Sie winkte verschwörerisch ihren Mittätern zu. Dann lief sie los. Die Wache hatte ihnen gerade den Rücken zugewandt. Sie stolperte. Kurz glaubte sie zu fallen. Dann war sie endlich an der Wand. Sie presste ihren Rücken an das kalte Gemäuer. Lun warf sich neben sie. Das kurze Stück hatte sie auch erschöpft. Sie glaubte ihr Herz hämmern zu hören. Doch nach ein paar Augenblicken merkte sie, dass es ihr eigenes war. Dann atmete sie durch. Langsam schob sie sich vorwärts. Ihr Blick fiel wieder auf die Wache. Sie kam jetzt auf sie zu und beobachtete genau die Stelle, wo sie sich vorher versteckt hatten. Lun hatte Tage damit verbracht die Wachen heimlich zu beobachten. Es war ihnen nicht klar, ob sie unbewusst oder bewusst immer demselben Muster folgten. Sie mussten ein paar Minuten warten. Doch sie kam nicht mehr richtig zu Atem. Es machte sie zu nervös. Dann war der Zeitpunkt gekommen. Sie hob die Hand. Wie Trommelschläge hörte sie die Schritte auf der Mauer. Die Wache musste sie einfach hören. Jeden Moment würde sie sich umdrehen. Dann war alles aus! Sie würden wieder von Vorne anfangen müssen.
Jemas Me lag fast auf ihr drauf. Er presste sie beide gegen die Mauer. Sie unterdrückten den Impuls ihn weg zu schuppsen. Das Versteck war nun mal nicht größer. Es hatte genau Platz für zwei und sie waren nun Mal zu dritt. Lun begann zu zählen. Plötzlich wurde ihr wieder bewusst, dass sie noch lang nicht bei ihrem Ziel waren. Lun rückte ein Stück weiter. Ihre Hand streckte sich schon nach dem nächsten Etappenziel aus. Dann rutschte sie weiter. Langsam löste sich Jemas Me von ihr. „Wohin des Weges, junge Dame?“ Sie schluckte heftig. Ihr Herz hatte kurz einen Aussetzer gemacht und schlug jetzt doppelt so heftig. „Du hast in diesem Turm nichts verloren.“ Jemas Me drückte sie so stark gegen die Wand, dass sie kurz glaubte, ihr Kreuz müsste brechen. Seine Hände zitterten, als er versuchte sich an sie zu klammern. Ihr wurde kurz übel. Jemas Me umklammerte ihre Handgelenke. „Hör auf“, zischte sie und schüttelte ihren Arm ein wenig. „Ich glaube, ich muss mit dir einmal ein ernstes Wörtchen reden. Komm mit in die Wachkammer! Der Turm ist gefährlich.“
Die Spiraltreppe war leer. Die Wache war mit Lun an ihnen vorbeigegangen, so als wäre nichts gewesen. Sie hatte sich in diesem Moment unsichtbar gewünscht. Das war ihr einziger Gedanke gewesen. Jetzt wunderte sie sich umso mehr. Er hätte sie doch sicher sehen müssen. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Doch das war im Endeffekt jetzt egal. Jemas Me war an der Falltür angelangt. Sie war dicht hinter ihm. Seine Finger schoben sich unter das Holz und hoben es kaum merkbar an. Durch den dünnen Spalt versuchte er etwas von draußen zu erkennen. „Und?“, bohrte sie nach voller Ungeduld. Staub rieselte aus dem dünnen Spalt. Er winkte sie mit der Hand weg, so als vertreibe er eine lästige Fliege. Dann hob er das Holz noch etwas höher. Schließlich passte seine ganze Hand hindurch. Er schüttelte den Kopf. Sie hielt den Atem an. Er hob die Falltür so weit, dass sein Kopf und der Rest des Körpers durch passte. Lun hatte Recht gehabt. Zu dieser Tageszeit befand sie niemand in der Turmkammer. Als nur noch Jemas Me Beine zu sehen waren, tasteten ihre Hände nach dem Holz. Er schlüpfte endgültig hindurch und sie folgte ihm, immer bedacht kein Geräusch zu machen. Dann waren sie endlich oben und in Sicherheit. Sie sog die staubige Luft durch ihre Nase ein und musste Husten. „Wow! Ich hätte nicht gedacht, dass wir das schaffen!“ Sie blickte Jemas Me böse an. Doch dann schluckte sie die bissige Antwort hinunter. Er konnte schließlich genauso wenig etwas dafür, dass sie Lun aufgegriffen hatten. Es war ihr eigener Fehler gewesen. Trotzdem wäre ihr für einen Moment lieber gewesen, die Wache hätte Jemas Me mitgenommen. Jetzt legte Jemas Me eine Hand auf ihre Schulter. „Wenn wir das einmal geschaft haben, dann schaffen wir das öfter. Das nächste Mal kommt Lun auch mit!“ Sie nickte stumpf.
