es verhindern können.


© Stefanie T.


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