Im alten Ägypten lebte vor tausenden von Jahren ein Pharao, der sich für einen Gott hielt. Das war in dieser Zeit nichts Ungewöhnliches, denn alle Pharaonen hielten sich für Götter. Aber Pharao Senetohep, von dem unsere Geschichte handelt, überschätzte sich noch ein Stück mehr, er hielt sich nicht nur für einen Gott, sondern er hielt sich für den größten aller Götter, nämlich für den Übergott, der alle anderen Götter dieser Welt geschaffen hatte. Eines Tages ließ er seinen Oberbaumeister Tarkan zu sich kommen, um mit ihm den Prunkbau zu besprechen, der für alle Generationen, die nach ihm leben würden, von seiner, des Übergottpharaos Bedeutung künden sollte.

„Ich werde eine Pyramide errichten lassen, die alle Pyramiden überragt, die bisher gebaut wurden“, sagte der Baumeister Tarkan. „Willst du dich über mich lustig machen?“ herrschte Pharao Senetohep ihn an, „ich weiß natürlich, dass es eine Pyramide werden muss, wie es das göttliche Gesetz, also auch meines befiehlt, aber diese soll doch nicht nur ein wenig größer und schöner sein als die Grabmäler meiner Vorfahren. Ich will etwas grundsätzlich Anderes, etwas Neues, etwas, das auf der ganzen Welt noch niemals gebaut wurde“.

Der Baumeister entfernte sich mit ehrfürchtigen Verbeugungen rückwärts aus dem Thronsaal, um über das Problem nachzudenken. Der Pharao rief ihm mit donnernder Stimme nach: „Ich gebe dir dreiunddreißig Tage Zeit, wenn du bis dahin keine überzeugende Lösung gefunden hast, werde ich dich den Löwen vorwerfen lassen! So wahr ich der Schöpfer aller Götter bin!“

Tarkan saß verzweifelt in seinem Entwurfszimmer. Die Papyrusblätter mit den unterschiedlichsten Plänen mehrten sich und lagen überall auf dem Boden um ihn herum. Auf ihnen waren Pyramiden skizziert, von denen jede auch den größten Pharaonen alle Ehre gemacht hätte. Aber Pharao Senetohep schob bei jedem Besuch auch die herrlichsten Entwürfe verächtlich zur Seite. Keiner kam auch nur im Ansatz seinen Vorstellungen nahe. So wenigstens sah er es.

Die Zeit verrann. Schon waren drei Wochen vergangen, es blieben dem Baumeister Tarkan also nur noch zwölf Tage, in dieser kurzen Frist musste er die rettende Idee gefunden haben. Weitere zehn Tage vergingen, Tarkan saß über seinen Plänen, aber es wollte ihm nichts einfallen, was den Forderungen des Pharaos auch nur annähernd Genüge getan hätte. Er war müde und verzweifelt und fast schon so weit, mit dem eigenen Leben abzuschließen. Vielleicht würde der Pharao wenigstens seine Bemühungen anerkennen und ihm einen mitleidigen Tod durch Erhängen gewähren, statt ihn von Löwen bei lebendigem Leib in Stücke zerreißen zu lassen. Über diesen Gedanken schlief er ein, sein Haupt sank auf den Tisch herab und der Mangel an Schlaf in den vergangenen Wochen und das Übermaß seiner Verzweiflung ließen ihn in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf gleiten.

Die Nacht verging und der dreiunddreißigste Tag brach an. Der Baumeister erwachte, rieb sich die Augen und sagte zu sich: „Heute werde ich also sterben müssen“. Er rief seine Frau und seine Kinder herbei, küsste alle und verabschiedete sich von ihnen. Schluchzend verließen sie sein Entwurfsgemach. Jedoch in Tarkan machte sich jetzt der Zorn breit. Warum sollte er dem Pharao seine herrlichen Skizzenblätter gönnen, nur weil kein Entwurf dabei war, der seinen absurden Anforderungen genehm war? Er raffte alle Blätter zusammen, zündete sie an und wollte zuletzt auch die Papyrusseiten in die Flammen werfen, die gerade auf seinem Entwurfstisch in Arbeit waren.