Der Blick hinunter raubte ihr fast den Atem. Der Wachposten war der höchste Punkt in der Stadt. Er stammte aus der Zeit, als die Stadt gegründet worden war. Doch der viele Staub um sie herum verriet, dass er gar nicht mehr benutzt wurde. Unter ihr ging es Meterweit hinunter. Sie zuckte zurück und schnappte nach Luft. Zuerst wurde ihr schwindlig. Sie grub kurz ihr Gesicht in ihre Hände und begann langsam zu zählen. „He, Da Melan! Komm her! Seh dir das an!“ Unwillig lief sie zum anderen Ende des kleinen Raumes, wo sich Jemas Me für ihren Geschmack etwas zu stark nach außen lehnte. Seine Hand deutete weit hinaus in die Wüste. Sie stemmte sich auch auf die Brüstung hinauf. Vor ihr lag Kilometer weit der Sand, der in der Sonnenhitze flirrte. Gerade hinausschauen war nicht so schlimm. Ihr Blick folgte Jemas Mes Fingerspitze. Sie erspähte die Ameisen im Sand. „Eine Karawane“, murmelte sie überrascht. „Das ist die erste Karawane, die Chema erreicht seit Jahren!“ Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie schon jemals soetwas erlebt hatte. Jemas Me nickte. „Und wir waren die ersten, die sie gesehen haben!“

Kiras blickte auf die kleine wartende Menge, die sich auf dem Platz hinter dem Stadttor versammelt hatte. In ihrer Mitte stand Mira. Sie lächelte glücklich über die vereinte Familie. Mikulas lief auf sie zu und umarmte sie als erste. Dann blickten sich die zwei Frauen vorwurfsvoll an. Doch jede war zu froh über das Wiedersehen, um der anderen Vorwürfe zu machen. Jetzt trat auch Chesem Ba vor, um sich umarmen zu lassen. Selbst wenn er seine Gefühle nicht so offen zeigte, wusste Kiras, dass auch er froh war wieder zuhause angekommen zu sein und alles beim Alten vorgefunden zu haben. Er hatte Kiras einmal erzählt, dass für ihn wohl das Schlimmste wäre, wenn er in die Wüste reiten würde und die rote Stadt nicht mehr an ihrem angestammten Ort wäre. Sie war wohl das einzige Fixe in Chesem Bas Nomadendasein. Schließlich war es an Vasa Rem in seine Familie aufgenommen zu werden. Doch sowohl Mira als auch Sine blickten ihn ausdruckslos an. Vasa Rem nickte nur leicht. „Ich war wohl zu lange in der Kaiserstadt!“, murmelte er nach minutenlangem Schweigen. Plötzlich trat Sine vor und umarmte auch ihn. „So ein Blödsinn! Du bist unser Bruder, egal wie lange wir dich jetzt nicht mehr gesehen haben!“ Dann lächelte auch Mira. Das Eis war gebrochen. Sie nahm Vasa Rem genauso herzlich in Empfang, wie die anderen zuvor. Schließlich umarmten die beiden auch Goscha und dann ihn. Selbst Maska blieb nicht länger in der Ecke stehen. „Wir müssen dir alles erzählen“, begann Mikulas. Mira lachte leise. „Zuerst wird gebadet. Ihr stinkt!“ Sine nickte zustimmend. Noch mehr von diesen Sätzen erfüllten die Luft. Nach all dem Krieg und Misstrauen, die in der Kaiserstadt und den östlichen Provinzen geherrscht hatten, war das ein schöner Anblick. Und ein klein wenig fühlte sich Kiras jetzt auch zu Hause.
