Er kam sich irgendwie verloren vor in diesem sterilen Raum. Der Geruch von Antiseptikum stieg ihm in die Nase und juckte dort schon eine ganze Weile. An das Jucken hatte er sich gewöhnt. Er war so oft hier. „Ich brauche nur noch eine Blutprobe“, meinte die freundlich lächelnde Krankenschwester. Sie war noch jung, hatte ihre Ausbildung erst vor kurzem abgeschlossen. Sie hatte diesen Job nur wegen ihrer Beziehungen bekommen. Die Stelle war gut bezahlt und sie brauchte das Geld. Das alles hatte er natürlich nicht von ihr persönlich erfahren. Aber man schnappte so einiges auf und er hatte sich zur Gewohnheit gemacht so viel wie möglich von den Bediensteten hier zu erfahren. Und auch von den Patienten. Sie suchte seinen zerstochenen Arm ab. Seine Venen zu finden war nicht einfach und die Schwester hatte wahrscheinlich nicht viel Erfahrung. „Soll ich das machen?“ Sie starrte. „Aber… ich glaube nicht, dass…“ Er lächelte sie sanft an. „Wir haben alle ein medizinisches Grundtraining hinter uns. Und es bleibt zwischen uns.“ Unsicher händigte sie ihm die Nadel aus. Schwester Anna, die schon von Beginn an hier arbeitete, ließ ihn die Blutabnahme auch immer selbst machen. Mit ihr hatte er eine Vertrauensbeziehung herstellen können. Mit den Ärzten ging das nicht. Sie waren meistens zu steif. Er starrte wie das Blut durch den dünnen Schlauch in das Auffanggefäß lief und es langsam anfüllte. „Doktor Gebhard wird mit Ihnen dann die Testergebnisse durchgehen.“ Er nickte nur. Dann schloss er die Augen, versuchte harmlos zu wirken. Der Untersuchungstag war zu einer zweiwöchentlichen Routine geworden. Aber diesmal hatten sie scheinbar etwas entdeckt. Denn man hatte ihn zusätzlich in die Röhre gesteckt. Das verunsicherte ihn. Das gehörte nicht zum Schema. „Machen sie es sich bequem. Doktor Gebhard wird gleich bei Ihnen sein.“ Bequem? Sollte er sich auf der harten Untersuchungsliege ausstrecken? Vielleicht kurz schlafen, bevor die Ärztin kam? Er würde nicht in die Verlegenheit kommen. Er hörte bereits die Stöckelschuhe der Ärztin auf dem Linoleumboden klappern. Selbst wenn es kein normaler Mensch wahrnehmen hatte können, er hörte es trotzdem. Also zog er nur die Füße an zu einem Schneidersitz und verknotete die Beine. Die Krankenschwester warf kurz einen schockierten Blick auf ihn. Sie hatte wohl während der Untersuchung völlig darauf vergessen, dass sie es nicht mit einem normalen Menschen zu tun hatte. Er war ein Mutant.

Als er noch klein war, im Internat, hatten sich alle seine Mitschüler darüber definiert, welche Eltern sie hatten. Sie hatten sich über ihre Geschwister, die auch schon auf die Schule gegangen waren definiert, weil sie noch zu klein waren, um selbst etwas geleistet zu haben. Er hatte keine Eltern oder wusste nichts von ihnen. Er hatte auch keine Geschwister. Obwohl es eigentlich das Geheimnis der Schulleitung war, wusste trotzdem jeder, wer er war oder besser gesagt, was er war. Er war ein Mutant. Er hatte einen genetischen Defekt. Dieser Defekt sorgte dafür, dass er Sachen konnte, die seine Mitschüler nicht konnten. Er hatte ein fotografisches Gedächtnis, brauchte jeden Buchstaben nur einmal zu sehen, um ihn perfekt nach zu zeichnen, merkte sich fast alles, was seine Lehrer und Lehrerinnen sagten Wort für Wort. Schnell begriff er, dass er nicht in der Schule war, um das zu lernen, was die anderen Kinder lernten. Er war dort um zu lernen, wie es sich anfühlte, der Ausgestoßene zu sein. Er war dort, um die Abgründe der Menschen kennen zu lernen. Er lernte. Er lernte schnell. Er lernte, dass niemand so brutal, so direkt war, wie Kinder. Und er begann schnell so zu fühlen, wie sie. Er begann sich selbst zu hassen.

