Goscha drehte sich einmal im Kreis. „Ist das nicht ein Wunder? Es ist alles so grün und das Mitten in der Wüste!“ Vasa Rem nickte leicht. Mit einem seeligen Lächeln beobachtete er seine Frau. „Du bist gar nicht begeistert!“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Ich bin hier aufgewachsen. Ich habe dieses Wunder als Kind Tag für Tag miterlebt!“ Goscha legte den Kopf schief. Der Misch sprang auf ihre Schulter. Vasa Rem fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis man den Bauch sehen konnte, bis sich das Kind in ihr Leben drängte. Goscha schien so unbekümmert. War sie glücklich? Er hoffte es, denn er wusste nicht so recht, was er sonst tun konnte, damit sie glücklich würde. Er vertrieb die trüben Gedanken. Schließlich musste man nur einmal in ihr Gesicht sehen, um ihr Lächeln zu sehen. Sie kam auf ihn zugerannt und küsste ihn. „Was machst du für ein trübes Gesicht? Machst du dir wieder Sorgen?“ Er schüttelte leicht den Kopf. Dann nahm er sie in die Arme. „Nein, eigentlich nicht!“
Sie gingen die Feldwege entlang. Selbst wenn die Wüste keine Jahreszeiten zeigte, gab es doch gewisse Regeln der Bepflanzung. Trotzdem konnte man je nach Frucht und Gemüse zwei bis drei Mal im Jahr ernten. Seine Vorfahren hatten ein kluges System ausgearbeitet, so dass der Boden optimal genutzt wurde und trotzdem nicht zu sehr an Nährstoffe verlor. Anders hätten sie mit der limitierten Fläche, kaum die ganze Stadt ernährt. Vasa Rem hatte einmal darüber gelesen, doch eigentlich hatte es ihn nur mäßig interessiert. Es war schöner hier draußen zu sein und die Pflanzen wachsen zu sehen, ohne sich viel Gedanken darüber zu machen. Goscha bückte sich und fuhr mit den Fingern über die Blätter einer Pflanze. „Ich dachte immer die Gerlanen wachsen nicht in der Sonne. Bei mir sind sie immer vertrocknet.“ Sie blickte zu Vasa Rem auf, doch der konnte nur den Kopf schütteln. Dafür sprang Sin von ihrer Schulter und huschte in das Feld. Eine Weile konnte Vasa Rem noch beobachten, wie das Gemüse unter seinen Bewegungen raschelte. Doch dann verlor er ihn aus den Augen. Wahrscheinlich stahl er sich zu den Himbeerstauden um heimlich an den Früchten zu naschen. Auch Goscha zog weiter zu den nächsten Pflanzen und staunte über Blätter, Blüten und Früchte. „Dir geht dein Bauernhof ab, oder?“ Goscha blickte ihn verständnislos an. Er schluckte. Für einen Augenblick schien sich irgendetwas in ihrem Gesicht zu verändern. Für Vasa Rem war die Veränderung nicht greifbar, aber er spürte, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Doch Plötzlich lächelte Goscha, so als wäre nichts gewesen und deutete auf eine Palmengruppe nicht weit weg. „Es ist so heiß. Ich möchte in den Schatten!“ Vasa Rem nickte und bemühte sich dabei den Ausdruck in Goschas Gesicht zu vergessen.