Kiras Aufmerksamkeit driftete schnell ab. Er holte tief Luft. Jemand fehlte in dieser ganzen Glückseeligkeit. Er wusste auch, wo sie sein musste. Heimlich stahl er sich an der Menge, die auch schon langsam im Aufbruch begriffen war, vorbei. Nur Maskas Blick traf ihn, doch sie sagte nichts. Sie musste wissen, was er jetzt vorhatte. Sie hatte ihn sicherlich schon längst durchschaut. Wahrscheinlich war es eine Illusion zu glauben, dass noch irgendwem seine Zuneigung zu K’vara verborgen geblieben war außer K’vara selbst vielleicht. Sein Herz schlug so heftig, wie schon lange nicht mehr und er hatte plötzlich Angst. Was war, wenn er kein Wort herausbrachte? Daran wollte er jetzt nicht denken. Er wollte gar nicht denken. Das war vielleicht das Beste.
Sie blickte von ihren Büchern hoch, sobald sie seine Schritte bemerkte. Er registrierte, dass sie die einzige in der Bibliothek war. Es war inzwischen schon später Nachmittag. Die Sonne würde bald untergehen. Die Gelehrten waren nach Hause zu ihren Familien gegangen. Aber K’vara hatte hier keine Familie. In K’varas Gesicht war Verwirrung zu sehen. „Wann bist…“ Sie unterbrach sich und hielt die Hand an die Nase. „Du hast dich noch nicht gewaschen!“, bemerkte sie trocken. Er nickte ernst. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Kein Laut wollte über seine Lippen. Er räusperte sich. „Sonst fällt dir nichts ein?“ Sie schüttelte den Kopf. Ihre Hand langte nach dem Lesezeichen. Dann schob sie es an die Stelle, wo die Finger ihrer zweiten Hand verblieben waren. „Du stinkst wirklich“, meinte sie. Fast spürte er Wut. Doch dann musste er lächeln. Was hatte er denn erwartet? „Ich liebe dich, K’vara“, murmelte er. Im ersten Moment blinzelte sie irritiert. Dann konnte er zusehen, wie sich ihre Augen weiteten. "Wie bitte?" Sie hatte ihn genau verstanden, obwohl er nicht laut gesprochen hatte. Jetzt, wo der erste Satz herausen war, drangen die Worte nur so über seine Lippen. „Ich weiß, dass ich für dich… für dich nicht so wichtig bin. Für dich zählen die Bücher, das Wissen. Doch vielleicht… vielleicht… wenn du… Du weißt, wo du mich finden kannst!“ Er nickte leicht. Inzwischen hatte sich auch K’varas Mund geöffnet. Mit einem Klacken ging er wieder zu. „Ich werde auf jeden Fall nicht so schnell aufhören dich zu lieben.“ Er trat einen Schritt zurück. „Ich weiß, es ist Blödsinn! Aber ich wollte es dir nur sagen! Man weiß ja nie…“ Er drehte sich um, wollte nicht wissen, wie sie darauf reagierte. Das war ihm gar nicht wichtig. Er hatte es einfach nur sagen müssen, egal wie dumm seine Worte klingen mussten. Zu lange war das schon auf seinem Herzen, zu lange suchte es seine Träume heim. Eine furchtbare Angst erfüllte ihn, dass K’vara mit nur einer Hand voll Wörtern diese Träume vernichten konnte.
Langsam verschwand er in dem langen Gang der Bibliothek, der um den runden Lesesaal führte. „Kiras!“ Er drehte sich am Absatz um. K’varas Kopf schaute aus der Türöffnung. Sein Herz klopfte jetzt wie wild und die Hände zitterten ein wenig. „Wie… wie kannst du mir so etwas sagen?“ Er zuckte mit den Schultern. Die genauen Worte hatte er inzwischen schon wieder vergessen. „Wie kannst du… was erwartest du von mir?“ Kurz sah er sie in seine Arme laufen. Doch das war nicht K’vara. Das wäre zu einfach gewesen. Er lächelte matt. „Gar nichts. Ich gehe mich jetzt besser waschen!“
Den ganzen Weg durch die Bibliothek und dann weiter zu dem Haus seiner Schwester erwartete er, dass sie kommen würde. Er klammerte sich wie wild an diese Vorstellung. In seinem Geist hörte er hundertfach ihre Füße über den Sand laufen. Doch spätestens, als er die Eingangstür aufstieß, wusste er, dass es vergebens gewesen war. Das wäre ja auch zu einfach gewesen. K’vara war nun mal nicht so einfach zu erobern. Das war in Ordnung. Im Grunde wollte er das gar nicht anders. In wenigen Stunden beim Abendessen war vielleicht alles wieder so wie früher, falls es ein Früher jemals wieder geben sollte. Jetzt dämmerte es ihn. Was hatte er nur angerichtet?