Als er genau hinsah, stutzte er. Direkt vor seinem Platz in der Mitte des Tisches lag ein Blatt mit einem Entwurf, der ihm unbekannt war. Das Blatt stand eigentlich nur auf dem Kopf, weil er es im Schlaf vermutlich verschoben hatte. Doch das Bauwerk, das da nun vor seinen Augen stand, war ungeheuer neu und ungewöhnlich, aber – wie er als erfahrener Baumeister natürlich auf Anhieb erkannte – technisch absolut undurchführbar.

Es war eine riesige Pyramide, von oben bis unten mit Platten aus purem Gold verkleidet, mit aus Edelsteinen geschliffenen Miniaturen verziert, mit einem Wort es war die herrlichste Pyramide, die Baumeister Tarkan jemals im Leben gesehen oder selber erdacht hatte. Aber er wusste, dass dies nicht ausreichte, dass sie von dem sich selbst so maßlos überschätzenden Pharao sicher wieder nicht gutgeheißen würde. Doch dann wurde ihm plötzlich klar, wodurch sich diese Pyramide dennoch von allen unterschied, die jemals errichtet worden waren und was sie so einzigartig machte, dass sie so vielleicht auch vor Pharao Senetoheps Augen Gnade finden würde. Denn nun stand die herrliche Pyramide ja auf der Spitze.

Tarkan fasste sich an den Kopf. Das wäre wohl wirklich das ungewöhnlichste Bauwerk, das jemals das Licht der Welt erblickt hätte, doch wie sollte es stabilisiert werden? Wahrscheinlich war er deshalb nicht schon eher auf diesen Gedanken gekommen. Wie sollte es mit seiner fragilen Spitze im Wüstensand Halt finden? Ja, wie sollte eine solche Spitze die gesamte Last des Bauwerkes überhaupt tragen können?

Als der Baumeister über alle diese Probleme nachdachte, betrat der Pharao sein Arbeitszimmer. „Dreiunddreißig Tage sind um, Tarkan, ich sehe nirgendwo Entwurfszeichnungen, ich hatte zwar schon mit dem Gedanken gespielt, dir aus Mitleid ein schnelles Erhängen zu gewähren, aber da hier nur Aschehäufchen umherliegen, werden es wohl doch die Löwen sein, die ich heute mit deinem Fleisch füttern lasse. Sie haben schon mächtigen Hunger“. Er trat an den Entwurfstisch heran. Da erblickte er das Blatt mit der auf der Spitze stehenden Pyramide.

Der Pharao blieb wie angewurzelt stehen, seine Züge hellten sich auf und er klatschte begeistert in die Hände. „Das ist in der Tat etwas, was noch nie da war. Respekt, Baumeister! Wenn du dieses Bauwerk zu vollenden in der Lage bist, werde ich dich zur Belohnung in purem Gold aufwiegen lassen. Also mach dich ans Werk! Ich bin zwar kein Baumeister, aber dass dieser kühne Entwurf nicht einfach zu verwirklichen ist, sehe auch ich“.

Baumeister Tarkan verbeugte sich: „Ich werde eine Lösung finden“, waren seine Worte. Er versuchte, Überzeugung in seiner Stimme mitschwingen zu lassen, aber das gelang ihm nur unvollkommen, denn er hatte noch keine Ahnung, wie aus diesem Entwurf ein fertiges Bauwerk erstellt werden konnte. Die Goldplatten waren einfach zu beschaffen, denn das Vermögen des Pharaos war unerschöpflich, die Edelsteinminiaturen waren auch machbar, denn für die meisterhaften Goldschmiede und Steinschleifer des Reiches gab es praktisch keine Probleme, aber wie sollte er dem Bauwerk die notwendige Standfestigkeit verleihen? Es stand ja ausschließlich auf seinem Schlussstein.

Am folgenden Tag unternahm der Baumeister einen Spaziergang durch die Wüste, denn er wollte nachdenken. Er stapfte schweigend durch den Sand, in den er bei jedem Schritt einsank. Plötzlich sah er einen Skorpion, der seine Scheren hob, als wolle er den Baumeister auf sich aufmerksam machen. Als er sich zu dem Tierchen hinabbeugte, hörte er ein ganz leises Wispern, das wirklich von dem Skorpion kam. Er hatte aber in den vergangenen Tagen schon so viele wundersamen Dinge erlebt, dass er es durchaus für möglich hielt, dass der Skorpion sprechen konnte und ihm etwas sagen wollte. Doch das Tier gab nur ein einziges Wort von sich, nämlich „huna!“. Das bedeutete in der Sprache des Landes „hier!“.