Seine Hand spielte mit Goschas Fingern. Sie blickte in die Weite der Felder hinaus. Ihr Blick schien weit weg. Vasa Rem wusste, dass auch sie weit weg sein musste. Er hatte immer geglaubt sie festhalten zu können. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. „Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du ein Prinz bist?“ Er schreckte hoch. Dann begann er über ihre Frage nachzudenken. „Prinz…“, murmelte er. „Ich bin kein Prinz!“ Goscha drehte sie zu ihm. „Aber deine Schwester regiert das Reich! Also bist du ein Prinz!“, beharrte sie. Er lehnte sich zurück gegen die brüchige Rinde der Palme. „Ich bin so sehr ein Prinz, wie du eine Akari bist! Ich werde niemals Chema verwalten!“ Goscha zog die Knie an und legte ihre Arme um sie. Er rutschte näher zu ihr und legte einen Arm um ihre Schulter. Dann drückte er sich ein wenig zu sich. „Ich habe das Gefühl nicht hier her zu passen. Alle starren mich an, so als müssten sie mich mustern, ob ich wirklich gut genug für dich bin!“ Vasa Rem küsste ihre Schläfe. „Das stimmt nicht. Das tun sie nicht. Sie sind nur neugierig. Und selbst wenn sie dich prüfen würden, würdest du den Test mit Leichtigkeit bestehen!“ Sie schüttelte sich ein wenig frei und wandte sich von ihm ab. Vasa Rem unterdrückte ein Seufzen. „Sieh mich an Goscha! Sieh mich an!“ Widerwillig gehorchte sie ihm. Er nahm ihr Gesicht zärtlich in seine Hände. „Ich liebe dich, Goscha! Das ist mehr als ausreichend. Außerdem bist du… ihr jetzt meine Familie. Ihr steht mir näher als meine Halbgeschwister, als Chema, als die Magiergilde, als alles.“ Er umarmte sie und zog sie fest an sich. „… als alles!“, flüsterte sie. Er nickte glücklich sie überzeugt zu haben. „Sie werden dich lieben, so wie ich dich auch liebe!“

Er beobachtete sie. Er wusste nicht, wieso ihm der Anblick ihrer Nase, die in den Büchern steckte, so gut gefiel. Es passte einfach zu ihr. Er seufzte. Sie blickte auf, registrierte ihn und wandte sich wieder ihren Büchern zu. Er hatte nicht viel anderes erwartet und doch gehofft, dass sie anders reagieren würde, als ihn zu ignorieren. Er trat langsam zum Tisch. „Was ist?“, murmelte sie ohne auf zu sehen. Er hätte so gern über ihre Wange gestrichen. Er hat es schon so oft getan in seinen Tagträumen. Stattdessen stemmte er seine Hände gegen den Tisch. „Ich… ich wollte dir sagen, dass ich morgen abreise!“ Es kam keine Reaktion. War das ein gutes Zeichen? Sie blickte endlich hoch. Wie automatisch schoben ihre Hände das Lesezeichen zurück. „Nach zwei Tagen schon?“ Kiras nickte. Er hatte Nabo mit der Karawane zu seiner Mutter geschickt. Er wollte so schnell wie möglich nachkommen. Er musste alles regeln. Sie zuckte mit den Schultern. „Dann wünsche ich dir eine gute Reise. Willst du noch vor Sonnenaufgang wegreiten?“ Kiras nickte. „Es wäre schön, wenn ich dich morgen noch sehen könnte!“ Sie nickte leicht. Dann suchte ihr Blick wieder das Buch. Es hatte keinen Sinn! Was erwartete er von ihr? Vielleicht würde es anders sein, wenn er wieder kam. Dann würde sie ihn vielleicht auch begrüßen. Es brauchte vielleicht nur ein wenig Zeit, bis sie ihm sagen konnte, was sie fühlte, bis sie sich vielleicht selbst dessen klar war. Er drehte sich um und ging.
Die letzten Strahlen der Sonne blendeten ihn, als er aus der Bibliothek kam. Er hielt die Hand vor die Augen. Von hinten hörte er Schritte. Verwundert blickte er sich um. K’vara lief keuchend den Gang hinunter. Sie hatte etwas in der Hand. Sein Herz begann heftiger zu schlagen. Für einen flüchtigen Moment machte er sich Hoffnungen. K’vara blieb keuchend etwa einen Meter vor ihm stehen. Sie hielt ihm ein Stück Papier hin. „Das…das ist ein Brief…“ Sie atmete schwer. „Für meine Eltern! Nimm ihn, bevor ich es mir anders überlege! Ich hätte ihn schon ein paar Mal fast verbrannt.“ Verwundert nahm er den gefalteten Zettel. Dann nickte er. „Natürlich mache ich das für dich!“ Er schob den Zettel in seine Brusttasche und versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Sekundenlang blickte sie ihn ausdruckslos an. Plötzlich konnte er nicht anders, als sie umarmen. „Ich werde dich so vermissen. Ich vermisse dich schon bei dem Gedanken daran, dass ich abreisen werde!“ Sie begann zu zappeln. Er ließ sie los. Fast entsetzt blickte sie ihn an. Auf einmal begann sie mit ihren Fäusten auf ihn ein zu hämmern. „Du Idiot! Weißt du eigentlich, was du mir antust?“ Er versuchte nach ihren Armen zu greifen, doch konnte er sie nicht zu fassen bekommen. Sie wich wieder zurück. „Ich… ich… Woher soll ich wissen…“ Sie schüttelte den Kopf. Waren da Tränen in ihren Augen? Er wollte nach ihrer Schulter greifen. Doch sie schlug die Hand zur Seite. „Ich dachte, du wärst mein Bruder, oder so etwas. Du machst alles kaputt! Alles! Verstehst du?“ Er schluckte. Was hätte er denn tun sollen? Er hätte sich gehasst, wenn er K’vara nie gesagt hätte, was er wirklich empfand und doch mochte er sich in diesem Moment selbst nicht mehr. Nichts war mehr so wie es sein sollte. Das war es vielleicht schon seit dem Zeitpunkt, als er sich in sie verliebt hatte.