Es klopfte am Türstock. Goscha erschrak. Trotzdem stand sie vom Bett auf. Vorsichtig schob sie den Vorhang zur Seite. Ein Frauengesicht lächelte sie an. „Darf ich reinkommen?“ Sie nickte schwach. Sie konnte sich noch dumpf erinnern, dass diese Frau Mira war. Es war so viel Neues in dieser Stadt, das sie froh war, zumindest den einen oder anderen Namen behalten zu haben. „Vasa Rem ist sich noch waschen!“, meinte sie entschuldigend. Sicher war Mira wegen ihm gekommen. Schließlich war er ihr Bruder. Das war alles so verwirrend und sie fühlte sich so unbedeutend. Sie hatte sich gerade erst an diesen Gedanken gewöhnt. Eigentlich hatte sie immer geglaubt, Vasa Rem hätte keine Familie, so wie sie. Sie hatte gedacht, dass sie nur sich gegenseitig hatten und sonst niemanden. Die Situation jetzt machte ihr Angst. Mira setzte sich wie automatisch auf einen der Hocker. Ihr Blick glitt fast prüfend über sie. „Dein Gesicht ist… ungewöhnlich!“ Goschas Kopf senkte sich automatisch. Sie ließ sich auf das Bett sinken. Mira stand in dem Moment wieder auf. „Tut mir leid! Das muss so wirken, als wäre ich gekommen, nur um dich zu beschauen. Das will ich aber nicht!“ Sie verstummte, schien nach Worten zu suchen. „Es ist mir egal, dass du die Freundin meines… Bruders bist. Ich meine… er kann sich doch das aussuchen, wie er will!“ Sie sank wieder auf den Hocker. Goscha nickte leicht. Mira versuchte verzweifelt zu lächeln. „Ich meine, ich denke von ihm nicht so richtig als mein Bruder. Er war schließlich so lange weg!“ Jetzt fuhr Miras Hand zu einer Haarsträhne und sank dann schnell wieder zu der anderen in den Schoß. „Ich will dich nur näher kennenlernen. Ich dachte, wenn wir später gemeinsam zu Abendessen, werden so viele Leute da sein, das wir sicher nicht mit einander reden können.“ Goscha nickte leicht. Sie streckte ihre Hand über die Bettdecke. Sin erkannte das Zeichen. Er hüpfte von der Truhe, die er gerade inspiziert hatte, auf das Bett. Miras Augen verfolgten ihn, doch sie sagte nichts. Goscha wusste nicht, was sie mit der Frau anfangen sollte. Sie war so seltsam, wie all die anderen hier. „Irgendwie habe ich in letzter Zeit nicht mehr so viele private Momente, zumindest nicht so viele, wie ich gerne gehabt hätte!“ Das Lächeln verschwand langsam. „Seit mein Vater, unser Vater, Chem Bassa, tot ist, ist alles so anders. Ich habe das Gefühl in Papierakten zu versinken. Dabei ist Chema doch nur so eine kleine Stadt. Wie muss das erst sein, wenn man ein ganzes Land regiert?“ Goschas Stirn runzelte sich. Von was redete Mira da eigentlich. „Du… du regierst die Stadt?“ Mira bekam einen verlegenen Gesichtsausdruck. „Hat dir das Vasa Rem nicht erzählt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Er hatte einen Eid geschworen nichts über die Stadt zu erzählen. Chem Bassa wollte nicht, dass er geht. Damals waren die Grenzen noch zu. Nur Ausgewählte durften die Wüste überqueren. Doch mit Vasa Rem war das Eis gebrochen.“ Goscha hörte mit großer Verwunderung, was Mira zu erzählen hatte. Chema war so eine ganz andere Welt. Ob das jetzt gut oder schlecht war, konnte sie noch nicht entscheiden. „Ich rede nur von mir!“, bemerkte Mira. „Woher kommst du?“ Goscha biss sich auf die Lippen. „Aus dem Krieg!“