Er hatte früh erfahren, dass es noch andere gab, andere so wie er. Er stellte sie sich oft vor: O-förmige Beine, weil die Knochen einfach nicht hart werden wollten; Verkrümmter Rücken, wie bei den alten Leuten; verschiedenlange Arme, alles was er auch hatte und noch viel mehr Hässlichkeiten. Er hatte der Schönste von den Mutanten sein wollen, der Normalste. Wenn er schon mit den normalen Menschen nicht mithalten konnte, wollte er es zumindest mit den Mutanten können. Aber er war nicht schön. Er war durch und durch hässlich. Die anderen sahen aus wie normale Menschen. Nur er nicht! Und seitdem er das begriffen hatte, rebellierte er in die andere Richtung.

Er schob seine fettigen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Die Ärztin lächelte ihn kurz professionell an. Dann schickte sie die Krankenschwester fort. Jetzt waren es nur noch sie beide. „Wir haben etwas gefunden“, erklärte sie. „Das war mir klar, als ihr mich in die Spinmaschine gesteckt habt.“ „Einige Blutwerte haben die Grenzwerte überschritten. Deswegen war die Tomographenuntersuchung notwendig“, fuhr sie unbeeindruckt fort, so als hätte sie die Sätze auswendig gelernt. Sie senkte ihr Tablett und deutete mit dem Stift auf mehrere Stellen dicht neben einander. „Wie man hier und hier…“ „Tut mir leid! Ich sehe nur Flimmern“, unterbrach er. Das brachte sie aus dem Konzept. Doktor Gebhard war erst ein halbes Jahr bei ihnen. Sie hatte scheinbar noch nicht gelernt, dass man Ausdrucke auf Papier mitbringen musste, wenn man ihm etwas zeigen wollte. Man konnte natürlich auch die Bildschirmauflösung entsprechend hoch stellen. Aber mit den kleinen Dingern war das nicht möglich. Vielleicht wollte sie es ihm auch nicht zeigen, sondern nur so tun als ob. „Ja, eh, … Dort sind auf jeden Fall dunkle Stellen zu sehen.“ „Ist es ein Geschwür?“ Es war nicht das erste, was man ihm heraus operieren musste. Trotzdem war das alles nicht angenehm. Er dachte flüchtig, an die Medikamente, die ihn ständig erbrechen ließen, oder an die zusätzlichen Untersuchungen. „Wann werde ich operiert?“ So wie er die Ärzte hier kannte, hatten sie schon einen perfekten Zeitplan zusammengestellt, eine endlose Reihe an Medikamenten vorbereitet für ihn: morgens, mittags abends, jeweils nur drei Pillen mehr. „Das Geschwür sitzt hinter dem rechten Schläfenknochen. Eine Operation in diesem Bereich ist quasi unmöglich.“ Er nickte. Sein Gehirn hatte bereits begriffen, was das bedeutete. Aber er fühlte absolut nichts dabei. „In den kommenden Wochen wirst du mit vermehrten Kopfschmerzen und…“ „Danke, ich denke, ich kann die wahrscheinlichen Symptome in meiner Akte nachlesen.“ Am Ende seiner Brustwirbelsäule begann sich ein Schmerz aus zu breiten. Er wusste, der Schmerz würde schnell anschwellen. Er wollte dieses Gespräch hinter sich bringen, bevor die Schmerzen unerträglich wurden. „Deine Medikamentation wird natürlich verändert und du bekommst Nahrungsergänzung.“ Er nickte. „Natürlich!“ „Zusätzlich werden die Kontrollen erhöht. Du bekommst einen persönlichen Betreuer. Soll ich direkt ein Gespräch mit ihm vereinbaren?“ Sein Mund verzog sich zu einem hässlichen Grinsen. „Nein, ich möchte alleine sein.“ „Ein persönliches Gespräch würde die Vorbereitung erleichtern.“ „Vorbereitung? Wozu brauch ich Vorbereitung? Ich habe mich mein ganzes Leben darauf vorbereitet“, erklärte er bitter. Er begann seine Beine zu entknoten. Er wollte hier raus. Er begann seine Kontrolle zu verlieren. „Wie lange noch?“ „Ein paar Monate noch! Drei, vielleicht vier! Wenn… wenn die Schmerzen zu stark werden, besteht die Möglichkeit bei Zustimmung deines Betreuers die Sache frühzeitig zu beenden.“ Die Sache? Was war das nur für eine Ärztin? Hatte man sie hier eingestellt, weil sie mit normalen Patienten nicht umgehen konnte? „Kann ich jetzt gehen?“ „Du solltest wirklich…“ „Kann ich jetzt gehen?“, unterbrach er heftig. „Ich werde ein Gespräch mit deinem Betreuer für morgen in der Früh ansetzen.“ Er schlüpfte bereits in seine Jacke. Ihn interessierte das alles gar nicht mehr. „Kann ich jetzt gehen?“, fragte er zum dritten Mal. Die Ärztin nickte. Im nächsten Moment war er bei der Tür. „Es tut mir leid!“ Es war wohl ein bisschen spät dafür.

