Kapitel 3 – Befreiung aus dem Kerker

© EINsamer wANDERER

Zwei Jahre nach Liams Tod.
»Stehen bleiben, im Namen des Stadthalters von Zurl!«, schrie eine der Wachen die dicht hinter Ginger waren.
Der Wind auf den Dächern pfiff ihr um die Ohren, während sie stoßweise atmete. Das Tuch, welches sie trug um ihr Gesicht vor den Wachen zu verbergen, machte das Atmen schwer, denn die durch den Mund eingeatmete Luft schmeckte verbraucht und unbrauchbar. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust und pumpte das Blut schon fast schmerzhaft durch ihren Körper, aber sie fühlte sich dadurch lebendig.
Sie fühlte sich während einer Flucht immer lebendig. Ihre schwarze Kleidung mit Mantel, einem Tuch vor dem Mund und einer Kapuze vermummte sie vollkommen. Auf den Rücken trug sie einen Sack voll mit gestohlenen Lebensmitteln für die hungrigen Elfen in ihrem Viertel. Nachdem der Sack zum Bersten gefüllt war, hatte sie die Wachen absichtlich mit der Alarmglocke kurz nach Mitternacht aus ihren Träumen aufgeschreckt. Dieser Part ihres Raubzuges hatte ihr am meisten Freude bereitet.
Es machte richtiger Spaß vor den unausgeschlafenen Wachen davonzulaufen. Auch wenn die wutschnaubenden Menschen nur wenige Meter von ihr entfernt waren, machte sie das Wettrennen noch spannender, indem sie den Abstand zwischen sich und ihren Verfolgern gering hielt, dafür aber waghalsigere Wege beschritt. So blieb die Diebin im Training.
Eine der Wachen schaffte den Sprung zum nächsten Dach nicht. Er schaffte es gerade noch sich an der Kante festzuhalten. Unter Stöhnen und mit den Beinen strampelnd versuchte sich der Mann mit aller Kraft hochzuziehen.
Ginger drehte sich um. Die anderen Menschen waren weiter hinten oder hatten sich unten in den Gassen verteilt, sollte die Elfe die Dächer der Stadt wieder verlassen.
So viel Zeit, muss sein, dachte Ginger sich. Sie schritt auf die Wache zu und trat ihr mit aller Kraft auf die Finger die sich in das Flachdach krallten. Schreiend ließ der Wachmann los und fiel in die Gasse. Dem federnden Geräusch des Falles nach, war er in einem Heuhaufen gelandet.
Mit einem enttäuschten Seufzen, rannte die Elfe weiter. Sie hatte doch so sehr gehofft, dass dieser Kerl sich das Genick brechen würde. Leider fehlte es ihr an Zeit um es zu Ende zu bringen. Ihre Verfolger holten schon fast auf.
Mit einem Ruck warf sie während ihres Laufs den schweren Sack mit Lebensmitteln in eine Gasse, wo er von drei kleinen Gestalten aufgefangen wurde. Schnell verschwanden sie wieder im Schatten, ohne die Aufmerksamkeit der Wachen zu erregen.
Ginger selbst rannte weiter und sprang vom Dach in einem Karren mit Heu, den sie selbst in weiser Voraussicht dort positioniert hatte.
Ein paar Wachen kamen schnaubend um die Ecke gerannt. »Wo … wo ist sie«, hechelte der eine wie ein erschöpfter Straßenköter.
Ginger grinste schelmisch. Diese Waschlappen konnten sich einfach nicht mir ihr messen.
Einen Moment lang herrschte eine beklemmende Stille, die nur vom Rufen der anderen Wachen gestört wurde. Ginger hörte, wie ihr eigenes Herz laut in der Brust schlug. Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht.
Haarscharf fuhr ein Schwert an ihrem spitzen Ohr vorbei. Die Wachen waren doch schlauer als gedacht und hatten ihr Versteck gefunden. Sie durch stocherten das Heu, um sie raus zutreiben.
Mit einem Sprung war sie auch wieder draußen und gab Fersengeld. Die Wachen waren ihr dicht hinter ihr. Sie glaubte sogar ihren Odem im Nacken zu spüren.
Einige andere Wachen kamen aus einer Nebengasse gerannt. Sie ließen drei laut bellende Hunde auf sie los.
Mist, dachte Ginger. Hunde waren fast so schlimm wie Menschen, nur dass sie klüger waren.
Zum Glück hatte sie noch Kraftreserven, auf die sie zurückgreifen konnte. Sie ließ ihre Schritte schneller und ausholender werden, was den Abstand zu ihren Verfolgern vergrößerte.
Ein plötzlicher Schmerz in ihrer Schulter brachte sie zu Fall. Mit einer Rolle schaffte es die Elfe gerade noch sich abzufangen. Ihr steckte ein Pfeil in der linken Schulter. Sie ließ ihn erst mal dort. Blutende Wunden konnte sie sich nicht leisten, sonst wäre sie leicht zu verfolgen.
Jetzt wurde es doch schwierig. Sie musste diese Verfolger unbedingt loswerden. Sie rannte in eine zwielichtige Gasse und drückte sich ganz fest an die steinerne Wand. Neben ihr leuchtete eine brennende Fackel, die ihr Versteck nur allzu leicht verraten konnte. Hochkonzentriert stierte die Elfe auf die Fackel. Doch sie ließ sich von den Blicken der Diebin nicht beirren.
Als Ginger wieder das Rufen ihrer Verfolger hörte, rannte sie fluchend weiter, aus Angst man könnte sie im Zwielicht finden. Sie sah vor sich zwei Kisten, die nebeneinander an der Wand standen und einen Balken. Sie nutzte die Kisten als Stufen und sprang von dort auf den Balken. Unter einigem Ächzen und Stöhnen hievte sie sich hoch. Von dort kletterte sie wieder zurück auf die Dächer von Zurl. Einen Moment lang brauchte sie, um sich zu orientieren. Im Osten war bereits die Morgendämmerung zu sehen. Bald würde es hell werden. Mit ihrer schwarzen Kleidung war Ginger dann viel zu auffällig.