„Was ist denn hier los?“ Sie drehten sich gleichzeitig zur Seite. Chesem Ba warf einen verdutzten Blick auf beide. „Du hast keine Ahnung, du Idiot!“, schimpfte K’vara. Sie rannte scheinbar wahllos weg. „Diesmal habe ich wirklich nichts getan!“ Kiras schüttelte den Kopf. Doch seine Aufmerksamkeit lag auf ihrer Gestalt. Er merkte zuerst gar nicht, wie Chesem Ba seinem Blick folgte. „Du hast doch nicht etwa… Doch, du hast!“ Kiras nickte nur. „Du bist verrückt!“ Kiras löste sich von dem Anblick. Er seufzte leise. „Nein, nur verliebt!“ Chesem Ba verzog das Gesicht. Er klopfte mit der Hand auf seine Schulter. „Das ist doch dasselbe!“ Langsam setzten sie sich in Bewegung. Kiras versank in Gedanken, was er jetzt tun sollte. „Das hat ja eher nach einer Abfuhr geklungen!“, murmelte Chesem Ba schließlich. Kiras schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich glaube nicht!“ Chesem Bas Augenbrauen hoben sich. „Ich glaube nicht, dass ich ihr egal bin. Sonst wäre sie doch nicht so aufgebraust!“ Chesem Ba schüttelte nur den Kopf und seufzte.

Miandra und Nabo blickten wortlos auf das Anwesen. Beide warfen sich einen Blick zu, der Bände sprach. So lebten also die wirklich reichen Leute! „Welche Verschwendung!“, murmelte Miandra schließlich. Nabo nickte leicht. „So wie deine Schönheit an mir verschwendet ist!“ Miandras Stirn legte sich in Falten. Sie mochte nicht besonders, wenn er so redete. Aber er empfand trotzdem so und war deswegen nur umso dankbarer, dass sie bei ihm blieb. Sie trat einen Schritt vor. „Wir sollten es hinter uns bringen.“ Er legte seine gesunde Hand auf ihre Schulter und hielt sie zurück. „Lass mich das machen! Ich habe mehr Erfahrung in so etwas!“ Sie blickte ihn verwirrt an. Doch dann nickte sie. In einer Hütte abseits von der Menschheit verlernte man unterwürfig zu sein. Nabo hatte ein hartes Training in der Kaiserstadt hinter sich. Selbst wenn er sich in seinem Rang sehr viel erlauben hatte dürfen, hatte er immer gewusst, wie weit er wirklich gehen durfte. Er klopfte am großen Tor. Es brauchte, bis sich ein Fenster öffnete. Nabo fingerte an dem Brief, den Kiras für ihn geschrieben hatte. Er beugte seinen Kopf ein wenig. „Meine Herrin, die erwürdige Lady Miandra, wünscht die Hausherrin Vantra zu sprechen!“ Er glaubte Miandras stechenden Blick in seinem Rücken zu spüren. „In welcher Angelegenheit?“, fragte das Gesicht durch die Luke. Nabos Kopf sank noch ein kleines Stück. „Die erwürdige Herrin Miandra kommt in Angelegenheiten Vantras Sohnes Kiras.“ Nabo schloss die Augen und versuchte zu erfühlen, wie viele Menschen hinter dem Tor standen. Er spürte nur eine unbestimmte Präsenz. Keiner von den Menschen hier hatte magische Fähigkeiten. Vielleicht würde Miandra mehr wissen. Doch er konnte sie jetzt nicht danach fragen und es war im Endeffekt nicht so wichtig. Es war nur sein üblicher Kontrollwahn. „Ihr könnt eintreten. Ich werde nach der Herrin schicken. Doch ich kann nicht versprechen, ob sie euch empfängt! Sie ist sehr beschäftigt.“ Nabo nickte scheinbar dankbar.