Er wanderte durch die Gänge des Instituts zurück zu seinem Zimmer. Es war bereits Nachmittag. Seine Hände vergruben sich tief in die Taschen seiner Hose. Sein Rücken war gekrümmt. Er hatte sich kleiner gemacht. Er wollte sich am liebsten unsichtbar machen. Aber das war gar nicht nötig. Alles wirkte verlassen. Es erinnerte ihn an seine ersten Tage hier. Die erste Zeit war er völlig alleine hier gewesen. Das Institut war so aufgebaut, dass sie möglichst wenig Kontakt mit Menschen hatten. Da waren die Putzfrauen, die einmal in der Woche durch alle Räume fegten, möglichst wenn sie gerade irgendwelche Übungen absolvierten. Dann waren natürlich auch die Ärzte und psychologischen Betreuer. Aber beide hatten wohl den Auftrag möglichst Abstand zu bewahren. Die Sache? Das ging ihm noch immer nicht aus dem Kopf. Was waren sie für die Menschen? Waren sie wirklich nichts weiter als dreckige Mutanten? Waren sie Versuchsobjekte? Aus der ersten Generation, als man ihre Mutation entdeckt hatte, hatte es sieben bekannte Fälle gegeben. Aus ihrer Generation gab es fünf. Die nächste Generation bestand bereits aus zwölf. Und vielleicht würden noch mehr kommen. Woher kam der plötzliche Anstieg? Das war doch nicht normal. Er wunderte sich. Was waren sie wirklich für die Menschen da draußen?

Er kam beim Trainingsraum der Kleinen vorbei. Sheila und er, die längst gedientesten Mutanten, waren manchmal für ihre Ausbildung zuständig. Heute arbeiteten sie mit einem elektronischen Trainer. Er starrte gegen das Glasfenster. In Sekundenschnelle führten sie einen Befehl nach dem anderen aus, machten Turnübungen, Verrenkungen und andere Sachen. Kindersoldaten hatte Sheila sie im Spaß genannt und Roboter. Aber vielleicht lag sie gar nicht so falsch. Vielleicht war das ihr eigentlicher Zweck. Sheila hatte da ein Ding mit Namen. Kein einziger hatte Knochen so wie er. Und er wunderte sich.

Das Medus Projekt wurde vor dreißig Jahren ins Leben gerufen. Sein Zweck war es die Medus-Genkrankheit zu untersuchen und den Betroffenen zu helfen. Zusätzlich sollte es ihnen ermöglichen einen Aufgabe in der Gesellschaft zu übernehmen. Auf Grund ihrer abnormalen geistigen Aktivität und Reaktionsvermögen hatte man schnell einen Einsatz als Katastrophenhelfer gesehen. Von da an gehörte die Medusprobe bei jedem Neugeborenen zum Routinetest. Kinder mit Medus positiv wurden ausgegliedert, von ihren Familien getrennt, auf eigene Schulen geschickt und von Anfang an auf ihre Aufgabe vorbereitet. Schließlich hatte man nicht viel Zeit. Ihre Lebenserwartungen waren nicht sonderlich hoch. Er war fünfundzwanzig. Er sah nicht aus wie fünfundzwanzig mit seinen grauen Strähnen und der gekrümmten Haltung. Sein Herz arbeitete zu schnell. Seine Zellen wuchsen zu schnell. Irgendetwas hinter seiner Schläfe wucherte, wucherte rasant. Er fuhr zu seinen Schläfenknochen. Er konnte nichts spüren. Aber so etwas spürte man nicht. So etwas war einfach da. Ein paar Monate? Das war keine sehr lange Zeit. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Er würde sterben, hier in den Betonwänden. Er würde niemals mehr die Chance bekommen die Welt zu sehen. Er würde nie irgendetwas anderes kennen als dieses Leben, was ihm aufgezwungen worden war. Die Schmerzen in seinem Rückgrad wurden wieder prominenter, zogen sich jetzt rauf von den Lenden in den Brustbereich. Wie ein Spinnennetz umschlang er langsam seinen Oberkörper. Plötzlich konnte er den Anblick dieser Kinder nicht mehr ertragen. Diese Kinder trainierten, waren voller Hoffnungen und wenn sie über zwanzig waren, würde es ihnen so gehen wie ihm: verraten vom eigenen Körper.


© lerche


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