Sie musste einen der Geheimgänge finden. In der ganzen Stadt waren leer stehende Häuser mit Geheimtüren ausgestattet worden, die ihr als Fluchtwege dienen konnten. Und gleich neben ihr, befand sich eines jener Gebäude. Sie ging schnellen Schrittes zum Rand des Daches. Eine Wache hatte gerade mit Mühe und Not das Dach erklommen, als sie sah, wie Ginger todesverachtend in die Tiefe schritt.
Einen Moment lang sauste der Wind an ihren spitzen Ohren vorbei und fuhr durch Kleidung wie Haar. Nach diesem kurzen Augenblick der schwebenden Leere, landete Ginger auf allen vieren. Mit einem kurzen Sprung stand sie vor der Tür. Das Vordach schützte sie vor den wütenden Blicken der erschöpften Wachleute. Unruhig fuhren ihre behandschuhten Hände an der Wand entlang. Unablässig suchten sie die Vertiefung. Sofort als die Diebin die Unebenheit in der Wand spürte, betätigte sie den unscheinbaren Schalter an der Wand. Nach einem – für die Elfe qualvolllangen – Augenblick öffnete sich die Geheimtür einen Spalt. Schnell schritt sie hindurch und die Tür schloss sich sofort hinter ihr.
Ein Freund im Elfenviertel war Erfinder und hatte diese Tür mit anderen großartigen technischen Errungenschaften entworfen und gebaut.
Die Tür führte in einem Tunnel, der mit einem alten Stollensystem der Stadt Zurl verbunden war, angeblich hatte der Adel früher hier Attentäter, Mätressen und Schmuggelware befördert. Inzwischen wusste aber niemand mehr, dass dieses System noch existierte. Es hatte Ginger viel Kraft und Mühe gekostet einen kleinen Teil der eingestürzten Stollen wieder frei zu legen.
Sie schritt runter und von dort war es bloß ein kurzer Katzensprung ins Zentrum der Unterstadt, wie Ginger es nannte. Sie nutzte den kleinen Gang durch die dreckigen Stollen, um sich den unerwünschten Pfeil aus der Schulter zu ziehen und eine übelriechende Heilsalbe auf die nun blutende Wunde zu schmieren, damit sie besser heilte. Den Pfeil warf sie achtlos gegen die steinerne Wand.
Im Zentrum –welches direkt unter dem Marktplatz war und durch Schlitze im Erdreich ausreichend von den nahenden Sonnenstrahlen erleuchtet wurde – warteten schon drei verschmitzt grinsende Elfenkinder mit einem Sack voller Essen auf sie. Zwei Jungen und ein Mädchen. Sie waren Gingers Schüler. Die drei, ein paar andere und Ginger selbst bildeten den elfischen Widerstand.
Nach Liams Tod, konnte die Elfe nicht zurück nach Hause. Man suchte sie immer noch, weil sie den Sohn des Earls getötet hatte. Also war sie in die Hauptstadt Zurl gegangen, wo sich auch das größte Elfenviertel befand. Dort unterzutauchen war ein leichtes gewesen.
Durch die Ereignisse dieser einen Nacht, die sie dazu getrieben hatte nie mehr nach Hause zurückzukehren, war ihr klar geworden, dass wenn sie selber starb oder gefangen genommen wurde, niemand ihren Kampf fortsetzen würde.
Also hatte sie sich dazu entschieden, es wie ihre Mutter zu machen. Sie hatte sich einige mutige Kinder genommen, sie von der Straße geholt und damit begonnen sie im kämpfen, klettern, stehlen und vielen anderen auszubilden.
Zwei Jahre genügten nicht, um sie zu vollwertigen Schurken auszubilden. Bislang stahlen sie nur Geldbörsen und halfen Ginger bei ihren Raubzügen. Eines Tages würden sie gemeinsam das Feuer der Rebellion entfachen. Der Widerstand war noch klein und zerbrechlich, doch Ginger wusste, dass es genug Elfen gab, die an die Freiheit ihres Volkes glaubten, dafür kämpften und wenn nötig für sie starben. Sie bildete da keine Ausnahme.
Die beiden Elfenjungen klatschten sich lachend ab. »Und wieder ein erfolgreicher Raubzug«, meinte Theo. Ein kleiner Rotzlöffel mit Zahnlücken. Er war ein aufgeblasener Angeber, der gerne vorpreschte und so manche Dummheit begann, doch wenn man ihn brauchte war er da.
»Du hättest es fast vermasselt. Wie kann man auch nur so blöd sein und den Köder für eine Wache spielen? Wenn er dich geschnappt hätte, säßest du jetzt im Kerker und wir müssten dich da rausholen.« Emil – ein schlaksiger Junge mit stahlblauen Augen – war eher besonnen und dachte manchmal zu viel nach, bevor er handelte. Er musste intuitiver werden.
»Ach was,«, meinte das Elfenmädchen, »dafür ist er doch viel zu schnell. Die Wachen würden ihn nie bekommen«, sagte Lola, eine kleine Elfe mit silbernen Haaren und waldgrünen Augen. Sie war die Geschickteste von allen. An Intelligenz mangelte es ihr auch nicht, aber sie verlor viel zu schnell die Nerven.