Sie standen sich die Füße in den Bauch. Der Wächter hielt ein wenig Abstand von ihnen. Immer wieder warf er einen Blick auf Nabos entstellte Gestalt. Er war nicht der erste. Auch die Leute im Kontor hatten ihn immer wieder verstolene Blicke zugeworfen. „Glaubst du, da kommt noch wer?“, murmelte Miandra. Nabo nickte leicht. Vantra ließ sie absichtlich warten. Das gehörte sozusagen zum guten Ton. Die Frau hatte sicher nichts Besseres zu tun, als auf eine Nachricht von ihrem Sohn zu warten. Er fragte sich, wie Kiras, der in so einer Umgebung aufgewachsen war, nur so normal sein konnte. Endlich kam eine Gestalt hinter den sorgfältig gepflegten Büschen hervor. „Na endlich!“, murmelte Miandra. Nabo drückte kurz ihre Finger. „Vergiss nicht ehrwürdig zu sein!“
Sie hatte fast dasselbe Fleckenmuster wie Kiras. Das fiel Nabo als allererstes auf, selbst wenn die Frau verschleiert war, so wie alle Frauen in der Gegend, wenn sie sich Fremden zeigten. Der Schleier war nur sehr dünn und die dunklen Hautflecken stachen trotzdem hervor. Sie wirkte zuerst ein wenig verwirrt, doch dann wandte sie sich Miandra zu. „Es freut mich eure Bekanntschaft zu machen, Lady Miandra. Ihr bringt Nachricht von meinem Sohn?“ Miandra nickte nur. „Aber ich bin unhöflich gleich danach zu fragen. Ich vergesse meine Gastfreundschaft! Kommt mit in den Garten. Ich werde Tee und Kuchen für euch servieren lassen!“
Nabo stand hinter Miandra. Dabei ließ er einen Blick durch den Garten und über die Hausfassade laufen. Er versuchte sich alles ein zu prägen, so wie er es immer tat, wenn er an einem neuen Ort ankam. Als Diener fiel einen das leichter als verkleidet als ehrwürdiger Herr. Miandra nippte an dem Tee. „Wir sind zusammen von der Kaiserstadt aufgebrochen. Kiras war so freundlich und hat uns einen Platz in seiner Karawane bereitgestellt“, begann sie. Nabo hätte ihr sagen sollen, dass sie ihn nicht in ihr wir inkludieren sollte. Aber jetzt war es zu spät. Miandra begann all das zu erzählen, was Kiras ihnen eingetrichtert hatte. Auf Geheiß hin zog Nabo artig den Brief aus seiner Tasche und überreichte ihn mit geneigtem Kopf. Nabos Gedanken glitten schnell weg zu Kiras und der roten Stadt Chema, von der er erzählt hatte. Sie wirkte im Vergleich zu diesem Anwesen wie ein Paradies. Sie hatten ihr Paradies hinter sich gelassen. Vielleicht konnten sie dort ein anderes finden. Vielleicht konnte er dort endlich Ruhe finden.
Kiras Mutter brachte sie zum Tor. Miandra schritt ehrwürdig voran und Nabo schlürfte ihr nach. Die beiden Frauen verabschiedeten sich herzlicher, als sie für einander fühlten. Als das Tor hinter ihnen wieder ins Schloss fiel, atmeten beide erleichtert aus.

Lange hatte er sich vor diesem Besuch gedrückt. Doch jetzt sprach nichts mehr dagegen. Mikulas hatte Goscha entführt und er war alleine in seinem alten Zimmer zurück geblieben. Wenn er die Vorhänge zugemacht hatte, hatte er das Gefühl gehabt, es roch noch immer nach den alten Düften. Das hatte er nicht ausgehalten. Doch dieser Anblick war nicht viel besser. Er atmete tief ein. Seine Finger fuhren über Bals Schnauze. Chesem Ba hatte ihn Vasa Rem für diesen einen Ausflug geliehen. Vasa Rem wusste, was das für ein Vertrauen bedeutete. Das machte ihm auch ein wenig das Herz schwer. Was hatte er für die anderen tun können? Er war zwölf Jahre weg gewesen und war mit nichts zurückgekommen. Er blinzelte. Doch die Tränen wollten nicht weg gehen. Langsam sank er in sich zusammen. Seine Knie berührten den heißen Sand. Er hatte die letzten Jahre verschenkt. Die Reise in den Osten war ein Zeichen gewesen. Er hätte damals aufhören sollen. Dann wäre er noch rechtzeitig zurück gewesen. Seine Hände gruben sich in den heißen Sand. Ein Tropfen viel auf die Erde. „Vater, Vater!“ Doch sein Vater war nicht mehr da. Sein Vater war eins geworden mit der umbarmherzigen Wüste. Er war eins mit seinem geliebten Land, eins mit seinen geliebten Frauen, die diesen Weg schon viel früher gegangen waren. „Ich werde dir irgendwann folgen!“ Er schloss die Augen. Mehr Tränen quollen unter seinen Lidern hervor. „Schämst du dich für mich?“ Seine Stirn sank nieder. Er verbeugte sich vor all den Toten. Dann füllte er eine Hand mit Asche getränkten Wüstensand. Langsam ließ er ihn auf die Stirn rieseln.
