Sie konnte den Einbruch der Nacht gar nicht erwarten. Sobald die Sonne versunken wäre, würde sie sich auf den Weg zu der alten verlassenen Villa am Ende der Straße machen. Sie hatte ihren Rucksack gepackt und als es still wurde im Haus schlich sie sich hinaus auf die spätherbstliche Straße. Kaum noch Bäume trugen buntes Laub, die meisten waren kahl gefegt. Sie ging in den Schatten, um nicht gesehen zu werden, dachte dabei an die Bücher, die sie zuletzt gelesen hatte. Die von dem verhüllten Geheimnis erzählten, welches sich dort in der Bücherei der alten Villa verbarg. Ein Geschenk, das jeder begehrte, ein sagenumwobener Schatz; sie wollte das Geheimnis kennen, das Geschenk besitzen, sie musste, was immer auch es sein mochte. Gold? Unsterblichkeit? Weisheit? Sie lief schneller, ein kühler Wind jagte sie.

Das Anwesen wurde von einem eisernen Zaun geschützt, dessen lange kalte Finger weit in den endlosen Himmel ragten. Es gab ein Loch im Zaun und sie wusste wo es zu finden war.
Der Vorgarten war überwuchert mit totem braunem Gras. Sie entdeckte ein paar alte verwitterte Grabsteine, ein nackter, sich verrenkender Baum daneben. Seine Äste klapperten im Wind wie Knochen, schaurig schön. Sie sprang leichtfüßig die hohen Marmorstufen der Eingangstreppe hinauf. Die doppelflüglige Haustür war aus altem Eichenholz, knarrte widerwillig als sie sie aufschob.
Grabeskälte schlug ihr mit der schalen Dunkelheit im Inneren entgegen. Sie stand in einem weiten Flur, wie ein Schachbrett gemustert, an den Wänden alte Kerzenhalter. Sie vergaß sich völlig, während sie leise erhaben das Haus durchschritt. Es war prachtvoll eingerichtet, Möbel aus altem Holz, schwere samt-rote Vorhänge vor den hohen Fenstern. In der Villa herrschte eine tiefe friedliche Stille, nur das beständig leise Klappern der Haustür drang dumpf in das Labyrinth aus Räumen und Fluren ein. Sie hatte sich längst verloren, irgendwo tief im Inneren der Villa, trotzdem ging sie unbeschwert weiter, auf der Suche nach der Bücherei, in der sich das Geheimnis verbarg, welches sie entdecken wollte. Sie betrat den nächsten Raum. Es war wärmer als im Rest des Hauses, sogar angenehm warm. Als sie sich umsah entdeckte sie einen großen steinernen Kamin, zwei graue leblose Steinfiguren davor. Innen flackerte, orange und familiär, ein schönes Feuerchen. In der Nähe hatten ein gemütliches Sofa und ein einladender Ohrensessel platz. Sie lief auf die offenstehende Flügeltür zu. Schon von weitem sah sie die hohen Regale, die bis an die Decke des runden Raums reichten und voller prachtvoller alter Bücher standen. Dort war es, das Geheimnis, lag direkt vor ihren Füßen. Sie musste nur noch die Hand ausstrecken und es pflücken. Da huschte ein Schatten durch die Reihen aus Regalen. Sie erstarrte, hörte ein leises Knistern, das immer deutlicher wurde. Dann sah sie es: Zwischen den Regalen flackerten Flammen, loderten in die Höhe, züngelten zur Seite und verschlangen todeshungrig die tausend Bücher vor ihren Augen, verspeisten das Jahrhundert lang gehütete Geheimnis. Und in Mitten der tanzenden Flammen stand eine gesichtslose dunkle Gestalt, ging unter mit dem für immer verlorenen Geheimnis.
Sie saß zuhause vor dem Kamin, rieb sich die Augen und fragte sich, was das Geheimnis war. Zwei groteske Figuren starrten sie aus steinernen Augen an.


© GirlLulu


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