Ginger seufzte erleichtert. Keinem aus ihrer kleinen Trümmertruppe war etwas passiert. Etwas anderes hätte sie sich nie vergeben. Doch nach diesem kleinen emotionalen Ausbruch, setzte sie wieder die Miene einer strengen Lehrmeisterin auf. Sie durfte in der Ausbildung der drei nicht weich sein. Schwäche wurde nicht toleriert. »Genug mit den Albernheiten! Bringt den Sack in die Kammer! Und morgen werdet ihr das Essen unauffällig im Viertel verteilen, habt ihr verstanden? Aber zuerst geht ihr schlafen. Es war eine harte Nacht.«
Die drei kleinen Teufelsbraten gehorchten ihr aufs Wort. Zu Anfang hatten sie noch versucht aufzubegehren, doch mit Ginger war nicht gut Kirschen essen. So gingen die drei ohne Widerworte in ihre kleinen Betten, die in einer Kammer neben der Haupthalle waren.
Ginger ließ sich erschöpft auf ihrem Stuhl fallen. Sie nahm ihr schwarzes Tuch ab. Es tat gut den frischen Sauerstoff einzuatmen, auch wenn er in der Unterstadt immer etwas staubig und muffig war. Unter dem Tuch aber war es schlimmer. So warm und verbraucht.
Wie Ginger doch ihre Familie und ihr altes Leben vermisste, doch nun war der Widerstand ihre Familie.
Sie sah zur Decke hinauf. »Tue ich wirklich das Richtige, Mutter?« Sie sah hinab zum schwarzen Tuch, welches sie immer noch in der Hand hielt. »Ist es richtig, diese Kinder in die ganze Sache hineinzuziehen?« Erschöpft stöhnend lehnte sich Ginger nach hinten und blickte in die Ferne, während sie nostalgisch in alten Erinnerungen schwoll.

Ginger parierte den Schlag ihrer Mutter, doch sie unterschätzte seine Wucht und fiel unsanft nach hinten. Ihre Mutter setzte sofort mit einem Tritt gegen die Kehle nach und nagelte die kleine achtjährige Elfe auf den harten, staubigen Boden fest.
Die kleine Elfe war den Tränen nahe. Sie strampelte unentwegt, konnte sich aber nicht befreien. »Das ist unfair, Mama! Du bist viel größer und stärker als ich«, schniefte sie.
Der schwarze Dolch von Melene – Gingers Mutter – funkelte bedrohlich in der Sonne. Die Klinge war bereit jeden Moment auf sie niederzusausen.
Ginger hatte Angst. Ein unbändiger Zorn brannte in Melenes Augen. Die kleine Elfe wusste nicht, ob ihre Mutter sie nicht vielleicht doch für einen Feind hielt und sie sofort töten würde.
»Glaubst du die Menschen werden fair kämpfen?«, fragte sie mit vor Zorn zittriger Stimme. »Auch wenn du ein Kind bist, sie werden jeden Vorteil dir gegenüber nutzen. Also darfst du nicht …«
»Melene, Schatz. Kommst du mal. Wir müssen reden.« Haydln stand mit verschränkten Armen an der Türschwelle. Zorn lag in seiner Stimme, den man nur heraushören konnte, wenn man ihn gut kannte. Stumm mit zusammengepressten Lippen verschwand Melene mit ihren Mann im Haus und schloss lautknallend die Tür hinter sich.
Ginger setzte sich unter den Fenstersims. Ihr Haus war nicht besonders Schalldicht, also verstand sie von dort jedes Wort selbst bei geschlossenen Fenstern.
»Was machst du da?«, fragte Haydln erzürnt.
»Was glaubst du denn, was ich da mache?«, erwiderte Melene genauso erzürnt. »Ich bereite sie vor. Es wird Krieg geben. Wir haben es nicht verdient, hier in diesem Dreck zu leben und die Flachohren zu bewirten! Eines Tages werden wir uns erhebe und …«
»Ist das Grund genug unsere eigene Tochter so zu behandeln?!«, unterbrach Haydln sie schreiend, »Dein Training ist mehr als grausam. Siehst du es denn nicht?! Siehst du nicht all die Wunden an Gingers Körper und Seele?!
Was ist aus der kleinen Melene von damals geworden? Früher dachtest du noch, dass wir friedlich mit den Menschen zusammenleben könnten. Wir beide haben dafür gekämpft den Frieden zwischen den beiden Völkern zu wahren. Erinnerst du dich noch?«
»Das war bevor mir die Augen geöffnet wurden! Man kann mit diesen Barbaren nicht im Einklang leben! Es heißt, entweder sie oder wir.«
Ginger drückte ihre Klinge ganz fest an ihre Brust. Wäre sie scharf gewesen, hätte sie sich schwer verletzt, doch die Klinge war alt und verbraucht. Das kleine Mädchen sollte unter den schwierigsten Bedingungen kämpfen können.
Langsam begann ihre Unterlippe zu beben. Tränen kullerten ihr übers Gesicht. Ginger mochte es nicht, wenn sich ihre Eltern stritten.
Rana kam um die Ecke und sah ihre kleine Schwester weinend unter dem Fenstersims. Sie kniete sich neben Ginger und streichelte durch ihr schwarzes Haar. Sie überragte ihre jüngere Schwester ein kleines Stück. »Streiten sie schon wieder?«, fragte Rana besorgt.
Die kleine Elfe nickte schwach. Sie wollte nicht laut aufheulen, wenn sie den Mund aufmachte.
Die kleine Elfe spürte Ranas musternde Blicke. Sie blieben ständig an den blauen Flecken und blutenden Wunden hängen. »Du weißt, du musst das nicht tun. Ich wollte auch nicht und Mama hat es verstanden.«
Ginger stand wütend auf. Sie wollte das nicht hören. Sie wollte all das nicht hören. Den Streit ihrer Eltern. Das Mitleid ihrer großen Schwester. All das wollte sie nicht aufhören! Wütend riss sie die Haustür auf. Ihre Eltern hielten mit ihren Streit inne und sahen auf ihre weinende Tochter.
