Die kleine Hand
Es ist einige Tage nach dem Bombenabwurf über Südende, in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1943. Die etwa 2000 Bomben sollten eigentlich über dem Regierungsviertel runter aber durch die mächtige Flak und den Rauch über Berlin kamen die Engländer vom Kurs ab und so traf es unser liebes Viertel Südende, wo einmal Rosa Luxemburg wohnte, der Maler Wassili Kandinsky und viele andere bekannte Leute und jetzt der Reinhart Heydrich. Das habe ich alles von meiner Großmutter erfahren.
Ich zähle gerade 8 Jahre, sitze in der Straßenbahn und will zum Klösterchen in der Bahnhofstrasse. Klösterchen ist wirklich sein richtiger Name. Unser Haus ist kaputt, eigentlich steht fast nichts mehr in unserer Straße und ich habe Hunger. Meine Mutter arbeitet den ganzen Tag in einem Kartoffelversorgungsamt oder wie das heißt. Ich freue mich auf das Essen im Klösterchen, was ja eigentlich ein Lazarett ist, aber jetzt sind auch viele Kinder dort, von denen die Eltern tot sind oder ein Teil davon oder wie bei mir, wo die Mutter arbeiten muss.
Heute und die nächsten Tage darf ich im Klösterchen auch schlafen, denn meiner Großmutter, bei der ich sonst bin, geht es gerade nicht so gut und ein Zuhause haben wir erst mal keines mehr. Die Schwestern kenne ich schon, weil wir früher öfter hier waren. Sie haben immer viel zu tun, müssen kochen, waschen, putzen, alle versorgen, die vielen Gemüsebeete pflegen und Unkraut zupfen. Ich bekomme immer eine kleinere Gießkanne und helfe ihnen, dafür krieg ich manchmal etwas Süßes zugesteckt. Später dürfen wir Kinder spielen, auf Bäume klettern, Verstecken, Fußball spielen.
Heute ist ein Neuer dazu gekommen, kleiner als ich und viel jünger, hat dunkelbraune Haare und steht die ganze Zeit so alleine herum. Als er mich sieht, kommt er ganz vorsichtig näher. Ich tue ihm ja nichts. Er fragt ob er mit mir spielen darf. Klar darf er. Er heißt Denni. In den drei Tagen, die wir zusammen sind, ist er immer barfuß gekommen, mit einem grauen Hemd, das viel zu groß ist und einer Hose, die er mit einem Kälberstrick festgebunden hat, damit sie nicht rutscht. Seine Arme sind sehr dünn aber trotzdem kann er mehr Liegestütze als ich. Als ich ihn frage, wo er herkommt, schaute er weg. Aber spielen mit ihm ist spannend, am liebsten spielen wir Spähtrupp, indem wir uns irgendwo verstecken oder auf den großen Apfelbaum klettern und einer sagt dem anderen immer, wenn er etwas sieht, vorn auf der Straße. Meistens kommen Lastwagen vorbei, wo hinten Soldaten sitzen oder Personenautos, vorneweg zwei Motorräder. Die anderen Kinder kümmern sich wenig um uns, manche spielen mit Karten. Nur ein paar rennen herum, sonst ist wenig los auf der Wiese oder im Haus, wenn es mal regnet. Denni freut sich immer, wenn wir unseren Tee und die zwei Scheiben Brot mit Kunsthonig oder Marmelade runter haben und raus dürfen. Dann schleppen wir erst unsere Gießkannen herum und helfen den Schwestern Unkraut zupfen. Danach ist frei. Gestern lagen wir hinten im Gras und erzählten uns, was wir uns wünschen würden, wenn mal eine Fee käme. Denni schwieg erst dann antwortete er und schaute dabei auf seine Füße, „Dass Mama und Papa wieder kommen.“ Auf meine Frage, wo die denn wären, antwortete er, die seien mit einem ganz langen Zug weggefahren zum Arbeiten.
Wir sind bald unzertrennlich. Seit Denni hier ist, schauen die Schwestern, besonders meine Lieblingsschwester Anna, dass uns die anderen Kinder nicht stören. Sie ruft sie dann immer zu sich und macht irgendwas mit ihnen, um sie zu beschäftigen.
Wenn die Zeit kommt, dass wir ins Bett müssen, wird Denni immer schweigsam. Ich bleibe dann unten an der Treppe stehen, während er auf seinen dünnen Beinen nach oben klettert. Er dreht sich immer noch einmal um und nickt mir durch eine Lücke zwischen den Akanthusblättern des schmiedeeisernen Geländers zu, bevor er in dem tiefen, dunklen Gang verschwindet. Heute Abend ist er noch stiller als sonst; bestimmt denkt er an seine Eltern, die nicht da sind. Aber wenn die doch beide Arbeit haben, holen sie ihn sicher bald zu sich, denke ich.
An der Treppe warte ich wie jeden Tag darauf, dass er sich umdreht aber heute nicht. Ich will schon gehen, da ruft er mit seiner hellen Stimme meinen Namen und als ich hinauf schaue, zwängt sich eine kleine Hand zwischen den Akanthusblättern hindurch. Durch das schwere Eisengeranke spielen die kleinen Finger, wie die Beine eines Käfers auf dem Rücken. Vom Gang her höre ich seinen Namen, freundlich, wie eine Mutter ihr Kind ruft. Da verschwindet die kleine Hand.
Als ich am nächsten Morgen seinen Platz leer finde, frage ich Schwester Anna nach Denni. Sie nimmt mich zur Seite und sagt, man habe ihn abgeholt, er werde jetzt zu seinen Eltern gebracht, nach Polen. „Da freut er sich bestimmt sehr“, sage ich zu Schwester Anna. Sie streicht mir über den Kopf. „Ja ja sicher“, antwortet sie und klappert heute sehr laut mit dem Geschirr vom Frühstückstisch.

(aufgeschrieben nach den Erinnerungen eines Freundes)
©HF12/11


© Hans Finke


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Kommentare zu "Die kleine Hand"

Re: Die kleine Hand

Autor: noé   Datum: 21.12.2013 15:38 Uhr

Kommentar: Eine so tragische Geschichte so fesselnd erzählt - ganz groß, Hans!
Vorweihnachtliche Grüße, noé

Re: Die kleine Hand

Autor: Michaela Thanheuser   Datum: 03.02.2014 21:54 Uhr

Kommentar: Erschütternd.
Erinnerung -
die sich wohl erst viele Jahre später in bittere Erkennntnis einfügen musste.
Ich glaube dir jedes Wort als erlebt...
Bist ein ganz hervorragender Erzähler...
Danke.
LG
Michaela

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