Der Vorhang raschelte. Beide Frauen blickten auf. Eine Duftwolke schritt Vasa Rem voran. Seine dunklen Haare hingen ihm feucht ins Gesicht. Er merkte sofort, dass Goscha nicht alleine war. Mit wenigen Schritten eilte er durch die Tür und küsste Goschas Stirn. Mira sprang gleichzeitig auf. „Ich lass euch wohl jetzt lieber allein?“ Goscha griff nach Vasa Rems Hand. Sie gab ihr ein wenig Sicherheit. „Wenn du willst, kann ich mir morgen ein wenig frei nehmen und dann können wir den alten Baum ansehen. Obwohl, Vasa Rem kann das sicher genauso gut!“ Sie nickte ihnen zu. Dann drehte sie sich zu dem Vorhang um und wollte gehen. „Mira!“ Sie wandte sich noch mal um. „Ich habe an euch gedacht in all den Jahren. Vor allem auch an dich und die Zwillinge. Mikulas war ja noch so klein damals. Ich habe euch alle nie vergessen. Und ich habe an Vater gedacht. Ich hätte ihn gerne noch einmal gesehen. Ich hätte ihm gern das Diplom gezeigt!“ Mira nickte nur. „Vielleicht solltest du zum Gedächtnisfelsen reiten. Seine Asche liegt vielleicht noch in der Luft!“

K’vara stocherte in ihrem Essen herum. Sie kaute ein wenig an ihrem Brot doch mehr aus Höflichkeit, als aus Appetit. Dabei wäre sie ja durchaus hungrig. Irgendwie verstand sie das alles nicht. Wie hatte Kiras das heute zu ihr sagen können? Vorher war alles so einfach und unkompliziert gewesen. Doch sobald Gefühle ins Spiel kamen, war nichts mehr einfach. Sie wollte klare Fakten. Woher sollte sie wissen, ob sie ihn liebte? Er war wie ihr Bruder. Geschwister liebte man doch? Aber man liebte die Geschwister anders als die Geliebten. So war das doch? In ihren Büchern stand nichts darüber. Da ging es um Fakten, Sachen, die leicht greifbar waren. Sie kam sich so dumm vor. Sorgfältig riss sie wieder ein Stück von dem Brot ab. Dann begann sie es mit den Fingern zu kneten. Sie merkte einen Ellbogenhieb von rechts. Verwirrt blickte sie auf. „Du fällst auf!“, murmelte Mikulas. K’vara starrte auf ihr Brotstück, so als hätte sie noch nie zuvor so etwas gesehen. „Was ist nur los? Du schaust aus, als wärst du unglücklich verliebt!“ K’vara starrte auf Mikulas. Dann bekam sie plötzlich einen hysterischen Lachkrampf. Abrupt stoppte sie. Jetzt waren wirklich fast alle Blicke auf sie gerichtet. Sie schluckte einmal kräftig. Dann stand sie ruckartig auf. „Es ist wohl besser, ich gehe jetzt. Ich möchte noch etwas nachschauen!“, murmelte sie zu Mikulas. Sie hoffte, dass ihr Verhalten wie ihre übliche Seltsamkeit wirkte.
Die kalte Nachtluft blies ihr ins Gesicht. Sie lehnte sich gegen die Mauer. Die Wüste war flach und dunkel vor ihr. Lichter konnte man von hier aus Meilenweit sehen. Manche hatten sogar behauptet, dass man von hier aus am Horizont die Lichter der Oasen schimmern sehen konnte. K’vara wusste, dass das Blödsinn war. Sie hatte die Himmelsrichtungen und die Karten studiert. Zwischen hier und den Oasen lagen ein paar sanfte Hügeln, die man kaum bemerkte, wenn man darüber ritt. Doch sie versperrten einem die Sicht. Der Ärger über solche naiven Aussagen verflog schnell wieder. Dafür kamen Kiras Worte wieder in ihren Sinn. Vielleicht würde sie sich leichter tun, wenn sie das Wort Liebe besser analysieren könnte. Was bedeutete das Wort Liebe? Gleichzeitig wusste sie, dass das so nicht funktionieren konnte. Woher wusste Kiras überhaupt, dass er sie liebte? Wie konnte er nur so etwas behaupten?