Ihr schwarzes Haar färbte sich rot wie Blut. Die Trauer war nun vollkommen dem Zorn gewichen. »Ich …«, sie schluckte. Ihre Stimme klang zittrig. »Ich will in Freiheit leben! Ich will dafür kämpfen und eines Tages will ich hier fort und einen richtigen Wald sehen!« Sie rannte auf ihre Mutter zu und versenkte ihr Gesicht in ihrer Kleidung. Der Stoff sog die Tränen auf. Die stumpfe Waffe hatte sie unbewusst während ihres Laufs fallen lassen. »Mir gefällt es hier nicht«, kam es erstickt aus Melenes Rock. »Ich will in einem richtigen Wald leben.« Langsam ging die rote Farbe der Haare zurück und wich dem normalen Schwarz.
Melene lächelte liebevoll und streichelte Ginger zart durchs Haar. »Wenn du es ganz Doll willst, wirst du es eines Tages schaffen, meine Kleine. Das weiß ich. Eines Tages wirst du es schaffen. Und jetzt lass uns weiter trainieren.«
Mutter und Tochter verließen Hand in Hand das Haus und ließen einen Vater zurück, der verständnislos den Kopf schüttelte.
Ginger hatte sich immer gefragt, ob er vielleicht gewusst hatte, dass es eines Tages ein böses Ende nehmen würde.


Die Elfe schreckte hoch. Sie war eingenickt. Ginger erinnerte sich nicht, ob sie geträumt hatte, aber sie erinnerte sich an den letzten Gedanken, mit dem sie eingeschlafen war. Wieder einmal starrte sie Gedankenversunken ihren schwarzen Dolch an. Den Dolch ihrer Mutter. Seine ewige und makellose Schönheit – die nicht einmal durch einen Kratzer oder eine Scharte entstellte wurde – erinnerte sie ständig daran was sie verloren hatte und für was sie kämpfte.
Wütend schlug sie ihre Waffe in den Tisch. Ihre schwarzen Haare begannen sich wieder zu färben. Warum hatte man ihr Volk nicht einfach in Ruhe lassen können? Aber nach einem kurzen Moment zog sich das Rot wieder zurück und Gingers Zorn verrauchte, ließ aber einen bitteren Beigeschmack zurück. »Warum hat man uns nicht einfach in Ruhe lassen können?«, fragte sie tonlos in den leeren Raum hinein. Sie traute sich nicht zu sagen, dass ihre Mutter dann vielleicht noch leben würde.

Die Elfe führte ein geheimes Doppelleben. Nachts war sie eine Widerstandskämpferin, doch wenn die Sonne schien, war sie nichts weiter als eine von vielen Elfen in ihrem Viertel. Ständig lief sie vermummt im Schatten rum, denn aufgrund ihres einprägsamen Aussehens konnte man sie viel zu leicht finden. Nachdem der Earl vom Tod seines Sprosses erfuhr, hatte er überall Steckbriefe mit ihrem Gesicht im Land aufgehängt. Seine Spione waren überall. Niemanden war zu trauen. Ein paar Mal hatten sie Ginger schon gefunden, weil sie zu nachlässig gewesen war.
Deshalb war Tarnung so wichtig für sie. Sie musste unscheinbar sein. Also hatte sie eine Zuflucht gesucht und war bei einer netten Familie untergekommen. Es war ein Ehepaar mit acht wilden Kindern. Obwohl sie nicht sehr wohlhabend waren, teilten sie das Wenige das sie besaßen gerne mit anderen.
Aber Ginger war nicht mit allen Entscheidungen ihrer Gastgeber einverstanden. Die Familie hatte auch noch eine Herumtreiberin in ihrem Hause Unterschlupf gewährt. Sie war eine herumreisende Menschenfrau. Ginger hatte sie gewarnt. Niemand wusste wer sie war oder woher sie kam. Es war durchaus möglich, dass diese Frau eine Spionin des Earls war. Aber die Diebin hatte sie von ihrer Entscheidung nicht abbringen können, egal wie sehr sie sich auch anstrengte. Also musste Ginger mit einem Menschen unterm Dach leben.
»Guten Morgen«, sagte Ginger erschöpft, während sie versuchte sich durch die Kinderschar zu drängeln, die wild spielend um ihre Beine lief. Die lange Nacht steckte ihr immer noch in den Knochen.
»Ebenso guten Morgen«, sagte die Menschenfrau Fay vergnügt. Sie saß bereits gut gelaunt am Tisch und versenkte genüsslich ihre Zähne in eine Scheibe Käsebrot. Wie überheblich sie auf ihrem Stuhl saß mit den langen offenen dunkelbraunen Haaren. Und die vorgetäuschte Fröhlichkeit hinter ihren Augen, die vor Arglist glitzerten. Allein ihr Anblick machte die Elfe schon ganz krank.
Also ignorierte sie sie einfach. Für die Elfe war diese Frau nicht da.
Aber Fay schien es egal zu sein, ignoriert zu werden. Sie plapperte fröhlich weiter. »Habt Ihr gut geschlafen, Ginger?«
Ohne die Frage zu beantworten nahm sich die erschöpfte Elfe einen halben Laib Brot und ein paar Scheiben Käse, bevor sie sagte: »Ich bin in meinen Zimmer.«
Gingers Gastgeberin lächelte gütig. Rassismus war unter den Elfen weit verbreitet, auch wenn sie ihn nicht teilte, verstand sie die Abneigung.
Fay hingegen schien den Hass gegen sie gar nicht zu bemerken. Sie war weiter glücklich und fröhlich, als würden sie beide die besten Freundinnen sein.