Der Baumeister wischte den Sand zur Seite und stieß auf eine Platte, die aus ungewöhnlichem Material bestand. Als er versuchte, mit seinem Hammer, den er immer mit sich führte, eine Ecke von der Platte abzuschlagen, zersplitterte sein Hammer in tausend Stücke. Das Material, aus dem die Platte bestand, war ihm in den vielen Jahrzehnten, die er schon des Pharaos oberster Baumeister war, niemals begegnet.

„Nun gut, vielleicht ist es ein Gestein der Götter“, dachte er. Und irgend etwas in seinem Inneren sagte ihm, dass von allen Plätzen wohl genau „huna!“, also hier der geeignete Platz für die wundersame Pyramide sein sollte. Als er die Gegend weiter untersuchte, entdeckte er noch weitere Blöcke aus dem gleichen seltsamen Material. „Ideal geeignet für die Spitzenkonstruktion, denn diese muss ja das gesamte Gewicht der Pyramide tragen“, dachte er. Er kehrte heim und ordnete an, dass man dem Pharao mitteilen solle, dass er einen idealen Platz und auch eine Möglichkeit gefunden habe, das Bauwerk zu realisieren.

Er rief die Steinmetze, die Kunstschmiede, die Edelsteinschleifer und tausende von Bauarbeitern aus ihren Hütten zusammen und unterbreitete ihnen den Bauplan. Aus den Wäldern entfernter Länder, die dem Pharaonenreich unterworfen waren, wurden mächtige Stämme herbeigeschafft. Das Gerüst, das man aus diesem Stämmen errichten wollte, sollte die seltsame Pyramide während des Baues aufrecht halten.

Schon nach wenigen aufgeschichteten Blöcken merkten die Bauarbeiter, dass dieses Gerüst gar nicht notwendig war; wie durch ein Wunder hielt sich die langsam wachsende, und nach oben immer mächtiger werdende Pyramide von ganz allein auf der Spitze in der Senkrechten.

In der nächsten Nacht erschien Tarkan im Traum ein Dschinn, der mit tiefer grollender Stimme ein Lied sang, und dieses lautete folgendermaßen:

Der Wunderbau wird ewig währen
Nur Hochmut kann das Werk zerstören.
Der Schwerkraft wird es kühn entsteigen,
Doch vor dem Bau soll jeder schweigen.

Baumeister Tarkan ging zum Pharao und erzählte ihm von diesem Traum. Da ordnete Senetohep bei sofortiger Todesstrafe an, dass man sich seinem im Bau befindlichen Grabmal jetzt, und auch wenn es vollendet sein würde, für alle Zeiten nur schweigend und mit bescheiden gesenktem Kopf nähern dürfe. Das erschwerte zwar die Arbeit der Bauarbeiter und Steinmetze, die sich nun mit Notizen auf Papyrusfetzen verständigen mussten, aber das Herabsenken des Kopfes beschleunigte ihre Arbeit sogar, weil sie sich so noch besser auf ihr Werk konzentrieren konnten. Nach drei Jahren war das Bauwerk schließlich fertiggestellt. Es war mit Gold verkleidet und herrliche Edelsteinkunstwerke verzierten es ringsum.

Pharao Senetohep beschloss, es gemeinsam mit seinem gesamten Hofstaat zu besichtigen und einzuweihen. Er ordnete absolutes Schweigen an und ließ sogar die Pferde so fest vor die Wagen spannen, dass sie nur noch mit weit herab gebogenen Häuptern traben konnten. Die Gruppe erreichte das Bauwerk. Mit vor Bewunderung weit aufgerissenen Augen betrachteten alle schweigend die ungewöhnlichste und wunderbarste Pyramide, die sie jemals gesehen hatten. Kein Laut war zu hören, nur das leise Schnauben der Pferde.