Sie hörte Schritte herankommen. Für einen Moment glaubte sie, dass es eine Wache war. Doch die hatten immer Fackeln bei sich. Die Gestalt blieb im Dunklen. K’vara erahnte einen Schatten, der sich zur Wüste drehte. Sie kroch die Mauer wieder hinauf. Dabei musste sie ein Geräusch gemacht haben, denn der Schatten wurde auf sie aufmerksam. „Tut mir leid. Ich wollte nicht stören!“, murmelte er. K’vara schüttelte den Kopf. Sie erkannte die Stimme sofort wieder. Die Frau hatte einen seltsamen Akzent. K’vara hatte so einen noch nie gehört, obwohl Händler aus den verschiedensten Gebieten des Kaiserreichs bei ihrem Vater Station gemacht hatten. „Bin selbst schuld! Ich hätte mir ein besseres Versteck suchen können!“ Ihre Hände tasteten nach dem Mauerrand. Sie drückte sich hoch und rutschte auf die Ziegel. Jetzt beobachtete sie den Schatten. Eine kleine Gestalt löste sich und hüpfte auf die Mauer. Das affenartige Wesen war K’vara schon einmal aufgefallen. Sie streckte die Hand aus. „Wer bist du denn?“ Die Frau drehte sich zu ihr. „Das ist Sin! Er ist ein Misch!“ K’vara hatte von diesen Wesen gelesen. „Du kommst aus dem Osten, oder? Bist du eine Akari?“ Die Frau schüttelte den Kopf. Der Misch sprang auf ihre Schulter. „Ich bin nur eine Bauerntochter. Mehr nicht! Inzwischen nichteinmal mehr das.“ K’vara legte den Kopf schief. Das ging ihr nicht ein. „Aber, wieso ist dann der Misch bei dir?“ Konnte sie die Frau lächeln sehen? Irgendwie war sie seltsam. Doch gleichzeitig weckte sie K’varas Neugierde. „Ich weiß nicht! Er hat es einfach so beschlossen. Wer weiß schon, was in diesen Wesen vorgeht.“ Ihre Hand fuhr zu dem langen Fell und ihre Finger vergruben sich darin. „Wieso bist du hier? Du stammst auch nicht aus der roten Stadt.“ K’vara zuckte mit den Schultern. War es nicht auch Neugierde gewesen? Sie hatte wissen wollen, was Chesem Ba mit Maska vorhatte. Aber war das immer noch so gewesen, als Kiras aufgetaucht war? Er hatte ihr angeboten alles wieder ins Recht zu bringen. Er hätte sie auch in die Kaiserstadt mitgenommen. Sie wollte doch einmal die ganze Welt sehen. Sie hätte die Möglichkeit gehabt. Doch jetzt steckte sie in dieser Stadt in der Wüste fest und verkroch sich hinter den Büchern, anstatt sich der Welt zu stellen. War sie feige? „Kiras hat mich hergebracht. Das ist alles sehr kompliziert!“ Die Frau lächelte einnehmend. „Erzähl es mir! Ich will nicht wieder zurück in den Festsaal! Dort sind so viele fremde Leute.“ K’vara rutschte von den Steinen hinunter und schüttelte den Kopf. „Nein, das kann ich jetzt nicht!“ Goscha nickte nur. „Tut mir leid! Ich hätte nicht danach fragen sollen!“ Sie stieß sich ab. Dann lächelte sie schwach. „Ich sollte lieber zurückgehen, sonst macht sich Vasa Rem Sorgen!“ Sie machte kehrt und ging die Mauer entlang in Richtung der Wachen. K’vara schluckte leicht. Wie war es, wenn man sich um jemanden Sorgen machen konnte? Wollte sie das? Sie wollte doch vor allem frei sein. Hier in Chema war sie frei, aber nur hier. „Entschuldigung!“ Die Frau drehte sich um. K’vara schluckte. Doch ihre Neugierde siegte. Sie wollte es jetzt wissen. „Wie fühlt es sich an verliebt zu sein?“ Die Frau zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht! Ich kann das nicht beschreiben. Man spürt das einfach. Es ist schön! Ein schönes Gefühl!“ Der Misch sprang von ihrer Schulter. K’vara presste verärgert die Lippen zusammen. Sie ließ sich wieder gegen die Mauer sinken. Das hatte sie gar nicht weitergebracht.


© lerche


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