»Hey, Ginger wollen wir nachher etwas unternehmen?«, fragte der Älteste der acht Kinder. Aerth war ungefähr in ihrem Alter und für einen Elfen von großem Wuchs. Seine langen moosgrünen Haare hatte er zu mehreren Zöpfen zusammengeflochten. Er nutzte jede Gelegenheit Zeit mit der Schurkin zu verbringen. Meistens erteilte Ginger ihn eine Abfuhr. Sie führte ein gefährliches Leben und wollte keinen aus dieser großzügigen Familie mit hineinziehen. Es war schon schlimm genug Straßenkinder für diese Sache zu missbrauchen. Aber die Rebellin musste nehmen, was sie kriegen konnte. Ein Widerstand, aus nur einer mickrigen Elfe war mehr als armselig.
Als Ginger den jungen Elf wieder einmal abblitzen lassen wollte, fehlte ihr leider die nötige Kraft dazu. Die Nacht war wirklich anstrengend gewesen. »Vielleicht später«, vertröstete sie ihn.
»Wer von euch will den Tag mit einer Geschichte zum Frühstück beginnen?«, fragte Faye die anderen Kinder am Tisch.
Sofort sprangen alle Elfenkinder auf und schrien mit erhobenem Arm: »Ich! Ich!«
Fay lächelte darauf entzückt.
Knarzend stieg die Elfe die Treppen zu ihrem Zimmer hoch, während alle versuchten die Kinder wieder zu beruhigen, damit man Faye auch verstand wenn sie ihre Geschichte erzählte.
Die Elfe ließ die Holztür nach unten einem Spalt weit offen und setzte sich daneben. Kauend lauschte sie Fayes Geschichte. Niemals hätte Ginger es sich eingestanden, doch sie mochte ihre Geschichten, auch wenn Fay ein Mensch war. Hätte diese Spionin gewusst, dass dies ihre Schwachstelle war, hätte sie sie wahrscheinlich sofort ausgenutzt. Also lauschte die Schurkin den Geschichten klammheimlich. Niemand musste unbedingt wissen, dass sie eine Schwäche dafür hatte.
»Es war einmal ein alter Zauberer – ein Alchimist um genau zu sein – in seinem kleinen Häuschen im Wald. Er war ein Alchimist und Erfinder. Eines Tages erfand er ein Holz, wie es die wilden Elfen in Kriegszeiten tragen. Es war leicht wie eine Feder, aber hart wie Metall. Er verkaufte seine Erfindung an viele Leute, die daraus Häuser bauten, die den härtesten Gezeiten ohne Mühe trotzen konnten. Dadurch wurde der Alchimist sehr reich und berühmt. Doch all dies machte ihn nicht glücklich.
Er sehnte sich nach etwas unvergänglichem. Etwas das ewig währen würde. Als er eines Tages darüber an seiner Fensterbank sinnierte, sah er von seinem Fenster aus ein junges Mädchen auf einer Wiese das bunte Blumen pflückte. Als ihr Körbchen voll davon war, ging sie wieder nachhause. Neugierig ging der Alchimist nach draußen auf die Blumenwiese, um sie sich anzusehen.
Dort erblickte er eine feuerrote Blume. Die schönste von allen. Eine solche Schönheit hatte der alte Alchimist noch nie gesehen. Sie war kein Vergleich zu Gold, Frauen oder seinen eigenem Ruhm. Sie war beispiellos schön. Sie war seine Liebe.
Die Vorstellung allein, dass dieses Gewächs eines Tages verwelken würde, ließ sein Herz schwermütig werden. So machte der Alchimist sich daran ein Gebräu zu erfinden, damit die Blume nie verwelken würde und selbst in den unbarmherzigsten Wintern blühen würde.
Während der Alchemist Tag- und Nachtlang arbeitete, brach ein schlimmer Krieg aus. Banditen wollten die Macht im Königreich an sich reißen. Sie erschufen aus dem magischen Holz des Alchimisten Waffen und Rüstungen und brachten sehr viel Leid und Schmerz über die einfachen Menschen. Sie hassten den Alchimisten dafür, dass er dieses Holz geschaffen hatte.
Eines Tages war das Elixier für die Blume fertiggestellt. Der Alchimist wollte es gerade auf die Blume träufeln, als ein wütender Mob kam. Sie zerrten den Alchimisten von der Blume weg, brannten sein Häuschen nieder und warfen ihn gleich samt dem Elixier hinterher in die tobenden Flammen. Ein kleiner Tropfen aber war auf die wunderschöne Blume gefallen, genug dass sie für immer blühen würde. Und so blüht sie noch heute und sie wird selbst dann noch blühen, wenn wir so tot sind wie der Alchimist der diese Blume über alles geliebt hat. Das ist seine einzige Hinterlassenschaft. Manche behaupten, dass seine Seele nach dem Tod mit der der Blume – die seine Liebe kannte und erwiderte – verschmolzen sei und sie somit für immer in ewiger Liebe vereint sind.
Andere wiederrum meinen die Blume wollte verwelken, weil es ihre Bestimmung war und der Alchimist hat dies unmöglich gemacht. Worauf die Blume ein ewiges Gefängnis für ihn wurde. Ihre Seelen seien darauf im ewigen Hass vereint. Vielleicht werdet ihr eines Tages diese Blume finden und dann könnt ihr mir sagen, wie die Geschichte wirklich ausgeht.«
Die Kinder klatschten Beifall, während Ginger leise die Tür hinter sich schloss. Ihr hatte die Geschichte gefallen. Sie sah in dieser Geschichte viele Parallelen zu ihrem eigenen Leben. Sie war der Alchemist, der für seine kleine Blume, die bei ihr die anderen Elfen waren, alles gab und tat um sie selbst über ihren eigenen Tod hinaus durch die härtesten Zeiten zu bringen. Die entscheidende Frage aber war, würde man es zu würdigen wissen oder würde man ihre guten Taten missverstehen?
Sie verscheuchte diese Gedanken, denn sie musste sich konzentrieren. Den Laib Brot steckte sie sich in den Mund und zog mit beiden Händen eine brennende Kerze heran.
