Viele haben sich schon den Kopf darüber zerbrochen wo es liegt, dieses geheimnisvolle Land in dem keine Lebenszeichen mehr von den Bewohnern spürbar sind. Manche waren schon dort und haben es nicht bemerkt und manche, man höre und staune, befinden sich seit ihrer scheinbaren Geburt darin, ohne daß es ihnen jemals aufgefallen ist...

Wenn du ganz genau wissen willst wie es im Totenreich aussieht, dann schau dich um! Es ist überall, direkt neben dir, um dich, hinter der nächsten Ecke, vor jedem Glockenschlag, es beherrscht ganze Erdteile, ohne von den Lebenden, nein, nicht bemerkt, sondern registriert zu werden. Denn jeder der aufrichtig fühlen und denken kann wurde bereits mit Anzeichen des Vorhandenseins dieser dunklen Zone konfrontiert!

Wer ins Totenreich geht, der muss seinen Eintritt (Obolus) bezahlen! Für einen Lebenden besteht er in seinem Schweigen Fakten gegenüber, die sich irritierend auf alle auswirken, die noch die Fähigkeit besitzen ehrliche Angst zu haben. Denn die Fratze des Todes ist ebenso hässlich wie die erlernte Dummheit, mit der man sich wappnen sollte, wenn man zu Kreuze kriecht, oder eine Stellung anstrebt bei der man keinerlei Lebenszeichen von sich abgeben darf.

Im Totenreich ist praktisch alles schon geschehen: Es ist ein Land der Vergangenheit! Wer es betreten möchte, der soll einfach nur den Wegweisern folgen die von Knochenhänden aufgestellt wurden. Sie führen zuerst in einen Urwald der voll ist von Konflikten mit giftigen Verkörperungen tief dunkler Seelen, dann, über die Tempel der Finsternis (wo man, auf Teufel komm raus, drauf los heuchelt), zu einer Zollstation, an der man sich zählen lassen muss!

Bei der Zählung hat man alles anzugeben was ein persönliches Dasein zu bieten hätte, wenn man sich nicht sofort von allen echten Werten lossagen müsste. Dafür erhält man dann den in Pech und Schwefel gebundenen Verhaltenskodex „Zum guten Ton“, der eigens von den Schattenbeauftragten der Schattenwelt übergeben wird. Dann wird man freundlich hereingebeten, um im Kreis der Schatten aufgenommen zu werden.

Ab diesem Ereignis darf man sich getrost als blind für sämtliche Vorzüge betrachten, die theoretisch von Menschen in Anspruch genommen werden könnten, wenn sie denn noch leben würden. Daß sie plötzlich nicht mehr wirklich vorhanden sind, sondern vielmehr als Trugbild existieren, darf weder ausgesprochen noch angedeutet werden. Absichtliche Zuwiderhandlungen sind unfair den anderen Toten gegenüber und können nicht toleriert werden.

Denn im Kreise der Toten fühlt man sich demonstrativ wohl! Dort gibt es Badeanstalten mit Selbstbeweihräucherungs-Saunen, mit Aufgüssen imaginärer Bestätigungsparfüms. Dort werden, von Leiche zu Leiche, hohle Liebeserklärungen gemacht, deren einziger Hintergrund in der völligen Verteufelung des Wunschpartners besteht und dort kommt der Hauch des Todes, zusammen mit dem Geruch zwielichtiger Überzeugungen aus den Hirnen der Bewohner, die sich freuen nur noch ein Schatten ihrer selbst zu sein.

Der Kadavergehorsam ist das Gesetzbuch der Seligen, die sich ihrer Treue zum Totenstaat durch das Aufsagen kryptischer Formeln versichern. Und alle ziehen an einem Strang! Ausnahmen stehen unter dem Verdacht, doch, und zwar allen Widerständen zum Trotz, ins Licht einer Sonne gehen zu wollen, die Horizonte erhellt, Gemüter mit der Kraft des Begehrens auflädt und aus Menschenhaut mehr macht als ein Handelsobjekt.

Denn im Diesseits, weitab von den grauenhaften Gefilden abstoßender Gedankenkloaken regiert der Geist des wahren Seins unumschränkt! Wer am Leben hängt der wendet sich angeekelt davon ab, der arbeitet an der Traumverwirklichung einer Einsicht ohne Gemeinheiten, der widersetzt sich dem Tod auf die lebendigste Weise, die so ein Universum wie unseres zu bieten hat: Er verbindet die Augenblicke zu einem sinnvollen und Gewinn versprechenden Ganzen, das nicht erst durch Rituale heraufbeschworen sein muss!

Die anderen drehen sich fort, zahlen ihren Obolus und wenden sich dem Raum zwischen den Augenblicken zu, wo eben nichts als Dunkelheit (aus der Sicht der Lebenden herrscht). Doch erst kürzlich, als ich, während einer Seance, einen Verstorbenen befragte wie es ihm denn so ergehe im Totenreich, hörte ich sein dünnes Stimmchen flüstern: „Du machst dir keine Vorstellung davon wie wir uns hier fühlen, also eben nicht fühlen, denn wir fühlen ja nichts...es geht uns ausgezeichnet – wir dürfen nur nicht dem Zweifel erliegen es könnte etwas an unserem Jenseits falsch sein. Da suchte ich schleunigst Abstand zu gewinnen!

Nachts kann es sein, daß ich furchtbare Albträume erlebe, in denen die Toten nach mir greifen, um mich zu sich zu holen, in den Bereich der Gefühlskälte, die kein inneres Feuer dulden mag. Dann ziehe ich mich auf meine Insel im Leben zurück, wo ich sicher auch noch sein werde wenn ich einmal keinen physischen Körper mehr besitze. Dann werde ich froh sein mich und kein graues Phantom gelebt zu haben, dem es niemals vergönnt war die Welt der Einsicht zu erfahren...


© Alf Glocker


1 Lesern gefällt dieser Text.


Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Das Totenreich"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Das Totenreich"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.