Es war 8:58, also noch zwei Minuten bis Herr Jaro käme. Herr Jaro war immer pünktlich; auf die Sekunde genau würde ich sein Klopfen an der Türe vernehmen können. Er war einer dieser Patienten, die allein durch ihr Problem schon verhältnismäßig unspannend waren. Ich glaube, dass sein einziges Problem das viele Nachdenken war, aber war mir auch bewusst, dass ihm diese Information kaum helfen würde. Manche Patienten verfügen ja glücklicherweise über genug Kraft und Verstand sich selbst zu reflektieren, was meinen Beruf ungemein erleichtert, andere aber eben eher weniger, jedoch scheinen das wirkliche Begreifen und das stumpfe Verstehen zwei grundverschiedene Dinge zu sein und ehrlich gesagt glaube ich nicht das Herr Jaro wirklich zu denjenigen gehörte, die sich überhaupt selbst reflektieren konnten.8:59. Noch einmal schnell im Spiegel die Haare kontrollieren und sich dann im Stuhl möglichst so positionieren, sodass man auch den Anschein eines Fachmannes erweckte.
9:00. Klopfen. „Herein.“
Der junge Mann kam herein, wirkte fahrig, etwas müde. Er setzte sich mir gegenüber und fummelte an seinem Hemdsärmel herum.
„Herr Jaro, wie geht es Ihnen heute?“, fragte ich lächelnd, um das Gespräch in Gang zu bringen.
„Gut, gut... so ziemlich.“
„Sind Sie ihre Angst vor dem Bäcker losgeworden, haben Sie es versucht?
„Also...“, fing Herr Jaro an und ich kannte diesen Anfang, es fing immer so an.
„Ich stand vor der Tür und bin irgendwann auch reingegangen, aber dann gleich wieder raus. Ich hab es einfach nicht ausgehalten“
„Na, das ist doch schon einmal ein Fortschritt“, versuchte ich ihn aufzumuntern „Vielleicht schaffen Sie es bis nächste Woche.“
„Aber, aber was ist denn… was ist… wenn der Mann wirklich ein Mörder ist. Ich meine wegen den Müllsäcken.“
„Die Müllsäcke? Darüber haben wir doch schon gesprochen. Der Bäcker musste wahrscheinlich eine große Ladung entsorgen, Sie sagten ja selbst, dass an dem Tag nicht viel verkauft wurde.“
„Aber es bleibt ja aber doch immer noch ein Rest...“
„Herr Jaro. Ich bitte Sie. Da ist nichts. Sie werden das schaffen!“ Ich machte ein paar Notizen um die Stille zu überbrücken und möglichst professionell auszusehen.
„Wie läuft es auf ihrer Arbeit?“
„Ich glaube, Maria, die aus der Lagerabteilung, hat mein Handy gestohlen.“
„Sind Sie sicher ihres nicht verloren zu haben? Sie sagten doch, sie hätten ihres verloren?“
„Ja, aber kaum einen Monat später, ich mache gerade Pause, kommt Sie mit dem selben Modell! Genau das gleiche Handy!“
„Vielleicht hat Sie sich einfach auch dieses Modell gekauft?“
„Es ist ein Herrenhandy.“
„Was ist ein Herrenhandy?“
„Die Farbe und alles. Das würde keine Frau tragen.“
„Vielleicht hat Sie einfach einen schlechten Geschmack. Oder es ist von ihrem Freund?“
„Also glauben Sie ihr Freund hat es mir gestohlen?“
„Nein, so meinte ich das nicht, ich meine, was ist, wenn ihr Freund es gekauft hätte und ihr ausgeliehen hätte, dasselbe Modell.“
„Ja, aber was wäre wenn Sie es wirklich gestohlen hätte!“
Ich wollte schon seufzen, aber hielt mich in letzter Sekunde davon ab.
„Herr Jaro, ist sonst noch etwas auf der Arbeit passiert?“
„Ich glaube, die Leute in der Kantine vergiften das Essen.“
„Warum das?“
„Ich hatte Bauchweh. Ich habe nie Bauchweh.“
„Haben Sie vielleicht zu viel gegessen?“
„Nein, ich meine es Ernst. Ich bin mir sicher.“
„Warum sollten die Leute aus der Kantine so etwas tun?“
„Bosheit. Die haben immer schon so böse geschaut.“
„Da wird nichts sein...“
„Aber was wäre wenn, was wäre wenn die Leute von der Kantine mich töten wollen? Ich esse lieber mein eigenes mitgebrachtes Essen.“
Die Zeit verstrich zäh und das ganze Gespräch war von dem nicht enden wollenden Gerede des Patienten erfüllt. Ich schweifte immer mehr ab und ließ meinen Blick über die Regale meines Sprechzimmers wandern, bis zu der Kommode am Ende des Zimmers und musste grinsen.

Was wäre wenn ich jetzt, in diesem Moment die Pistole aus der obersten Schublade holen würde und diesem Gerede ein Ende machen würde... ja, was wäre wenn...


© Daniel Spieker


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Beschreibung des Autors zu "Was wäre wenn"

Ein Gespräch mit einem Psychologen

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