Vor ein paar Wochen war etwas Seltsames geschehen. Ginger war mal wieder auf einen ihrer Raubzüge gewesen. Doch die Wachen hatten sie schwer verletzt und waren ihr dicht auf den Fersen. Sie hätten die erschöpfte Elfe in einer dunklen Ecke fast erwischt. Mit einer Laterne hatte man das schützende Dunkel erhellt. Ginger hatte das Licht verwünscht, welches zu ihrer Entdeckung geführt hatte. Bevor die Wachen sie aber festnehmen konnten, war das Licht plötzlich erloschen und Ginger konnte noch gerade so entkommen. Kaum dass sie außer Reichweite war, hatte sich das Licht der Laterne wieder von selbst entzündet. Die Elfe hätte schwören können, dass sie das Licht allein durch ihre schiere Willenskraft gelöscht hatte. Früher waren angeblich alle Elfen magisch begabt gewesen. Vielleicht war Ginger eine der wenigen, die immer noch Magie wirken konnten.
Seit diesem Vorfall versuchte sie herauszufinden, wie es sich kontrollieren ließ. Allein die Vorstellung der Möglichkeiten die sich daraus ergaben, ließen ihr wohlige Schauer über den Rücken jagen. Verwirrung von Wachen, die man dann in aller Seelenruhe abschlachten konnte. Dunklen Ecken die kein Licht der Welt erhellen konnte, in denen man sich verstecken konnte. Für eine Schurkin war diese Fähigkeit überaus praktisch. Sie übte jeden Tag mit einer Kerze und versuchte sie mit ihren Gedanken zum Verlöschen zu bringen. Bisher hatte sie aber diesen Effekt nie wiederholen können.
Als sie nach einer halben Stunde wieder einmal völlig verzweifelt war, löschte sie die Kerze und schritt wieder nach unten, wo Fay ihr sofort dem Weg nach draußen versperrten. »Hat es Euch geschmeckt?«, fragte sie fröhlich grinsend, als wenn sie etwas witziges wüsste.
Wortlos und schneller als Fay reagieren konnte, schlüpfte die Elfe an ihrer Blockade vorbei zur Tür. Sie hatte noch einige Besorgungen zu machen und hatte keine Lust auf Spielchen.
»Den Käse habe ich selbst gemacht«, rief sie ihr nach einem Moment der Verwirrung hinterher.
Ginger hielt einen Augenblick inne. Sie hatte den Käse selbst gemacht? Was war, wenn er vergiftet war? Von einer Spionin war alles zu erwarten. Sie ging nach draußen. Jetzt war es sowieso zu spät. Sie hatte den Käse gegessen und konnte nur hoffen, dass er nicht vergiftet war.

»Ah, meine Lieblingskundin Ginger. Seid gegrüßt«, begrüßte sie Cerp, der Betreiber eines Lebensmittelgeschäftes im Elendsviertel von Zurl. Er war ein halbausgehungerter Elf mit Glatze dessen Augen weit in ihren Höhlen lagen.
Für einen Beobachter war dies ein scheinbar harmloses Geschäft, wie es sie überall im Viertel gab. Die Regale waren wie immer fast leer und das bisschen an Lebensmitteln war halb vergammelt und hinzu überteuert.
Cerp war einer der wenigen die den Widerstand unterstützten. Er hatte die Geheimtüren in der Stadt gebaut. Unter der Hand verkaufte er Waffen und andere illegale Waren, wie zum Beispiel Gingers gestohlene Lebensmittel.
Außerdem war er ein ausgezeichneter Alchimist. Auch wenn Ginger meistens nicht viel von dieser Magie – genannt Alchimie – hielt; Cerp zeigte ihr immer wieder, wozu sie imstande war und das Beste an ihr war, dass jeder sie anwenden konnte.
Die Elfe stützte sich auf dem Tresen ab und beugte sich verschwörerisch nach vorn, obwohl sie beide alleine im Laden waren. »Ist meine Bestellung fertig?«, fragte sie betont unauffällig.
Cerp lächelte und zeigte dabei einige verfaulte Zähne, die laut ihm nächste Woche der Schmied entfernen würde. »Ja, sie sind fertig. Aber ihre Feuerkraft ist sehr begrenzt. Ihr werdet nur kleine Löcher in Mauerwerke reißen können, statt ganze Gebäude niederzureißen.« Unauffällig gab er Ginger einen Beutel, den sie in einer fließenden Bewegung hinter sich verschwinden ließ. Sie hatte schon im Voraus für die Ware bezahlt.
»Schade. Aber ich schätze sie dürften trotzdem nützlich sein.«
»Ohne jeden Zweifel«, versicherte der Alchimist.
»Gut«, war alles was die Elfin sagte.
Sie war gerade dabei die Ladentür zu öffnen, als Cerps Stimme hinter ihr ertönte. »Da fällt mir gerade ein, dass ich da noch etwas hätte, was Euch vielleicht interessieren könnte.«
»Ich habe gerade nichts bei mir, um es zu bezahlen«, sagte Ginger.
»Es geht aufs Haus, wenn Ihr es für mich testet.«
Neugierig ging die Elfe zurück zum Händler.
Cerp drehte sich um und kramte in einer alten Truhe hinter dem Tresen, als er im Plauderton sagte: »Ich arbeite schon seit vielen Jahren daran. Dieses kleine Ding könnte mich berühmt machen.«
Neugierig stellte sich Ginger auf die Zehenspitzen und neigte sich zur Seite, um besser sehen zu können. »Was ist es?«, fragte sie.
»Hach, endlich habe ich dich gefunden«, sagte Cerp triumphierend. Er hielt einen kleinen Holzstock in die Höhe. Er war gerade mal etwas Größer als Gingers Hand und in seiner Mitte befand sich ein schmaler grauer Zylinder. »Ta-Da!«
Ginger verzog fragend das Gesicht. Sie beugte sich näher und betrachtete den seltsamen Stock von allen Seiten.