Seine Lippen waren brüchig. Die Sonne schien alles Wasser aus ihnen heraus gesogen zu haben. Sie hatte ihm auch die Tränen genommen. Er stand auf. Vor ihm lag ein Feld mit Scherben. Schon lange wurden die Toten hier heruntergeworfen. Seine Mutter musste hier auch sein. Er hatte nie die Möglichkeit gehabt sie kennen zu lernen. Trotzdem glaubte er sich an ihr Gesicht erinnern zu können. Er sah sie vor sich, wie sein Vater von ihr erzählt hatte. Hatte sie nicht an seinem Bett gesessen? Manchmal hatte er sich das eingebildet. Aber sie konnte es gar nicht gewesen sein. Vielleicht war es diese andere Frau, die Mutter seiner Geschwister. „Wann wird Mutter wieder kommen?“ Vasa Rem lächelte. Das hatte er früher seinen Vater gefragt. Der hatte dann gelächelt. „Wenn die Vögel auf den Grabfeld aufsteigen und sie uns wieder bringen!“ Er hörte die Stimme noch, als hätte er es gestern gesagt. Vasa Rem streckte seine Hände aus. Seine Handflächen waren an einander gepresst. Er atmete tief durch. Dann dachte er an Goschas Wärme, die ihn durchflutete, wenn sie sich ganz fest an ihn drückte, an ihren kleinen Bauch, wo sein Kind heran wuchs. Seine Fingerspitzen prickelten. „Aber hier in der Wüste gibt es keine Vögel!“, hatte er seinen Vater damals geantwortet. Seine Augen brannten, doch er hatte keine Tränen mehr übrig. „Jetzt noch nicht!“
„Selbst wenn dein Gesicht schon vergessen ist, klingen deine Worte in meinem Kopf. So möchte ich dich in Erinnerung behalten, Vater!“ Seine Hände lösten sich langsam von einander. Ein erster Vogel zwängte sich in die Freiheit. Dann kam ein nächster. „Aber ich bin nicht mit leeren Händen gekommen. Ich habe etwas mitgebracht, das vielleicht wertvoller ist, als eine Ausbildung.“ Je weiter seine Hände sich öffneten, desto mehr Vögel kamen zwischen ihnen hervor. „Ich habe eine Frau und ich liebe sie. Sie trägt ein Kind in ihrem Bauch. Deinen Erben! Siehst du unsere Liebe? Kannst du sie segnen? Es würde mir so viel bedeuten.“ Ein ganzer Schwarm Krähen erhob sich in den Himmel, wie eine schwarze Wolke. „Tragt ihn in den Himmel!“, flüsterte Vasa Rem, bevor ihm selbst schwarz vor die Augen wurde.
Etwas Feuchtes berührte sein Gesicht. Verstört öffnete er die Augen und schloss sich gleich wieder. Er verzog ein wenig das Gesicht. Seine Hände tasteten nach Bals Schnauze und schoben sie weg. Wie lange hatte er hier gelegen? Er deutete Bal an sich zu drehen. Das Tier war gut erzogen, denn es hörte sogar auf seine Befehle. Dann ließ er Bal nieder knien. Seine Hände fingerten nach dem Wasserschlauch, der am Sattel befestigt war. Obwohl er sich wie ausgedörrt fühlte trank er nur wenige Schlucke, um den Schlauch danach wieder zurück zu hängen. An Bal gestützt stand er vorsichtig auf. Er blickte den rötlichen Felsen hoch. „Nicht jetzt! Irgendwann einmal. Meine Familie wartet. Ihr habt die Ewigkeit.“ Noch etwas wackelig stieg er in Bals Sattel. Das Malak erhob sich sogleich. Er kraulte es ein wenig hinter den Ohren. „Komm, wir gehen nach Hause!“ Bal blökte und setzte sich langsam in Bewegung. Noch einmal warf Vasa Rem einen Blick zurück. Diesmal lächelte er.


© lerche


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