Der Pharao trat heran. „Wenn ich ganz leise flüstere, wird es das Gleichgewicht des Bauwerks wohl nicht stören“, dachte er sich, und er sagte kaum hörbar: „Wunderbar, es ist in der Tat wunderbar“. Nichts geschah.

Dann jedoch erwachte in ihm wieder sein Hochmut und sein Bedürfnis, allen zu verkünden, dass er nicht nur der oberste Gott, sondern auch der auserwählte Erschaffer aller übrigen Götter war. Er wurde übermütig und wollte jetzt nicht nur das Bauwerk bewundern, sondern auch eine Lobeshymne auf sich selbst zum Besten geben. Und er rief mit lauter, von eitler Selbstüberschätzung getragener Stimme: „Dieses Bauwerk ist wirklich eines Übergottes würdig, es ist meiner, Senetoheps Einzigartigkeit würdig, fürwahr!“

In diesem Augenblick verdüsterte sich der Himmel, die Pyramide neigte sich zur Seite und schließlich, mit einem ohrenbetäubenden Donnern, stürzte sie in sich zusammen; der Pharao, der zu nahe herangetreten war, wurde unter den staubigen Trümmern begraben. Von Entsetzen getrieben flohen die Arbeiter und der gesamte Hofstaat, und keiner wagte es, sich nach diesem Tag auch nur einmal dem Ort des Schreckens zu nähern, da jeder ihn für verhext hielt. Und auch ihren Kindern und Kindeskindern verboten die Erwachsenen schaudernd, diesem Ort jemals, auch nicht versehentlich im übermütigen Spiel nahezukommen.

So fand der überhebliche Pharao zwar eine letzte Ruhestätte, jedoch nicht als Mumie in einem goldenen Sarkophag, ganz oben, in der herrlich verzierten Grabkammer einer bis dahin unvorstellbaren, auf der Spitze stehenden Pyramide, sondern lediglich als menschlicher Kadaver unter einem schäbigen Geröllhaufen. Und alle Karawanen, die durch diese Gegend zogen, machten trotz des Goldes, das man in dem Steinhaufen noch hätte finden können, einen weiten Bogen um diesen Steinhügel, denn sie fürchteten den schrecklichen Zauber, der über dem Ort lag.

Der Name des Pharaos war auch bald vergessen. Und deshalb taucht er in keinem der Dokumente auf, in denen die Geschlechterfolgen der ägyptischen Pharaonen verzeichnet sind.

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Kommentare zu "Von der Pyramide, die auf der Spitze stand"

Re: Von der Pyramide, die auf der Spitze stand

Autor: Michael Dierl   Datum: 20.06.2021 14:09 Uhr

Kommentar: Schön geschriebene Geschichte und ich habe sie gern gelesen. Erinnert mich ein wenig an Karl May Geschichten, die ich als Jungendlicher gern verschlungen habe. Habe fast alle 72 Bände gelesen. :-)

lg Michael

Re: Von der Pyramide, die auf der Spitze stand

Autor: mychrissie   Datum: 20.06.2021 14:25 Uhr

Kommentar: Und ich habe sogar als Neunjähriger stundenlang geweint, als der (als Christ!) hingeschiedene Winnetou aufrecht auf seinem Pferd sitzend begraben wurde. Aber um ehrlich zu sein, auch noch deswegen, weil ich nicht mit der Taschenlampe unter der Bettdecke weiterlesen durfte.

Re: Von der Pyramide, die auf der Spitze stand

Autor: Michael Dierl   Datum: 20.06.2021 19:29 Uhr

Kommentar: Das mit der Taschenlampe hat meinen Vater damals immer auf die Palme gebracht. Die Batterien waren ständig leer, wenn er sie mal brauchte und Batterien, damals noch Varta, waren sauteuer! Er ist dann gefrustet immer mit einer Petroleumlampe des Abends zum Hasenstall gelaufen. Was ein Ärger als er bemerkte wer dieses Wunderding immer leerlutschte.

lg Michael ;-)

Re: Von der Pyramide, die auf der Spitze stand

Autor: mychrissie   Datum: 21.06.2021 10:50 Uhr

Kommentar: Ja, als Kind heult man eben oft, aus diesem Grund, aus jenem Grund, weil man nicht weiterlesen darf, weil man schlafen muss und überhaupt...

LG Peter

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