»Ich nenne es Bleistift«, sagte Cerp mit vor stolz geschwellter Brust. »Damit braucht Ihr keine Tinte oder Federn mehr für Eure Briefe. Stattdessen benutzt Ihr einfach diesen Stift hier.«
Ginger war noch nicht gänzlich überzeugt davon. »Wie funktioniert es?«
»Ganz einfach. Ihr führt die Spitze über ein Blatt Papier, wie eine Feder. Ihr habt doch noch Papier, oder? Ach wisst Ihr was, ich gebe Euch noch ein Blatt umsonst dazu.«
Ginger wusste nicht, was sie damit anfangen sollte, aber sie steckte den Bleistift und das zusammengefaltete Blatt Papier einfach weg und versuchte dabei freundlich zu lächeln, auch wenn man es nur an den Falten um ihre Augen sehen konnte.
Sie hatte sowieso vorgehabt an diesen Abend wieder einmal einen Brief zu schreiben.

Draußen holte Ginger den Bleistift hervor und betrachtete ihn noch einmal eingehend. Sie spielte mit dem Gedanken ihn einfach wegzuwerfen, entschied sich dann aber aus Respekt Cerp gegenüber dagegen.
Als sie Aufblickte, sah sie Aerth auf sie zu rennen. Neben ihn waren Theo und Lola. Etwas war passiert. Gingers Herz machte einen Aussetzer und ein mulmiges Gefühl in der Magengegend machte sich breit. Wo war Emil?
»Sie haben Emil geschnappt«, war alles was Aerth sagte.
»Es war meine Schuld«, schluchzte Theo.
»Emil hat sich geopfert, um uns zu retten«, fuhr Lola hechelnd fort.
»Genau«, bestätigte Theo. »Die Wachen wollten mich mitnehmen, nachdem ich einen von ihnen einen Stein an den Kopf geworfen habe.«
»Deshalb habe ich versucht Theo aus den Klauen der Wachen zu befreien. Emil hat daraufhin einen von ihnen hinterrücks getötet. Wir konnten entkommen, aber Emil …« Lola versagte die Stimme.
»Du sagtest, wir sollten in solchen Fällen zu dir kommen, aber du warst nicht zuhause«, erzählte Theo weiter.
»Die beiden haben mir alles erzählt, darauf habe ich sie zu Euch geführt«, endete Aerth.
Gingers Hand ballte sich zur Faust. Knackend zerbrach der Bleistift in zwei Hälften. Zum Glück hatte sie ihr Haar unter einem Kopftuch verborgen. Es war bestimmt inzwischen Rot wie das Blut, welches bald fließen würde.
»Wir holen ihn da raus.« Eine brennende Wut ging von ihr aus, als sie zu ihrem Versteck schritt. Sie brauchten Ausrüstung, einen Plan und ein wenig mehr.

Ginger, Lola und Aerth warteten in einiger Entfernung vor der Tür, die hinab in dem Kerker führte. Theo war um die Ecke gegangen und würde den Türöffner spielen. Er klopfte an der hölzernen Tür mit einer kleinen Bombe aus Cerps Laden in der linken Hand. Die Lunte war schon fast heruntergebrannt, als die Schlösser hinter der Tür geöffnet wurden. Ein Wachmann öffnete schlecht gelaunt die Tür. Wortlos warf Theo der verdutzten Wache die Bombe zu und rannte so schnell ihn seine Beine tragen konnten zu den anderen zurück.
Als er dort angekommen war, klopfte Ginger ihm auf die Schulter. Es erforderte schon eine ganze Portion Mut eine Bombe mit brennender Lunte in der Hand zu halten.
Ein Knall ertönte. Die Bombe war explodiert. Rauchend und windend lag der Wachmann auf dem Boden. Ihm waren das halbe Gesicht, der rechte Arm und die Schulter verbrannt.
Alle vier rannten los. Im vorbeigehen schnappte sich Ginger den Schlüsselbund des Wachmannes. Jetzt musste es schnell gehen. Bisher hatten sie versucht unauffällig vorzugehen, doch die Explosion war nicht zu überhören gewesen und die Wachen waren nicht taub. Die vier rannten die Zellen entlang und suchten verzweifelt nach Emil.
»Hier ist er!«, schrie Lola, die am weitesten vorgelaufen war. Sofort kamen alle an geeilt. Im Laufen warf Ginger die Schlüssel zu Lola. Leider glitt dem Elfenmädchen der Bund durch die Finger und sie musste ihn erst aufheben.
Unterdessen drehte Ginger sich gehetzt um. Sie konnte die Wachen schon hören. Wieder einmal würde es eng werden.
Während Lola die verschiedenen Schlüssel probierte, zog die Anführerin des elfischen Widerstandes schon einmal ihre Waffe und drehte sich in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Sollte es zum Kampf kommen, würde sie den anderen so viel Zeit wie möglich verschaffen.
Theo war sofort zu seinem besten Freund geeilt. »Emil! Ich bin so froh dich zu sehen. Wir sind hier um dich zu retten.«
»Ihr hättet nicht herkommen dürfen!«, zischte Emil durch die Gitterstäbe.
»Niemand wird zurückgelassen.«, knurrte Ginger. »Wie lange dauert das noch, Lola? Die Wachen werden nicht warten, bis du den richtigen Schlüssel gefunden hast.«
»Es sind einfach zu viele«, sagte Lola verzweifelt. Ihre Augen begannen feucht zu werden, wie immer wenn sie die Nerven verlor. Die Zeit wurde knapp.
»Gib mir eine Bombe«, mischte sich Aerth ein.
»Was?!«, fragte Ginger verwirrt.
»Gib mir eine!«, sagte er diesmal mit mehr Nachdruck.
Ginger gab ihm schnell eine. Aerth zündete sie mithilfe einer der vielen Fackeln an den Wänden an und stellte sie vor die Zellentür. »Alle zurücktreten.«
Die Bombe sprengte ein mittelgroßes Loch in die Stäbe.
»Da sind sie!«, schrie einer aus dem Wachtrupp hinter ihnen. Die Feinde kamen auch noch von vorne.
Die Befreier saßen in der Falle. Eine Flucht wurde immer unwahrscheinlicher.
»Aerth, ist da ein Fenster? Könnt Ihr uns nach draußen sprengen?«
»Ja.«
Sofort warf Ginger ihm noch eine Bombe zu. Ein paar Sekunden später ertönte schon die nächste Explosion. »Ihr und die Kinder zuerst«, sagte sie grimmig.
»Und was ist mit Euch?«
»Ich werde euch die nötige Zeit erkaufen. Los jetzt!«
Lola und Theo krochen zuerst in die Zelle, dann folgte Aerth. Die ersten Wachen hatten sie erreicht. Ginger schwang den Dolch im hohen Bogen und hielt den anderen den Rücken frei. Als alle anderen in der Zelle waren, wirbelte Ginger ihren Umhang umher, worauf die Wachen reflexartig einen Schritt nach hinten machten und die Arme vor die Augen hoben. Den Moment der Ablenkung nutzte Ginger, um durch das kleine Loch in die Zelle zu gelangen, wo sie eine bessere Angriffsposition hatte.
In der Zelle half Aerth den Kindern nach draußen. Das Loch war zu hoch für die kleinen Rabauken. Selbst Aerth musste nach oben gezogen werden. Mit vereinten Kräften packten die drei Elfenkinder ihn an den Armen und zogen ihn unter vielem »Hau Ruck«, nach oben, während Ginger die ersten Wachen tötete, die versuchten durch das Loch zu kommen.
Als Aerth auch draußen war, bot er Ginger die Hand dar. »Niemand wird zurückgelassen.«
»Einen Moment noch«, sagte Ginger, griff unter ihrer Kleidung und holte ihre letzte Bombe hervor. Sie warf sie durch die Gitterstäbe hindurch gegen eine der Fackeln. Die Wachen ergriffen sofort die Flucht, doch sie konnten nicht schnell genug verschwinden.
Ginger hatte sich unterdessen umgedreht und hatte die ihr dargebotene Hand ergriffen. Sie drückte einen Fuß gegen die Wand und wollte sich so hochziehen, aber die Druckwelle der Explosion schleuderte sie durch das Loch ins Freie.
Alles in Gingers Kopf drehte sich. In den Ohren sauste es und ihr war übel. Doch sie musste aufstehen. Wankend erhob sie sich. Außer ihr und Aerth, die ein paar blaue Flecke davongetragen hatten, waren alle unverletzt. Der Elf lag benommen auf der Erde und stöhnte vor Schmerz. Ginger packte ihn am spitzen Ohr und zog ihn mit brutaler Gewalt nach oben.
»Wir müssen weg hier, bevor sie sich neu formieren. Los! Los! Los!«

Erschöpft saß Ginger an ihrem kleinen Tischchen. Tiefversunken über ihrem Brief. Der abgebrochene Bleistift tanzte nur so übers Papier. Cerps Erfindung war doch nicht so nutzlos wie anfangs gedacht. Der Bleistift schmierte auch nicht so auf dem Brief wie die Tinte.
Regelmäßig schickte Ginger Post Nachhause zu ihrem Vater und Rana, obwohl die Elfe weder lesen noch schreiben konnte. Sie kannte auch niemanden der es konnte. Nur den adeligen Menschen war dieses Wissen erlaubt. So war Ginger gezwungen sich in einer Bildersprache auszudrücken.
Ginger malte sich selbst weinend und ihre Familie die ganz weit weg war. Sie vermisste sie schrecklich. Als nächstes malte sie ihre drei Schüler beim Training. Sie waren wirklich Talentiert, auch wenn sie es ihnen niemals sagen würde, sonst stiege ihnen das zu Kopf. Sogar Fay malte sie dazu und wie sie der Elfe auf die Nerven ging.
Jedes Mal, wenn sie einen Brief verschickte hoffte sie, dass man ihre Zeichnungen richtig interpretieren würde. Morgen würde dieser Brief Nachhause geschickt werden.
»Hey.« Aerth stand auf einmal neben ihr. Ginger konnte nur mit Mühe ein Zusammenzucken verhindern. »Das heute war toll. Kann ich mich euch anschließen? Kann ich ein Mitglied des Widerstandes werden?«
»Ihr wisst schon zu viel«, sagte Ginger trocken ohne aufzublicken. »Alles andere als ein Nein, wäre Euer Todesurteil gewesen.«
Aerth erbleichte und trat einen halben Schritt zurück.
»Das war ein Scherz. Morgen werde ich Euch in alles einweisen. Schlaft jetzt. Morgen wird ein harter Tag.«
»Wollt Ihr nicht auch ins Bett? Ihr müsst vollkommen erschöpft sein.«
»Ich will nur noch meinen Brief fertig machen und dann gehe ich schlafen.«
»Na dann gute Nacht.«
»Gute Nacht«, erwiderte Ginger und malte weiter an ihren Brief.
Kaum das der Elf gegangen war, ließ in plötzlicher Schmerz in der Magengegend die Elfe stöhnend zusammenzucken. Sie hatte es vor Aerth nicht zeigen wollen, aber sie hatte starke Bauchschmerzen. Der Käse vom Frühstück war wohl doch vergiftet gewesen. Eines Tages würde Fay dafür bezahlen, vorausgesetzt sie überlebte diese Nacht. Das schwor sie sich.


© EINsamer wANDERER


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